Amazonisches Tagebuch 2021
Reichlich Regen seit 1.Dezember. Ein Herr aus dem Erzgebirge versöhnt sich mit seiner frauenbeladenen Vergangenheit und reist nach einem Monat bestärkt ab. Danach bricht eine verhehrende Krankheitswelle mit Dengue über das Dorf herein, die auch meine gesamte Familie bis zum heutigen Tag erfaßt und die Krankenschwestern des örtlichen Krankenhauses bei uns ein- und ausgehen läßt. Anderweitig sterben Dorfbewohner am brasilianischen Virus, so wie vergangene Nacht Vicente Nashnate Irarica (61), mein Nachbar und Schwager von Judith, ein immer aufmerksamer Lehrer, der seinen kleinen Rasen mit der Spitzhacke zu kultivieren pflegte, in den wiederum stark belegten Krankenhäusern in Iquitos und in Cavallococha, an der Grenze zu Brasilien, über die verzweifelte Haitianer neuerdings gewaltsam durchzubrechen versuchen. Migrationsströme allerorten. Don Pedro López Tamabi seinerseits, der ruhige, stille, immer aufmerksam freundlich verkaufende, zuverlässige Mann der Lehrerin Luz Maria, gediegen wohnhaft direkt gegenüber der Kirche, starb vor einer knappen Woche an perforierter Aorta, völlig unerwartet. Die Brujos nennen es Pulsario. Etwas muß ihm große Sorgen bereitet haben. Alle sind konsterniert. Das ahnte keiner. Ein Mann um die 55. Und mein Freund Don Juan Roger van Bancels, auch er nur 55, maximal, Chef der örtlichen Geldwechslermafia in der Morona, cuadra dos, ein Freund aus Brasilien seit 20 Jahren, immer korrekt, stirbt innerhalb von 8 Tagen am Virus, ohne Vorschäden, wahrscheinlich übertragen über die Geldscheine. Er hinterläßt eine gebrochene, in den ersten Tagen nach dem Verlust sprechunfähige Witwe und 3 Kinder, zum Glück alle bereits erwachsen. Ich kann es nicht fassen.
Die Kakaoplantage (2 x 9 Kilometer) darf ihren Betrieb, worin auch immer dieser besteht, wieder aufnehmen. Als Zeichen der politischen Versöhnung spendet die Direktion - aus welchen Nationalitäten auch immer diese besteht - 400.000,- Soles fuer Sauerstoffflaschen und den Vorantrieb einer diesbezüglichen Fabrik. Die Plantage produziert untauglichen Kakao. Wovon die geschätzten 100 Arbeiter bezahlt werden, weiß niemand. Seit einem guten Jahr ankert im Hafen ein Ponton der Marine, doch niemand hört etwas von nächtlichen Flusskontrollen. Polizei und Militär befinden sich auf Tauchstation. Die Hotspots sind derzeit an den Grenzen lokalisiert. Präsidentenwahlen stehen dieses Jahr an. Der "Kakao" mit seinen schweren LKW's jedenfalls investiert nichts in die Erhaltung unserer Dschungelstraße. So bilden sich mit dem Regen gewaltige Schlaglöcher, die keiner repariert, außer Don Pedro Guerra, dem der Kragen platzt und er somit eines Tages mit seinem Kleinlastwagen ausrückt, um einen Kanal zu legen. Doch das Übel droht von anderer Seite, an 3 Stellen, wo unteriridische Wasseradern das Bankett queren. Das gibt Einsenkungen wie auf dem Mond, und jeder Taxifahrer wird sich wieder durch die "Problemzonen" durchkämpfen müssen wie im minenverseuchten Kriegsgebiet. Auch dies nichts Neues.
Die Regenzeit fällt heuer wirklich ausgiebig aus. Damit regeneriert sich die Tierwelt in Riesenschritten, nicht nur die Vogel- und Wildschweinwelt. Wo Wildschweine, dort Jaguare, bei uns eine Dreierfamilie. Der Vater, ein ausgewachsenes 100 kg-Exemplar, kommandiert die frechen Überfälle gegen die Bauern und unsereins. Hunde und Hühner stehen ja auch auf dem Speiseplan. Vorarbeiter Luis verwandelt sich am Schlag in einen Grosswildjäger, auch wenn ihm nur eine armselige Schrotflinte zu Handen steht. Doch mein Sohn, 16 Lenze, der beim Ansitzen teilnimmt, glüht vor Leidenschaft. Eine Begegnung auf 20 Meter, samt Knurren. Schlafen mit der Flinte in Griffweite. Der Herr des Waldes lugt neugierig aus seinem Versteck hervor, während die Wassermänner und - Nixen andernorts, nämlich im Fluß, sich launisch zeigen. Vorgestern ging den Fischern ein Stachelrochen ins Netz, von der Westseite des Flusses, der Luuvseite, die vor Schlamm strotzt. Ein Kapitalexemplar von mehr als einem Meter Durchmesser, wie es seit mehr als 20 Jahren nicht gesichtet wurde. Der Stachelhieb eines solchen Schlammgrummlers haut einen Stier um. Gut, auf die Idee, im Fluß mit Schwimmweste zu schwimmen, kommen nur weltfremde Gringos und gewisse verschrobene Altmeister. Die Einheimischen schütteln sowieso den Kopf.
