Bei Sinnen sein?
Der Tag schreitet voran. Zeitweise fährt er, zeitweise rast er. Und bei Nacht? Mäandert er in fremden Gefilden. Bin ich mir selber fremd? Jawohl! Doch sei's drum. Für einen Buddhisten (sie melden sich verstärkt zu Wort, ich verstehe sie von Abend zu Abend besser, wenn ich mich in meine Hütte in Otorongo zurückziehe und den Herrn aus Amdo studiere; hier ist das Wort "studieren" ohne Abschweife am besten angebracht) ist das Sich selbst fremd Sein keinerlei Stein des Anstoßes. Sie nennen es die Ich-Anhaftung, die Wurzel allen Übels. Das ist ja das Spannende an diesem Abenteuer: durch ein geheimnisvolles, bisweilen erschreckendes Leben zu kreuzen, eines Tages ohne Furcht, hartnäckig errungen. Keine Angst mehr um das eigene Leben, keine Angst mehr vor der Zerstörung des Ichs. Und auch nicht in seinen stolzen 90ern, lebensverdrossen und lebensmüde, wie es Tolstoi von sich bekannte. (Respektvolles Lob und Ehrerbietung ob seiner Freimütigkeit) Wenn ich heute freimütig bin, stürzen sich sofort die Barracudas von allen Seiten auf mich, so wie anno dazumal, als einmal ein Herr bei Agustin in Ayahuasca in eine Krise schlitterte und im Freien sich hinlegen wollte. Sofort war er von 4 (vier!) Harpyen umringt, die ihn mit Ratschlägen malträtierten. Zu allem und jedem bilden die Leute sich ein, Kommentare und Ratschläge abgeben zu müssen. Sie liegen auf der Lauer, wenn einer einmal kollabiert. Das ist ein Gebot der Nächstenliebe, sagen sie, oder auch nicht. Bei den Indios darfst du in Ruhe krepieren, doch das will keiner mitansehen. "Tu doch was!", schreien sie dich an, oder "Tu das nicht! Spuck nicht so laut! Speib nicht so laut! Mach nicht soviel Skandal!" Und dann wundern sie sich, daß die Leute mehr und mehr ins Asyl sich zurückziehen. Doch Asyl ist nicht automatisch Rettung. Asyl ist erst dann Asyl, wenn es gesichert ist, eine souveräne, untangierbare Zone. Das ist Otorongo. Der Ort darf mit jeder Ankunft eines schizophrenen Patienten (um dieses Wort einmal ungestraft zu strapazieren) seine souveräne Lage und erst recht seine verläßliche Geistigkeit beweisen, inmitten des allgemeinen Chaos und nächtelanger Stürme innen wie außen. Der zerrissene Kranke, wie er leidet, verzagt am eigenen Ich, doch mehr noch an der Sozietät, die eine Befragung des eigenen Ichs aus Ratlosigkeit mit allen Mitteln unterbindet. Sie untersagt Stille und Bedürfnislosigkeit. Sie fördert Surrogate mit aller Kraft. Sinnlose Surrogate sonder Zahl. In keiner Instanz werden die entscheidenden Fragen gestellt, zumindest nicht laut und öffentlich. Die Kornkreise in England, die seit 30 Jahren jeden Sommer erscheinen, nicht. UFO-Sichtungen nicht. Nicht der Gedanke, was, wenn wir nicht die Einzigen sind in diesem Kosmos? Diese Frage unterbindet auch die katholische Kirche mit Macht. "Was, wenn wir nicht die Einzigen sind? Was, wenn wir nur eine inferiore Spezies sind, unendlich inferior? Zivilisationen, die uns um Milliarden Jahre voraus sind? Milliarden von Jahre. Für diese Wesen, so Stephen Hawkins, können wir doch nur Bakterien sein. Die entscheidenden Fragen werden allesamt unterbunden. Die einzigen, die diese Fragen zulassen, sind die Toten. Unsere Toten. Denn unsere Toten sind uns ein paar Schritte voraus, entscheidende Schritte. Die Toten wissen bereits alles, und dergestalt sind sie die besten Lehrmeister. Die faschistische Lüge ist doch evident: Kaum bist du gestorben, wirst du aus dem Gedächtnis gelöscht. Du hast nichts mehr zu sagen, und das ist gut so, sagen die Totenverachter. Endlich ist er/sie weg. Deshalb der Massenmord, denn alle Faschisten anpeilen. Tote, leblose Leichen haben nichts mehr zu sagen, ein Problem weniger somit. Und manche Lebende sind damit einverstanden und sagen, ich als Tote(r) brauche unter der Erde auch keine Leichenstierler, ich will meine Ruhe, endgültig, und das bekomme ich nur garantiert, wenn ich verbrannt und meine Asche (meine??) im Meer oder im Fluß zerstreut wird. Ich weiß, wie die Leute sind. Särge sind ihnen nicht heilig, Sarkophage noch weniger. Sie meinen überall herumstirrlen zu müssen, überall. In meinem Privatleben, in meinem Seelenleben, in meinem Körper, ob lebendig oder tot. Die Toten sind ihnen nicht heilig. Sicher nicht. Und sie selbst meinen, sie könnten sich das alles ungestraft leisten, da sie doch den Triumph des Überlebens auskosten wollen. Sie, die Unsterblichen. Sie wollen sich mit mir nicht versöhnen. Sie wünschen mir ein möglichst langes Fegefeuer an den Hals, oder noch schlimmer. "Fahr zur Hölle!", schreien sie mich an, wie sie den Abzug betätigen oder den Hebel zur Falltür betätigen. Die Toten zählen nichts mehr, erst recht nicht jene, die das ursprüngliche, nicht faschistische Leben bewahren wollten, so wie die First People auf allen Kontinenten.
