Ostern 2023
Wo doch alles fließt, und dies noch in einem Sinne, der mein Verständnis übersteigt, denn mein Leben fließt dahin ohne mein Zutun, und gäbe ich hinzu, willentlich oder wie auch immer, was käme Anderes heraus als Verhaspelung und Verwirrung. Ich weiß ja schon gar nicht mehr – und das seit Längerem – was ich denn eigentlich wirklich denken soll, erst recht Neues denken soll? Meine Gedanken sind wirr, und je genauer ich hinschaue auf mein Denken, umso mehr schreckt es mich geradezu, denn ich sehe nur Chaos, Verwirrung und, das erst recht, Unfaßbarkeit. Doch gleichzeitig denke ich, glücklich jene, die Zeit und Muße finden für das eigene Denken und denen die Zeit, die sowieso unfaßbare, nicht zwischen den Fingern wie feiner Sand zerrinnt. Und so liege ich in meinem Fieberdelirium zu Bette, mit Handtüchern, die meinen Schweiß aufsaugen sollen, und die treue Erodita verpaßt mir eine Schlußinjektion mit einem netten Chemiecocktail, und am Morgen, mitten unter dem Frühstück, huste ich den letzten Eiterbatzen aus der Kehle hoch, einen Batzen, und ich fühle mich wieder befreit, und eigentlich sollte ich mir das alles zu Herzen nehmen und ernst machen mit etwas mehr Disziplin, was Rauchen und scharf Essen anbelangt, mein Jüngster, der mich wahrscheinlich besser kennt als ich mich selbst, sagt es mir ja zum wiederholten Male diskret freundlich hinter die Ohren, aus lauter Liebe, denn diese Gotteskinder wissen ja, was sie an mir haben, und was ist es, wenn nicht Sorge um mich? Wozu soll ich noch etwas hinzugeben, wo doch alles bereits randvoll gefüllt ist? Abtragen, Schicht für Schicht, ist es, was mich angeht, was mich zart, wie ein Hauch, anweht, „Erinnere dich! Schon erinnerst du dich! Besinne dich, soeben erinnerst du dich!“, flüstert mir ein Engel, der wohlmeinendste von allen (vielleicht mein eigener) liebevoll ins Ohr. „All diese Erinnerungen gehen dir nicht verloren. Wir holen sie nur hervor – du willst es ja selbst; es ist deine Ehre! -, sobald du stark genug dazu bist, und keine dieser Erinnerungen, keine dieser Einsichten wird dich umhauen, denn so mahlen die Mühlen der Zeit, so mahlen die Mühlen der Gemeinschaft, die ja doch nur eine erzwungene ist, denn jeder, wie du doch nur allzu genau weißt und immer wieder erlebt hast, jeder stirbt für sich allein, und das ist doch Drama genug, und bei keinem dieser Sterbenden – das hast du dir immer kategorisch verbeten – warst du dabei, denn es sollte nicht sein, was denn auch all dieses Theater, dieses Ausbrechen in haltlosem Schreien, erinnere dich, du weißt es genau, ja doch wohl, in deiner Anwesenheit sind Menschen gestorben, doch es gab kein Theater, so wie damals im Rot-Kreuz-Wagen, der vom Strom Verbrannte und in Aluminiumfolie Eingehüllte. Ihr fuhrt nach Wien und er starb neben dir, ohne daß du ihn beobachten mußtest, und der andere, der Verunfallte in der Waldkurve, er lag draußen neben einem Baum wie ein waidwundes Reh, tot. Er ganz allein kam zu Tode, ganz allein, ohne Fremdverschulden. Sein Auto überschlug sich in der Kurve und schleuderte ihn hinaus, und er war tot, und du warst der Erste, der ihn sah, an jenem stillen, bewölkten Nachmittag. Und nur das zählt. Und niemandem hast du davon erzählt. Das, was zählt, ist das ganz Persönliche, und nur das zählt. Die Toten im Krieg zählen. Nicht die