„Hoerst du, was der Wind dir sagen will?“ fragte Mr.Flores schliesslich nach langem Schweigen. Er bewegte seinen Kopf hin und her, damit ich in den Genuss seiner ueberaus erstaunlichen Ohrwackelkuenste kam.
„Zamurito!“ rief ich, jetzt beinahe fluesternd, waehrend mir Erinnerungen durch den Kopf schossen. Zamurito, Kleiner Bussard, war der Spitzname eines Freundes aus meiner Kindheit in Venzuela gewesen. Mr.Flores hatte die gleichen delikaten vogelhaften Gesichtszuege, das tiefschwarze Haar und die senffarbenen Augen. Und was am erstaunlichsten war, wie Zamurito war auch er in der Lage, seine Ohren sowohl unabhaengig voneinander als auch gleichzeitig zu bewegen.
Ich erzaehlte Mr.Flores von meinem Freund, den ich im Kindergarten kennengelernt hatte. In der zweiten Klasse hatten wir uns ein Pult geteilt. Waehrend der langen Mittagspause schlichen wir manchmal aus der Schule und kletterten auf einen Berg in der Naehe, wo wir im Schatten eines Mango-Baumes unser Pausenbrot assen. Dieser Baum war fuer uns der groesste Baum der Welt; seine tiefen Aeste beruehrten den Boden, seine hoechsten streiften die Wolken. Zur Erntezeit pflegten wir uns mit Mangos regelrecht vollzustopfen.
Der kleine Berggipfel war unser Lieblingsplatz. Bis zu jenem Tag, als wir den Leichnam des Hausmeisters unserer Schule an einem der hohen Aeste haengend vorfanden. Wir wagten nicht, uns zu bewegen oder zu weinen; keiner wollte vor dem anderen sein Gesicht verlieren. An jenem Tag kletterten wir nicht in die Zweige, sondern versuchten, unser Essen direkt unter dem toten Mann auf dem Boden einzunehmen. Dabei fragten wir uns, wer wohl zuerst zusammenbrechen wuerde. Ich hatte schliesslich nachgegeben.
„Hast du jemals ans Sterben gedacht?“ hatte Zamurito fluesternd gefragt.
Daraufhin warf ich einen Blick auf den ueber mir haengenden Toten, und im selben Agenblick war der Wind mit ungewoehnlicher Heftigkeit in die Blaetter gefahren. In ihrem Rauschen hatte ich klar und deutlich die Stimme des toten Mannes gehoert, der mir zufluesterte, dass der Tod wohltue. Mir wurde so unheimlich, dass ich aufsprang und schreiend davonrannte, ohne zu ueberlegen, was Zamurito von mir denken mochte.
„Der Wind hat die Zweige und Blaetter mit dir sprechen lassen“, sagte Mr.Flores, nachdem ich ihm meine Geschichte erzaehlt hatte. Sein Stimme klang sanft und tief. Seine goldfarbenen Augen glaenzten beinahe fieberhaft, waehrend er fortfuhr zu erklaeren, dass die Erinnerungen, Empfindungen und Gefuehle des alten Hausmeisters im Augenblick seines Todes befreit und von dem Mangobaum aufgenommen worden seien.
„Der Wind hat die Zweige und Blaetter mit dir sprechen lassen“, wiederholte Mr.Flores. „Denn der Wind ist von Geburt an dein Verbuendeter.“ Vertraeumt schaute er durch die Blaetter, weit ueber das vor ihm in der Sonne liegende Feld hinaus. „Als Frau bist du in der Lage, dem Wind zu befehlen“, fuhr er fort. „Die meisten Frauen wissen es nicht, doch sie koennen sich jederzeit mit dem Wind unterhalten.“
Eines Tages, in einem warmen Sommer, machten wir Urlaub mit unserer Familie in den Bergen. Mit der Seilbahn fuhren wir hinauf zur Talsperre, dem Stausee hinter der Staumauer, so uebermaechtig, dass das Kindesauge sie nicht zu erfassen vermochte. Die Ausfluegler, umherlaufende, jauchzende Kinder, Eltern und Pensionistenpaare gingen umher, schossen Fotos, lehnten an der Bruestung, schauten ueber den See.
Jahre spaeter kehren wir im Herbst zurueck, alleine. Es ist neblig, vielleicht fallen Graupeln, ohne dass es uns stoert. Oktober, vielleicht sogar November. Wir sind nicht fuer die Berge angezogen. Ein Regencape vielleicht. Wir stehen alleine oben, schauen wieder ueber die Bruestung, hinueber zu den jetzt schon viel niedrigeren Berggipfeln. Wir sehen die Schneezungen, an denen die bewegten Wellen lecken; sehen den schwarzen Russ, das Braun im Weiss des Gletschers. Wir sehen, wie der Stausee unablaessig gefuellt wird; wie Steine in ihn kollern; das Geschiebe der Gletscherzungen und Schneefelder. Wir gehen weiter, ein einsamer Wachbeamter kommt uns entgegen. Wir weichen seinem Blick aus. Mag er denken, was er will. Schlussendlich gruessen wir ihn doch noch im letzten Moment mit einem Murmeln. Wie weit es noch ist bis zur Einfassung der Mauerschulter! Wollen wir wirklich bis dort hinueber? Wir bleiben wieder stehen am Gelaender und lassen die Zeit verstreichen. Tief unter uns, in 100 Meter Tiefe vielleicht, zittert die Mauer von der Einlassoeffnung, in die das schwarze Wasser hineindrueckt, um von dort im Druckrohr ins Tal zu den Turbinen hinunterzuschiessen. Wir wollen es uns nicht vorstellen. Die Oberflaeche des Sees liegt zum Greifen nahe. Wasserwellen zum Betrachten. Wir spueren den kalten Wind im Gesicht. Mein Blick versinkt in den Felsen. Ich suche eine Bank, um mich zu setzen. Es gibt sie nicht. So bleibe ich noch eine Weile, die ungeschuetzten Haende am eisigen Stahlgelaender. Ich drehe mich um, gehe auf die andere Seite. Die dahintreibenden Schwaden verwehren den Blick ins Tal. Nur da und dort ein Loch, darunter oede Dunkelheit. Da unten liegt die Geschaeftigkeit.
Will ich dorthin zurueck? Die Nacht im Gaestehaus verbringe ich unruhig. Etwas wuergt mich in der Kehle. So viele Tote. Und die Lehrmeister der Kindheit stehen auf. Zu viele, um sie zu zaehlen. Oder doch nicht? Am Morgen nehme ich einen Kaffee, bezahle und breche gleich auf. Bei der Dorfkirche mache ich Halt, ungeplant. Das Ewige Licht, das einzige, was sich im halbdunklen Schiff bewegt, zieht mich an. Die Bilder der Passion an den Waenden sind kaum zu erkennen. Draussen nieselt es, und keiner weiss, wann wieder die Sonne durchkommt. Im Schritt rollen wir schlussendlich aus dem Dorf hinaus, an diesem Wochentag, legen eine Cassette ein. „Ai inchas, kankaniku, Ayahuasca Chakrunita. Ai chinchas brujui tunaka, Ayahuasca, Chakrunita.“ (Ach, ihr Lieben, wie brauche ich euch, Ayahuaca und kleine Chakruna. Ach, ihr Gefaehrten des muehvollen Wissens, Ayahuasca, kleine Chakruna).