Der entflohene Quastenflosser
Er gehörte zu unserem Dorf, im Näheren zu unserer Kirche. Er war regelmäßiger Krchgänger, Sonntags um halb Zehn. Dort saß er immer in der zweiten Reihe, am Gang. Das waren die Plätze seiner Familie.
Ich kannte ihn seit meiner Schulzeit. Er war drei oder vier Jahre älter als ich. Er maturierte, als ich in die Oberstufe eintrat. Wir waren beide Bahnschüler. Wir pendelten mit der Bahn. Das prägte unser Leben. Er erwarb später den Führerschein, aber er nutzte seinen Kleinwagen nur spärlich. Er hielt damals eine gewisse Distanz zu mir, was wohl am Altersunterschied lag, aber wir standen uns dennoch nahe. Unser Kindermädchen hatte seinen Bruder geheiratet. Ich erinnere mich, einmal faßte ich mir beim Aussteigen aus dem Zug ein Herz und sprach ihn wegen eines mathematischen Auffassungsproblems an. Er studierte damals bereits Technik in Linz. Wir standen hinten bei den Kohlehaufen, dem Dampfkesselhaus, unserem informellen "Hinterausgang", den sich nur die eingeschworenen "ÖBB´ler" leisten konnten und von dem es nur ein Katzensprung (wirklich, nur ein Katzensprung) zu seinem Elternhaus war. Er kniete sich in seiner typischen Art im Stehen in das Problem hinein, zog seine typische Grimasse, die sein Markenzeichen war, murmelte etwas, holte seinen Ingenieurskugelschreiber aus dem Revers hervor, machte ein paar Versuchsstriche und ging dann daran, mir die Sache zu erklären. Was für eine Erleichterung! Bereits dafür, nach 40 Jahren, herzlichen Dank, Herbert!
In diese Zeit fällt jener Vormittag, an dem er mir seine eigentliche Qualität offenbarte. Im Sommer ging er an Sonntagen immer in die Frühmesse, halb Acht, um sodann direkt ins noch leere öffentliche Schwimmbad, das überregionale Anziehungskraft genießt, überzuwechseln. Er genoß die leere Schwimmbahn, die Stille rund um die Becken. Das Valentiner Schwimmbad war ein Paradies, grade in den 60er und 70er-Jahren. Er, der verschrobene Einzelgänger - und Herbert war wirklich der Prototyp eines Einzelgängers -, steht im Zweimeter-Becken auf einem schmalen Innensockel der Einserbahn. Die Wasserpumpe sprudelt leise Frischwasser ins Becken. Ich komme dahergeschlendert. Die Begrüßung ist unvermeidlich. Herbert zieht wieder seine üblichen Faxen. Ich frage ihn zum ersten Mal: "Was gefällt dir besser, Herbert, Schwimmen oder Tauchen?" Er: "Tauchen, denn da muß ich zu niemandem "Hallo" sagen!" "Bist du gut im Tauchen?" "Kann nicht klagen. Es funktioniert ganz ordentlich." "Wie weit schaffst du es von hier aus?" "Na, bis ganz ans Ende, natürlich." "Du meinst, mit Anlauf, natürlich." "Nein, so wie ich es meine. Aus dem Stand, so wie ich hier im Wasser stehe." "Machst du Witze? Das gibt´s doch nicht!" "Doch, soll ich es dir zeigen?" "Herbert, ich kann´s nicht glauben! Das hat noch keiner geschafft!" "Ich schon, du hast mich nur nicht gesehen."
Gesagt, getan. Er atmet ein paar Mal tief durch, taucht unter und stößt sich ab. Und dann zieht er los. Harmonische Ruderbewegungen, nichts übereilt. Kraftvoll, ohne Panik. Herbert taucht die 50 Meter wie ein Wal. Ich gehe neben ihm mit. Die Zeit steht still. Für Herbert gibt es offenbar kein Luftproblem. Er taucht am Ende der Bahn auf, ohne roten Kopf, nicht nach Luft hechelnd. Ich mache aus meinem Staunen keinen Hehl. "Herbert, du bist der Weltmeister!" Ja, so war Herbert Weber. Der Langstreckentaucher, der niemals geraucht hatte. Der Wandersmann, der sich mit dem Wandern Weltmeisterlungen einhandelte. Der niemals lief und niemals radelte. Er, der nur wanderte und der in der Kirche regelmäßig in eine seltsame Exstase geriet, zu der ihn aber nie jemand zu befragen wagte, denn das hätte gleichzeitig bedeutet, ihn aus seinen offenkundigen Selbstgesprächen reißen zu müssen.