Kriegsgewinnler, die Waffenproduzenten. Es gibt gerecht Sterbende und Ungerechte. Wie die Ungerechten sterben, das wirst du nicht ermessen, doch du weißt es, Gerechtigkeit waltet im Himmel, das doch wohl. Es kann gar nicht anders sein. Damals, an jenem Sabbath, lag er in seinem Felsengrab. Er war gewaschen und einbalsamiert. Eingewickelt in makelloses, cremeweißes Laken, von seiner eigenen Mutter beweint und betrauert, und ein 17-Jähriger stand dabei, völlig geblendet, und ohne Worte. Dieser Jüngling, von dem sie, die Gefolgsleute des Rabbi, wußten, dieser würde nicht sterben so wie sie (das wußten sie mit einem Schlag hellsichtig in jenem einzigen Moment während des Heiligen Abendmahls, des Paschamahles, und das hatten sie den Meister an jenem Donnerstag gefragt, „Meister, was ist das Schicksal dieses Jungen, der seinen Kopf in deinem Schoß gebettet läßt?“, und der Gesalbte antwortete, „Dies braucht euch nicht anzufechten. Sein Schicksal liegt in der Hand des Vaters.“) Und so geschah es mit dem Jüngling, der alles mit ansah, das Sterben und die Auferstehung. Und was erst geschah mit der Mutter! Ja, und was erst geschah mit der Mutter? Wolle sich DAS einer vorstellen! Tod und Auferstehung. Die Zentralgeschehnisse der Menschheit, wie sie sich nicht mehr wiederholen werden, - so Gott will. Heute also ist Karsamstag, der Tag, an dem die Glocken nicht läuten. „Hinabgestiegen in das Reich des Todes…“ Das Reich des Todes. Er steigt in jenes eine unvergleichliche Reich hinab. Was für ein Wort. Erhaben und gebieterisch. Dieses Reich. Dieses unermeßliche, unfaßbare, unbeschreibbare Reich. Auf diesem Planeten sterben jeden Tag Milliarden von Kreaturen. (Und was heißt Milliarden? Tausende von Milliarden!). Ein Gesetz waltet, und es steht weit über der alles Leid bedingenden Verblendung. Das eigentliche Gesetz, wie es waltet, tritt mit unserem Tod in Kraft. Diesem Gesetz war auch Xesú unterworfen. „Auferstanden von den Toten…“ Das war nicht wie Aufwachen, nach erholsamem Schlaf. „Er wurde auferweckt…“ Wer gebietet über den Tod? Die Antwort ist klarer als alles sonst zu Befragende: Die Macht, deren Willen Sein und Nicht-Sein unterliegen. Jener Macht, die Sein gewollt hat und ebenso Nicht Sein. Aus absolutem Nichts heraus. Der Modus des Seins so wie der Modus des Sterbens unterliegen der Absicht, der Ausformung. Die Absicht liegt unserer Existenz zugrunde. In jedem Moment. Und jedem Atemzug. Und jedem Gedanken. Und jedem Dank, jedem Wort. Und dann Morgen. Im Morgengrauen. Maria Magdalena. Vielleicht war sie seine Gemahlin. Er weiß es. Er muß es wissen. Was weiß denn ich? Das alles vollzog sich in Stille. Der auferstandene Gott im Morgengrauen von Gethsemani. Er, Xesú, der nicht mehr Berührbare. Er sagt es ihr selbst, laut Markus. Und damit endet sein Evangelium, seine Frohbotschaft. Das alles ist sehr sehr seltsam.
Osterdank
Das Wertvollste sind die Menschen. "Die Zeit ward erfüllt", wie es zu Weihnachten heißt, "und den Menschen wurde der Heiland geboren." "Sein Heilswerk war erfüllt, und so wurde er von den Toten auferweckt", das heißt von einer Instanz oberhalb seiner. Den Tod kenne ich nicht, doch die Menschen. Christus kehrte ja auch zu den Seinen zurück. Er trat nicht öffentlich auf, denn er war unberührbar. Das wäre eine unzulässige Profanisierung des einzigartigen Wunders gewesen.