Auf Medizinseite derweilen nur Harmonie. Dank den Mächten. La Madre redet sanft zu: "Bißchen ruhiger, mein Sohn, dann hörst du deine Mutter aus dem Totenreich." So redet sie ruhig. "Fürchte dich nicht! Alles nimmt seinen gottgewollten Lauf." Zuvor schon, bei Don Lucho, eine Szene in tiefer Trance: Eine junge, energische Frau im indischen Gewand tritt mir am Flughafen in Iquitos mit ausladenden Schritten entgegen und reckt mir die Hand schon von weitem entgegen. "Sie sind meine Rettung, Herr H., doch nur für kurze Zeit!", exklamiert sie. "Ich brauche Sie, um stellvertretend für alles, was mir im Leben von Männerseite zugestoßen ist, das Verdikt auszusprechen. Dann bin ich wieder weg. Sie werden es ja aushalten, oder?" Lebensecht. Unwillkürlich schmunzle ich und raffe mich aus dem Fauteuil hoch, während Don Luis heute abend, so scheint's, mit seinem Gesang zu Hochform auflaufen möchte. Auch er offenbar ein Stück weiter versöhnt mit seinem Leben. Meister Huayra Caspi trägt das Seine zu diesem Monat der Medizin bei. "Gutes Denken heißt vor allem, richtig Beten", raunzt er mir zu. "Verzeih allen, auch dir selbst!" Das sind die eigentlichen Worte, die bleibenden, nach all diesen schweißgebadeten Nächten mit Fieberphantasien und Albträumen. Und plötzlich, schon wieder mit dem nächsten Guß, wird es ruhig. Angst verhallt. Ein kurzes Donnerrollen wie zur theatralischen Probe. Und ich kann mich den Toten widmen. Das ist nämlich auch Arbeit. Dieser Jahrzehntesatz stammt von Doña María Valera Teco, der Shipiba, die ich heuer mit einer Gruppe besuchen werde. Alles von Ayahuasca arrangiert.
Santiago Guerra Lopez, Curandero (7.10.1928 - 10.3.2021)

Glaube und Sicherheit
Heute, 10 Tage nach Santiagos Ableben, begeht Eugenia ihren 81.Geburtstag, an dem sich Enkel und Urenkelkinder in unserem Haus versammeln. Knapp 10 Frauen kochen und sehen nach dem rechten. Als der Abend anbricht, ist bereits alles wieder zusammengekehrt, geordntet und gerichtet. Die Abfalleimer und Waschwannen quellen über. Nach den Begräbnisfeierlichkeiten vor 10 Tagen ließen heute 10 weitere Hähne für die Feierlichkeit ihr Leben. Die Jungmütter wissen alle bereits, wie man einem Hahn die Gurgel durchschneidet und ihn hängend ausbluten läßt, während noch die Flügel schlagen. Die Urenkelkinder schauen fasziniert zu. Zur Feier des Tages einige Lebenssprüche dieser Dame, die seit knapp 19 Jahren Tag für Tag meine Schwiegermutter abgibt.
"Du hast viel erlebt mit Santiago." "Ja, viel, doch davon zu erzählen lohnt jetzt nicht mehr." "Hat er dich geschlagen?" "Ja, und wie." "Hat er dich gehaßt?" "Ja, zeitweise. Santiago hatte das Böse in sich." "Wieso das?" "Das weiß ich nicht. Schlimm genug, daß er es in sich trug."
"Glaubst du, dein dritter Sohn hat tatsächlich 2 Menschen umgebracht, als er Senderista war?" "Das werde ich dir als seine Mutter nicht beantworten. Ich werde dir auch nicht beantworten, warum mich Tare umbringen wollte."
"Was ist Jähzorn, Mami Eugenia?" "Gottesferne, Sohn. Und Auflehnung gegen den Allmächtigen."
"Was bedeutet Gewalt gegen Tiere, Mami Eugenia?" "Einen armseligen Charakter. Das bedeutet es. Nicht mehr und nicht weniger."
"Die Kater nehmen überhand. Sie fressen die Canaris und gehen gegen die Schüsseln am Ofen. Außerdem hat einer den letzten Wurf gefressen. Sohn, kauf bitte bei Don Wilson 3 Giftpäckchen."
"Mami Eñia, jetzt haben die Nachbarn uns den Rasse-Labrador bereits in der ersten Nacht vergiftet. Soll ich Skandal machen?" "Nein. Trag den edlen Hund mit Tare hinunter zum Fluß. Er bekommt ein Flußbegräbnis. Das ist edel."
"Mami Eñia, was denkst du über den Shapishico?" "Ein Dämon. Fuer dich mag er gut sein, und du läßt dir seine Streiche gefallen. Bei mir hat er hingegen nichts zu melden. Ich weiß aber auch, daß er genau weiß, wie ich über ihn denke und rede. Das ist so bei uns Frauen, sobald wir uns mit der Medizin abgeben. Meine Medizin gefällt dir doch und hat dir schon viel geholfen, oder?" "Das kann man wohl sagen. Dein Mapacho wirft mich regelmäßig zu Boden." "Steht dir gut an. Auch stolze Männer müssen wissen, wie sie vom hohen Roß herunterfallen, ohne sich wie der Gringo Scott das Genick zu brechen."
"Vermißt du einen heißen Mann, Eugenia?" "Nein, ich vermisse zwei. Zwei snd immer besser als einer."
"Was weißt du sicher, Mami Eñia?" "Gute Frage. Frag den Pastor. Er wird dir dasselbe sagen wie ich. Das Ende der Welt. Das weiß ich sicher, so wie ich jetzt rede und nicht tot bin. Christus wird wiederkommen, und dann ist Schluß mit allem."