Als ich maturierte hatte, liefen wir uns eines Tages wieder über den Weg, es war an einem Sonntag, und diesmal nahm das Gespräch zwischen uns einen unerwarteten Verlauf. "Wo wirst du arbeiten als Ingenieur, Herbert?" "Weiß ich noch nicht, das hat keine Eile. Ich bin zwei Jahre im Zeitplan voraus." "Jede Frau muß sich doch wegen dir die Finger abschlecken. Du bist kerngesund und ein grader Michl." "Sag bloß das nicht! Grad ging meine Beziehung in die Binsen. Ich hab es mit ihr ernst gemeint, aber sie nicht mit mir. Ich hab ihr gesagt, wir steigen erst ins Bett, wenn wir uns gut genug kennen, doch sie hat gemeint, so eine vordergestrige Schlafmütze wie mich gäbe es gar nicht, und schwuppdiwupp hat sie sich am nächsten Tag mit einem Anderen ins Bett gelegt, einfach, um mir zu zeigen, daß es auch anders geht. Ich hab natürlich standrechtlich Schluß gemacht mit ihr. Schwere Zeiten, muß ich dir sagen, Wolfgang!" Und Herbert beginnt wieder zu faxen.
Zwei Monate später wird Neues von unserem Freund kolportiert. Er ist den Salesianern in Graz beigetreten, studiert Theologie. Wir treffen uns nach längerem Abstand wieder. "Herbert, wie ist die Theologie in Graz?" "Ganz nett, zum Glück nicht allzu langweilig. Ich hab ein neues Hobby. Ich bringe die Zeugen Jehovas zurück. Zuerst haben sie regelmäßig an meiner Tür geläutet, da dachte ich mir, wie soll das weitergehen?, und so habe ich sie für eine längere Sitzung hereingelassen. Dann haben sie mich zu sich eingeladen. Bin ich natürlich hingegangen. Man muß fair sein: Sie werden nie ausfällig. Der Bischof ist schon auf mich aufmerksam geworden. Bei den Meinigen habe ich sowieso einen Freibrief. Anders ging´s gar nicht."
Ja, so wurde mein Freund Herbert Weber zum "Zeugen Jehovas-Spezialisten", und das bedeutet ja doch schon was, bedenkt man deren Bibelkenntnis. Sowohl seine Diplomarbeit wie auch die Dissertation widmete er den Sekten. Er war der Eigenbrötler, dem man die Suppe nicht versalzen konnte. Er sagte: "Ich bringe meine Arbeiten zuerst in Ruhe unter Dach und Fach, und dann lasse ich mich zum Priester weihen." Gesagt, getan.
Dann kam der dritte Lebensabschnitt. Wie, entzieht sich meiner Kenntnis. Ob er initiativ wurde oder die Behörde, es ist egal. Herbert fand seine Berufung. Er ging nach Istanbul, ans katholische St.Georgs-Kolleg, und unterrichtet dort, was weiß ich, wieviele Fächer, und das in Türkisch, das er in Rekordzeit lernte, und in Deutsch. Und des weiteren wurde kolportiert, daß jede zweite Mutter einer türkischen Schülerin ihn mit ihrer Tochter verheiraten möchte (vergebens) und ihm daher im Rahmen entsprechend professionell eingefädelter Überzeugungsarbeit klassisch-türkische Süßigkeiten vor die Tür gesetzt oder in den Unterricht gebracht werden, und Herbert dankend zwecks Förderung der bilateralen Verhältnisse zulangt, weshalb er jetzt den Inbegriff des vertrauenerweckenden, gutgenährten Paters auf Gottes weitem Erdboden abgibt. Ein Katholik auf europäischem Muslimboden. Für Herbert nur das Salz in der Suppe. Konstantinopel. Er, der nicht einmal vor dem Teufel den Schwanz einzieht. Literatur holt er sich, so die letzte Meldung, kofferweise bei seinen Heimaturlauben. Schön, daß er nicht auf uns, die leidgeprüften, verbiesterten, kinderlosen Gottverlassenen vergessen hat.