Am heutigen Ostersonntag, so hat es mir eine Kraft frühmorgens sanft eingegeben, soll ich als Erstes danken. Ein Dank in der Zeit, doch über die Zeit hinaus, vielleicht auch hinüber in die Ewigkeit, die mir halt ein Anliegen ist. Ein tägliches Anliegen, jeden Morgen. Zeitlebens. Ach, wie schade ist es um euch alle! Wie sehr vermisse ich euch! Das alles, was war das? Und denken nicht alle so? Seit tausenden von Jahren?


Lazarus
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Seit 2 Jahren ist Max von Sydow nicht mehr. Er, der große schwedische Mime, ein Gigant mit fein gemeißelten Gesichtszügen. Seine Filme sind Legion, Rollen aus allen Epochen und allen Weltgegenden. Frappant die Breite seines Repertoires. Er spielte Bösewichte, Gestalten aus dem Mittelalter, Auftragsmörder, Priester und, man glaubt es kaum, wüßte man es nicht besser, sogar Christus. Epochale Rollen, stärker noch prononciert als Charlton Heston, der andere Bibel- und Geschichtsheros. Wie kann man Christus spielen? Wie überhaupt sich an eine solche Rolle heranwagen? Denn Rolle bleibt es allemal. Bei Max von Sydow war es eben nicht so wie bei Jim Caviezel, den Christus-Mimen unter der Regie von Mel Gibson. Dessen "Passion Christi"-Fortsetzung "Auferstehung" sollte jetzt, heuer, beginnen. Bitte jetzt, nach Ostern. Bitte, lieber Herr Gibson! Die Fortsetzung ist seit 10 Jahren überfällig! Zwischen Caviezel und von Sydow gibt es eklatante Unterschiede. Caviezel blieb seinem Genre treu und auch privat veränderte er sein Leben gravierend. Er lebte fortan irgendwie heiligmäßig, möchte ich sagen, von Hollywood und dessen Partyextravaganzen sowieso gemobbt. Max von Sydow war international, sozusagen ein Unberührbarer, so wie Liv Uhlmann oder Bruno Ganz oder Josef Meinrad, auch wenn er, wie gesagt, auch Bösewichte mimte. Apropos Bösewichte: In "Brennen muß Salem" mimte er sogar Satan als Antiquitätenhändler. Satan bringt Zwietracht, Neid, Mordgelüste und abartige Bösartigkeit in die Kleinstadt. So etwas kann sich nur Steven King ausdenken. Zuletzt, als alles brennt, verschwindet der Teufel aus seinem brennenden Haus. In aller Ruhe marschiert er aus dem Feuerofen, im Anzug, und fährt in aller Ruhe in seinem schweren, schwarzen Höllenwagen fort. Keiner wagt es natürlich, ihn auch nur im Mindesten zu tangieren, schlußendlich ist er Luzifer, eine kosmisch-himmlische Größe. Im Exorzisten mimt von Sydow, wie bekannt, den Exorzisten Lankester Merrin, einen erfahrenen Jesuiten-Pater, der Linda Blair in deren Tiefkühltruhenzimmer in der Vorstadt von Washington gegenübertritt und den Kürzeren zieht. Das war 1973, also vor 50 Jahren. Lang ist's her und so auch Max von Sydow nicht mehr. Wie viele Tode starb der Gute in seinen Filmen! Im "Siebten Siegel" von Bergman spielt er als Kreuzritter mit dem Tod höchstpersönlich sogar Schach und verrät ihm, meinend, es sei sein Beichtvater im Beichtstuhl, sogar seine Gewinnstrategie. Der Tod nimmt wie ein Schachstudent freudig die Problemlösung entgegen und gibt sich sogar ganz ungeniert zu erkennen. Was auch sollte denn der Tod fürchten? Scham und Schande? Unehre? Ritter Antonius Block jedenfalls ist zerknirscht