Der Dichte hingegeben. Meine dichtenden Lebensretter

Schon wieder Peter Handke

 

Mein Morgenengel (vielleicht ist es der schützende) diktiert mir während des allmorgendlichen Marktganges einen Text, schon wieder auf unseren Herrn, wohnhaft in Chaville, gemünzt. Ich müsse da noch weiter in Details vordringen und diese zur Sprache bringen, denn auch in diesen schlummere Glück. Wenn unser großer Heros schon der Meister der Zwischenräume und des Dämmerlichtes genannt wird (Meister wegen seiner Herzvorliebe; jeder, der bedingungslos seinem Herzen folgt, wird irgendwann einmal Meister oder Meisterin), dann darf ich doch erwarten, in seinem Werk gewisse Aspekte der Schräge vorzufinden, die mich bereits wegen ihrer Seltenheit bannen und zum Denken anregen. Denken, Fühlen, Vorstellen. Ja, ein Blinder sieht, dieser Schreibende setzt sich für das Abseitige ein, das Unangesprochene. Wer schreibt denn über das Pilzsuchen? Wer schreibt über den Leidensweg im ehemaligen Jugoslawien? Sicher nicht ein Volk, das seinen Gastarbeitern aus dem Süden und Südosten in den 70er Jahren den populären Spitznamen „Tschusch“ ans speckverklebte Revers heftete. Der mir den Sinn Öffnende hat ein Anrecht, höflich angesprochen zu werden. Peymann und Bernhard haben sich auch ein Leben lang gesiezt. Das ist Kultur. Ich liebe Bernhard und bewundere Peymann. Handke jedoch trage ich immer in Griffweite. Er hat mir einen Begriff vermittelt, was es heißt zu schreiben. Das Schreiben ist ihm alles. Freilich, es mag, nein, es wird neben dem „Alles“ noch Anderes geben. Ich bin nicht befugt, dies anzusprechen. Doch sein Schreiben ist die uns vermittelte Denköffnung. Ich liebe nichts mehr als Geständnisse, in welcher Form auch immer sie vorgetragen werden. Ich schätze die Interviews von André Müller über alle Maßen. Leider ist auch dieser bedankenswerte Schöngeist bereits seit sieben Jahren von uns gegangen. Das alles ist mir ein trauriges Drama. Dieses Hinwegscheiden, Von-dannen-Gehen. Das rührt mich bereits zu Tränen, und je älter ich werde, umso weniger werde ich sie verbergen.  Geständnisse sind sowieso das Allerheikelste. Ich müßte weit zurückdenken, um Menschen aufzufinden, von denen ich ungeteilt meine, sie hätten die Kraft und das Vermögen gezeigt, ein Geständnis würdevoll aufzunehmen. Einer war Hans Strotzka, mein unvergessener psychoanalytischer Lehrmeister. Gott hab ihn selig.