Ich dank dir für alles, Herbert. Bist ein Klassekerl und wirst es immer bleiben!
Emmerson, Lake & Palmer. Christian Dauerboeck zum Gedenken
Habe ich mich seiner zur Genuege erinnert? Er ist es wert. Es ist immer noch Sonntag, also Zeit nutzen. Es geht um einen markanten Freund aus der Jugend. Ein Jugendfreund, wie er wertvoller nicht sein kann. Genaugenommen hatte ich nicht das Recht, ihn einen Freund zu nennen. Das war nie ein Thema und dazu sahen wir uns auch viel zu selten. Ein Freund von ihm war der Sohn des dorfbekanntesten Hauptschullehrers, Eugen Pell, von dem ich auch nicht weiss, ob er noch unter uns weilt. Er teilte das Faible fuer Musik, wenngleich unter anderen Vorzeichen. Eugen Pell war der Vermaechtnisverwalter seines Freundes Christian Dauerboeck, des komponierenden Organisten.
Christian war der einzige Sohn einer dorfbekannten, doch ziemlich resoluten Volksschullehrerin. Ich genoss sie zwei Jahre, die ersten zwei Jahre. Man sagte spaeter von ihr, sie habe Haare auf den Zaehnen, doch davon bemerkte ich nichts. Sie war mit einem unscheinbaren Mann verheiratet, auch er Lehrer, doch mit diesem Mann wechselte ich nie auch nur ein einziges Wort. Der Mann war im Ort praktisch unsichtbar, doch welch Staunen, er war scheinbar Obmann der Naturfreunde, die ihm nach seinem Tod an einem der idyllischsten Plaetze mit ausgedehnter Sicht ueber die Felder hinueber zum Rubringer Stausee ein Denkmal setzten. Wie gesagt, den Mann sah ich viellicht ein oder zwei Mal, doch nie ein Wort. Seltsam.
Christian galt als verschrobenes Genie. Er trat aus dem Schatten der legendenumwobenen Anonymitaet mit seiner Matura. Wo er maturierte, war zum Beispiel nie Thema. Vielleicht lebte er in einem Internat, gut moeglich, denn er war kein Bahnschueler. Wir kannten alle: die Steyrer, die Amstettner und die Linzer. Er war bei keinem Trupp. Er war unsichtbar, aber wir wussten, er existiert. Eva Dauerboeck hat einen Sohn. Was wird der Sohn zweier Lehrer spaeter wohl machen? Mit seinem Abitur, wie sie es in Deutschland nennen, wurde er aus der Taufe gehoben. Ein Vorzeigeschueler, ein wenig schuechtern vielleicht, mit gewissen Manieren und Manien. Zuvor hatte ich ihn nur immer von der anderen Strassenseite aus gegruesst, mein Gott, es gab ja so viele seltsame Typen im Dorf, aber er war ungefaehrlich, soviel war sicher. Er trat kompakt mit zwei Auftritten in mein Leben und veraenderte damit meine Perspektive. Es begann damit, dass wir ihn im Sommer an einem Freitagabend, das muss 1977 gewesen sein, im Gasthofgarten einer eigentlich von uns, den Schachklubmitgliedern, wenig frequentierten Schenke antrafen. Alle kannten ihn und wussten, er studiert Orgel. Christian tritt zu uns heran, eine brennende Zigarette in der Hand. Er hustet. Es ist von Beginn an klar, dass ihm das Rauchen nicht bekommt, aber es muss als Alluere so sein. Wir sitzen ueber dem Brett. Er mischt sich zugmaessig nicht ein. Sein einziger Kommentar, obwohl er doch sehen muss, wir spielen ohne Uhr: "Auf wieviel Minuten spielt ihr?" "Freie Partie", antworte ich ihm, "so zum Ausklingen." Ich hatte mich selbst dazu ueberreden lassen. "Dann wuensch ich euch alles Gute, aber ich werde mir nicht die Fuesse in den Bauch stehen." Spricht's und geht zu einem Nachbartisch, wo andere Valentiner sitzen, klar erkenntlich seine Clique.