und von der Rolle. Aus mit der Hoffnung, er könne sein Leben mittels eines Gewinnes in der Schachpartie retten. (Eine ähnliche Anekdote spielt um Alexander Aljechin, der gegen die Bolschewiki um sein Leben spielte und tatsächlich auch gewann. Aljechin wurde Weltmeister (er schlug den Kubaner Capablanca) und emigrierte nach Frankreich. Später diente er sich den Nazis an. Er erstickte bei einem Mittagessen in seinem Hotelzimmer in Lissabon an einem Fleischstück. Wie das zugehen soll, das frage einer Gott.) Antonius Block jedenfalls ist tot, und Ingmar Bergman und Max von Sydow auch. Und überhaupt sind alle tot, bis auf einen, und das ist unser Herr Jesus Christus. Seine Jünger starben - mit Ausnahme des Benjamins - alle den Märtyrertod, und das ist sowieso brutal und tragisch genug, und wenn wir schon von Schrecken und Grauen sprechen, dann bedenken wir, Bruno Ganz mimte Adolf Hitler, und die Verfilmung von Stalins Leben steht auch noch aus, die Rollenverteilung darin ebenso. Bis dahin harren wir des zweiten Teiles von "Dune, der Wüstenplanet", Box Office am 3.November des heurigen Jahres. Die Sache mit den Hollywoodschauspielern ist jedenfalls keine geringe. Ein paar von ihnen waren Trinker, und ein paar waren Freaks oder sind es immer noch. Ich verstehe schon, daß es da einige Disziplinierte gibt, die sich solche Exzesse verbieten. Jack Nicholson jedenfalls gehört nicht dazu, und andere hatten einfach nur Pech. Sir Antony Hopkins war nicht Max von Sydow, doch auch er hatte Dr.Hannibal Lecter, einen Kannibalen, und Papst Benedikt XVI. im Repertoire. Und daneben ein paar Exzentriker mehr. Max von Sydow war kein Exzentriker. Dazu stand ihm die nordische Nüchternheit zu sehr ins Gesicht gemeißelt. Er spielte Künstler und einen Gefängnisinsassen, so wie Spencer Tracy, und er hätte in jungen Jahren auch einen Bergsteiger abgeben können, aber niemals "Mission Impossible" à la Tom Cruise, dieser selbstverliebte Scientology-Schwerenöter.
Der Schwede also gab Jesus, und als solcher die Szene der Auferweckung seines Freundes Lazarus von den Toten. Das würde ich mich nicht getrauen. Ich sag's ehrlich. Auf die Idee muß man erst mal kommen. Und außerdem: da waren ja noch, laut Bibel, zwei andere Leutchen, die der Nazarener zurückholte. Das hätte George Stevens in seinem "Die größte Geschichte aller Zeiten" 1965 unmöglich auch noch einbauen können. Nein, das getraute er sich nicht, und seinem amerikanischen Publikum, diesem naiven, ja auch gar nicht zu. Es genügt die eine Szene, und dann all die Gesichter, und dann, als Petrus davon eilt, die unterlegte Filmmusik, keine von Angelo Badalamenti, dem unvergeßlichen Schöpfer von "Twin Peaks", der letztes Jahr am 11.Dezember 2022 nach Hause ging, nein, es ist biedere Halleluja-Musik, die Engelschöre sind im Hintergrund zu erahnen. Doch was dann? Du kannst nur sagen, noch einer der Großen mehr, wie er nicht mehr ist. Keine Skandalpetze, kein Kindergrapscher, kein Dieb und kein Mörder und überhaupt einer, der doch wirklich und unumstößlich meinte, er schulde dem Leben sein Talent, und der dann auch nicht zögerte, mit seinem Leben ernst zu machen. Heil ihm, und Dank, grad wohl.