Doch die Toten sind meine Lehrmeister. Erst durch sie verstehe ich. Beginne ich zu verstehen. Klar, ich stehe erst am Beginn, und ich werde immer am Beginn stehen. Das Wissen ist unendlich. Das Wissen ist das Mysteriöseste, was es auf Erden gibt. Ich schreibe es in der Steigerungsform, weil es mich, einen Menschen, betrifft. Das Bewußtsein ist mir angelegt. Doch was ich mit ihm mache, nicht. Wie ich es einsetze, nicht. Bewußtsein ist die Hartwährung des Universums, wie Castaneda es nannte, doch Lernen ist kostbarstes Mittel und Wissen kostbarstes Gut, wie Mühle und Mehl. Aus dem Weizenkorn wird Mehl und aus Mehl mit Wasser, Ei und Hefe kostbares Brot, Symbol des Lebens. Wissen ist Brot, Lebensmittel für weiteres Arbeiten. Das Wissen hält niemals an. Es reflektiert sich nicht selbst. Das ist der große Irrtum: die Wissensreflexion. Das Phrasendreschen vom Katheder herab, so wie altertümlich in den Kirchen. Es ist zum Speiben! Es gibt viel zu lernen, no na! Wer es ernst meint mit dem Lernen, lernt sofort, da draußen wabbert Unendlichkeit. Unendlichkeit, die ich niemals erfassen werde. Jene, die vorgeben, Wissen sei nur eine Frage der Zeit ("Es ist nur eine Frage der Zeit und der eingesetzten Forschungsressourcen, bis wir diese Frage geklärt haben..."), diesen Leuten gefällt es, Gott zu spielen. Sie verdinglichen im Handumdrehen das geringste Erkenntnisdetail. So handeln die Faschisten. Sie handeln entsprechen ihrer Doktrin. Die Doktrin (die "Endlösung") ermächtigt sie zu jedem Verbrechen. Der Ungeheuerlichkeit ist keine Grenze gesetzt. Pater Pio äußerte einmal eine Ungeheuerlichkeit anderer Natur, und niemand, wirklich niemand, wollte sich zu dieser Ungeheuerlichkeit äußern: "Es gibt mehr Dämonen auf dieser Welt als es jemals Menschen gegeben hat..." Dieser Spruch ist in mehrerer Hinsicht zentral. Er redet von Dämonen (so wie auch Dostojewski von Dämonen schrieb), und er redet von ihrer Sonderzahl. Damit ist das Problem benannt. Das Problem des Menschen. Und eine Reihe von Fragen steht ebenso augenblicklich an. Eine ganze Reihe von Fragen. ("Wer sind sie? Woher kommen sie? Was ist ihre Absicht? Absicht in jeder Hinsicht") Diese Frage aus San Giovanni Rotondo finde ich gespiegelt in Lhasa und in Dharamsala: "Was ist Samsara? Was ist die Absicht der Hölle?" Und ich finde diese Frage abgebildet, ausgekeimt, in Paris, aus dem Mund eines pfeifenrauchenden Zyklopen, eines Existentialisten. "Die Hölle, das sind die Anderen." Jean Paul Sartre, ein interessanter Zeitgenosse zur damaligen Zeit (auch für Ché Guevara), mußte eine Perspektive, Erfahrungen(!) "gewonnen" haben, die ihn dazu bewegten, so zu reden. Der Herr aus Nazareth redete nicht so, obwohl sie ihn am Ende auspeitschten, wie man es sich nicht vorstellen kann und soll. Manche Heilige erzählen von jenem Ort, Inferno, doch von einem Ort kann man doch beim besten Willen nicht sprechen. Das ist zu trivial. Wir sollen und müssen vom Leiden hier und jetzt sprechen. Nur das zählt. Nur das. Was tun wir, wenn wir klug sein wollen? Was tun, wenn wir klug sind? Was haben wir gelernt? Das, sagt Don Juan Matus, ist die intimste Frage. Sie ist nur ein kleiner Markstein auf der Straße, die in die Unendlichkeit führt.
Der Blitz des Verstehens

Rettung. Auslöschung.