Nur wenige Tage spaeter treffen wir ihn im Bad. Das war immer schon der zentrale Treff fuer jede Absurditaet und substantielle Weiterentwicklung. Christian war sich nicht zu nobel fuers Schwimmen, immerhin, aber es war auch nicht sein Element. Er hatte den Charakterkopf eines englischen Musikers. Seine Mundpartie war eigen, erinnerte mit Phantasie an die eines Frosches. Noch charakterisitischer war sein ewiges Grinsen, sein Wimpernzucken, sein Kopfreissen und das seltsam heisere, wohlbedachte Reden. Alles in allem wirkte er wie ein Mathematiker oder Elfenbeinturmwissenschafter. Er philosophierte um das eigene Reden. Alles in der Sozialkonvention war ihm nur voruebergehend, das war bemerkbar. Es gab keine Sprengminen in seinem Reden, keine Provokationen. Er hatte keinen Sinn fuer diese Spielchen. Er lebte auf einem anderen Planeten, soviel war klar.
Christian laedt uns fuer den Abend in die Pfarrkirche ein. Er hat einen Sonderschluessel. Er gibt ein Konzert im Freundeskreis. Das lassen wir uns nicht entgehen. Es ist Freitagabend, Hochsommer. Wir treffen uns gegen 19 Uhr, nehmen unten in den Betstuehlen Platz, waehrend er nach oben klettert und die Maschinerie anwirft. Zu meinem allergroessten Erstaunen spielt er Emerson, Lake and Palmer, Pictures of a Gallery, deren Synthesizer-Version. Ein Aha-Erlebnis. Er spielt nicht zu Ende. "Das dauert zu lange", sagt er, "ich will euch nicht langweilen. Habt ihr einen Spezialwunsch?" Wir gaffen dumm und grinsen. Zum Glueck sieht er uns nicht dort oben. Seine Stimme hallt im Kirchenschiff. "Was du uns auftischen willst, Christian", rufe ich ihm hoch. "Okay, das ist wohl klassisch", kuendigt er an und legt los, Toccata von Bach. Klassisch, Vollkoerpereinsatz. Christian geht auf Touren, das ist klar. Er spielt nicht fuer das Publikum. Das Spiel ist Selbstzweck. Es geht um die Demonstration der Schoenheit. Okay, wir haben kapiert. Er spielt zu Ende und bricht ab. "Okay, Leute, das war's auch schon, ich hab Lust auf ein Wurstbrot." "Okay, Christian, ein andermal." Stille.
Das war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Die Dorfpostille verlautbarte, Christian studiert auf der Bruckner-Orgel in St.Florian, bei Oesterreichs bestem Organisten, einem Pater des Stiftes. Dann, im Herbst, es muss ein November gewesen sein, ein Jahr danach, die Bombe: Christian und sein Mentor, Augustinus Kopfreiter, bei der Nachhausefahrt von Italien mit dem Auto toedlich verunglueckt. Ein Blick ins Leere.
Christians Vater stirbt nur ein Jahr spaeter, wie ich es in Erinnerung habe. Unerwartet. "Was fuer ein Schlag fuer die Eva", kommentiert mein Vater.
Christian hinterliess als 20- oder 21-Jaehriger ein Testament. Ja, das tat er. Eugen Pell bekam alle persoenlichen Aufzeichnungen. Ein Mozart wurde uns entrissen, noch bevor er in die Bluete kam.
Mein Gott, Christian, was warst du nur fuer ein cooler Typ! Mach's gut, wo immer Du jetzt auch sein magst. Moecht' Dich gern wiedersehen. Hab Dich ja gar nicht gekannt!