10.April 1929 - 8.März 2020
Friede am Fluß
Ein Moment genügt meistens. Der Moment, wo der Druck abfällt, all die fremden Stimmen, die beständigen Einflüsterer, die Besserwisser. Eben jene, die ungefragt dazwischenreden. Die Störenfriede also. All die Abwesenden, die sich in unserem Geist breit gemacht und es sich wohnlich eingerichtet haben, sodaß wir eigentlich sehr leicht Fremde sein könnten in unserem eigenen Leben, in unserem eigenen Lernen. Das kann bisweilen arge und schlimme Ausmaße annehmen. Wir lassen uns gefangen nehmen von eigener Uneinsichtigkeit. Wir könnten es auch Naivität und Dummheit nennen, eben weil wir die Kröte nicht beim Namen nennen. Feigheit somit. Und Lüge. Das alles sind die Leitschienen in den Katakomben unseres Konzentrationslagers. Einer weltweiten Hölle. Wir sind die Gefangenen, gefangene Vampire, die ganz und gar nicht verstehen, wie ihnen geschieht. Welch nekrophile Ironie! Die Zwingherren, die Mörder, bleiben unsichtbar. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Die Totenkopfschergen können sich frei bewegen. Sie brauchen keinen Passierschein. Das Wachpersonal wie die Mordbuben zeigen dieselbe Fratze. Sie sind gekennzeichnet. Sie überfallen uns, die kleinen, verbiesterten, größenwahnsinnigen Vampire. Sie lassen uns einander gegenseitig zerfleischen, und wir steigen mit Überzeugung ein. Das ist ihre Methode, keine menschliche. Was wir an Bösartigkeit zeigen, ist nicht menschlich. Das ist ein wesentlicher Punkt. Wir interpretieren unsere Unmenschlichkeit fälschlicherweise als eine menschliche, als eine Funktion der Intelligenz, ja sogar der Klugheit, der Kritikfähigkeit und, mit allem Pathos, als eine Funktion des menschlichen Freiheitsbestrebens, des menschlichen Freiheitsrechtes. Dabei verwechseln wir bereits seit alters her Freiheit mit Willkür. Doch wir wissen bei aller Selbstgerechtigkeit dabei schlußendlich gar nicht, was Willkür ist. Wir denken, es wäre grenzenlose Gedankenfülle. Wir denken, es ist Genialität, ein Attribut weitest vorangetriebener Individualität, so wie die vorangetriebene Tätowierkunst an den Armen der Fußballmillionäre, denen ein sie anhuldigendes Millionenpublikum zu Füßen liegt, sodaß sie sich sagen dürfen, ich spiele für 200 Millionen Euro im Land der Saudis, jenes Volkes, in welchem noch die Todesstrafe an Frauen praktiziert wird und in welchem kritische Journalisten ermordet, zerstückelt und per Toilettspülung prinzipiell spurlos beseitigt werden. Ja, wir sind unser eigener Feind, gerade in unserer ununterdrückbaren, willkürlich gemästeten Selbstherrlichkeit. Das merken wir (oder könnten wir merken), wenn die inneren Pferde mit uns durchgehen und ich mutterseelenallein plötzlich wild zu gestikulieren und herumzurufen beginne. Da hat sich mir doch tatsächlich soeben ein vulgärer Ausruf meiner Kehle entrungen! Gut, daß es niemand gehört hat. Oder doch? Jeden Tag – das muß mir doch zu denken geben – kämpfe ich gegen vorgeblich rastlose Windmühlen, die sich unermüdlich in meinem Schädel drehen, so wie die fürchterlichen Straßenköter in diesem Land, allesamt Pinscher, die sich darin gefallen, in tiefster Nacht ein Bellkonzert zu starten, nur um die Menschen ihres Schlaffriedens zu berauben. Diese Köter wissen genau, was sie machen, genauso wie sie in Cusco und im heiligen Tal nach Ollantaytambo gegen Autofahrer gehen und sich auf deren Reifen stürzen, und das egal, ob ihr Kopf in den Radkasten gerät und ihnen das Gefährt den Kopf abreißt oder mitten über den Bauch fährt, sodaß die Gedärme beim Anus herausgedrückt werden. Und der Besucher, der hintennach fährt, kann nur vor Grauen aufschreien. Das ist der völlig unerhebliche, beiläufige Tod einer dem Wahnsinn verfallenen tierischen Kreatur in der Stadt der Inkas, und für uns sieht es nicht viel rosiger aus in unserer bemitleidenswerten Verworrenheit. Wir sollten nur nicht auf der falschen Seite gefangen sein. Es könnte uns den Kopf kosten. Wir sollten Bedacht nehmen und uns immer wieder fragen, was sollte denn mein nobler, edelmütiger Vorsatz sein? Einer, der mich durchs Leben trägt, ohne daß ich in Qualen und Zweifel und allen häßlichen Facetten des schimärenhaften Irrsinns zu versinken drohe. Diese Drohung ist ja schon schlimm genug. Was ist der lohnenswerte Vorsatz, der christliche, der mich durchs Leben trägt, auch wenn ich dieses Leben nicht und niemals begreifen werde. Mich dünkt als walte überall grenzenlose Blindheit. Der Tod schlägt blind zu, und nichts und niemand macht den Geliebten wieder lebendig. Und nicht einmal nicht nur die Geliebten, nein, auch die Feinde und die Spinnefeinde, mit deren Häme, deren Gift ich weiterleben muß, und keiner von ihnen steht mir Rede und Antwort. Das doch ist der Unfriede. Nicht nur die Abwesenden, nein, auch die Toten geben keine Ruhe. Und ich höre Tag und Nacht ihre selbstgerechten Stimmen und könnte aus der Haut fahren vor lauter Hilflosigkeit gegen solche Torturen im eigenen Haus. Doch da gebietet mit einem Mal, nach heiligmäßiger Nacht, Vernunft Halt, so wie heut Morgen. Wie ungeheuer wohltuend! Da rührt sich so etwas wie Vernunft in mir, heiligmäßige Vernunft. Die nüchterne Stimme: „Heute gönnen wir uns eine Pause auf Dauer. Frage Dich, was ist hier die längste Zeit geschehen?“ Und ich halte inne. Und im Innehalten spüre ich augenblicklich die Wohltat. Da ist Nüchternheit, da ist Stille. Da ist kein Mordgebrüll, kein Gegeifere. Da ist höhere Gewalt, mitten im Kanonendonner. Mitten im teuflischen Rasen Stille. Wahres Bedenken. In diesem Moment sehe ich Christus. Ostersonntag. Das außer Kraft gesetzte System. Nach dem Chaos des Karfreitags jenes einzigartige, weltumspannende Geschehen. Und jetzt bin ich in der Osterwoche, und ich kann den Frieden greifen, zum ersten Mal. Zum ersten Mal fällt mir die ewige Hysterie weg wie dürres, unter den Fingern zerbröselndes, trockenes Laub. Zum ersten Mal bin ich nicht mehr mein erster und schlimmster Feind. Zum ersten Mal heilt sich meine Zerrissenheit, wage ich zu behaupten. Ich spüre es. Zum ersten Mal redet keiner mehr dazwischen. Keiner aus dem Repertoire der Hunderten. Zum ersten Mal kehrt Friede ein. Der lang ersehnte. Klar, rein. Das ist das Heil. Errungen. (Die Stimme sprach heute morgen, als ich das 7-Uhr-Boot bestieg, eigentlich noch anders, nachhaltig liebevoll: "Du könntest es hinter dir haben. Nehmen wir es jetzt einmal so an...")
Gnade