Schauen Sie, werte Leserinnen, werter Leser, sich doch nur an, wie sich die Aasgeier auf Handkes Jugoslawien-Bedenkungen stürzten. Das kostete ihm bis auf den heutigen Tag den Nobelpreis. Selbst die großartige, unübertroffene Elfriede Jelinek bedient ihren Schreibkollegen souverän mit einem Kurzkommentar: „Ein Klassiker, der ihn, den Preis, verdient.“ Das sagt doch alles. Will hier denn einer an der Zurechnungsfähigkeit dieser zweiten Paula Wessely zweifeln? Diese Frau, die den berechtigten, naturgegebenen und zugleich erkämpften Stolz einer Frau verkörpert wie keine zweite? Was auch immer Elfriede Jelinek in den Blick fällt und sie es kommentiert, schon komm ich mit meinem Schäufelchen und Kübelchen und lese es auf. Zuhause, an meinem Schreibtisch, wird es sorgsam einsortiert und dann in den Bettliegungen, wo Gott und die Welt nebeneinanderliegen, bedächtig bedacht. Und, freilich, nach sich einstellendem Verständnis, bedankt. Vor Elfriede Jelinek werde ich nur sagen: „Gnädige Frau, Sie, eine Jahrhunderterscheinung. Es ist mir eine Ehre!“ Zu Handke werde ich, wenn ich ihm im Jenseits begegne (daran gibt es nicht den geringsten Zweifel), sagen, „Herr Handke, das war eine Performance. Kompliment!“ Mehr braucht ja nicht gesagt werden, denn wir befinden uns schlußendlich im Himmel. Da funktionieren die Dinge ein bißchen anders. Im Himmel, wo ich gewissen Leuten unbedingt begegnen muß (und ich werde mich nicht wie Paula Wessely über das Gedränge der 100 oder 200 oder 300 Milliarden Menschen beschweren), werden wir in diesem unermeßlichen Jubel ein paar Räuberspläne für die Zukunft schmieden und dürfen uns ins Fäustchen lachen, wie denn das Gros der irdischen Intelligenzija diesem Schreckensdämon mit Namen „Nihilismus“ auf den Leim gehen konnte, und so auch wird Herr Handke, der Wohlerzogene, der Gutmütige, der Herzensbedankte, einem anderen Herrn begegnen, dessen Schmunzeln mich bei jeder Gelegenheit zu heimlichen Tränen rührt, einem Heros sowieso, so wie Pater Pio, und auch ein Heiliger wie mein Raubersbursch aus Pietrelcina, aber eben mit diesem Schmunzeln, das ihm wohl direkt von einer himmlischen Autorität geschenkt worden sein muß als Kompensation für den frühen Verlust seiner Mutter, also diesem Mann in Weiß, von dem unserer ehemaliger Griffener im Interview mit André Müller meinte, er sei sich wie bei keinem anderen sicher, dieser Mann, wie hieß er doch gleich?, also dieser Pole habe in seinem Tod wohl die Überraschung seines Lebens erleben müssen, nämlich die Vergegenwärtigung des Nichts, die ja nicht unbedingt schwarz sein müsse, sondern jede andere Farbe aufweisen könnte. Aber immerhin das Nichts, und in das hätte eben auch der Pole eintreten müssen. Ja, damas y caballeros, das ist schon kecke Rede, aber, wie schon gesagt, ebenso ein Geständnis, ein privates Geständnis in einem Vier-Augen-Reden mit dem besagten Herrn André Müller, vor dem man sich auch mal verneigen darf.. Und, wie schon an vielen Stellen vermerkt, „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“, entonces, danach kommen ein paar Klarlegungen, und diese Klarlegungen haben Gestalt und, was noch wichtiger ist, Wort. Und weil sie Wort haben, haben sie Gewicht. Das ist so vorgesehen in … der Schöpfung. Denn die Schöpfung begann mit einem Wort. Der Herr aus Chaville wird dem Herrn aus Wadowice begegnen, und weil wir uns dort, am Ort des Treffens, nicht um die Etikette einer Champagnerparty kümmern müssen, darf ich mich hinzugesellen, um diesem Dialog in der Ewigkeit ehrfürchtig zuzulauschen. Denn so wird’s gespielt. Und so wird’s mit Unzähligen gespielt. Klarstellungen über Klarstellungen, und so wie es die gewissen Schreiberlinge bereits in der Antike formuliert haben, die Augen werden uns übergehen. Und mein Freund Franz, Spitzname „Winnetou“, wird auch an mir vorbeischlendern mit seinem philosophischen Grinsen, aber undurchdringlichem, leicht süffisantem Blick, und wird mir womöglich um die Ohren reiben, „Wolfgang, man hat mir mittlerweile meine Fragen beantwortet. Jede Unklarheit beseitigt. Ich bin mit allem und jedem einverstanden, nur eins noch, wo geht’s hier bitte zum Buffet?“

Wir haben es mit wohlerzogenen Leuten zu tun. Ich möchte da nicht zwischen den Zeilen herumpolemisieren. Michel Houellebecq oder Charles Bukowski oder Wolf Wondratschek waren hingegen keine wohlerzogenen Zeigenossen, oder werden es gewesen sein, oder sind es heute noch nicht, oder doch. Man kann ein wenig ordinärer schreiben oder erst recht ordinär, und manche Leser haben eben einen Saumagen oder nicht. Wohlerzogenheit muß sich nicht in artiger Sprache widerspiegeln. Selbst Prinz Charles durfte sich eine Auszeit gönnen, und von Ingeborg Bachmann wissen wir, sie erst recht. Jeder braucht mal eine Auszeit. Pater Pio, wenn er sein Seiterl Bier trank, ebenso. Jeder Heilige braucht mal ’ne Auszeit, und sei es die am Klo. Die Wohlerzogenheit des Spezialfranzosen Peter Handke (so fließend Französisch reden zu können wie er, das wär‘ doch was!) macht ihn jeder Frau und jedem Hornochsen unverhohlen und mit freundlich einladender Geste zugänglich. Handke verwehrt sich nicht der Zugänglichkeit. Er hat seinen Königsweg gefunden. Er schreibt nicht vom Krieg der Geschlechter. Das tut er sich nicht an. Das war nicht sein Bier und wird es nie sein. So sind die Wohlerzogenen, die Internatszöglinge, die, die an Gott glauben. Sie ziehen immer eine Grenze, und das ist doch nur natürlich. Wenn ich im Winter auf einem zugefrorenen See hinausgehe, werde ich, sofern ich nicht von allen guten Geistern verloren bin, darauf achten, wo mich noch das Eis trägt. Die Grenze, ab der es zu dünn wird, werde ich nicht überschreiten. Handke ist nicht Henry Miller und nicht Charles Bukowsky. Ich habe beide gelesen, in meiner Jugend, aber deren Bücher habe ich alle verkauft. Von Miller steht, glaube ich, ein Exemplar noch im Keller. Meine Handke-Exemplare sind jedoch wohlerhalten auf meinen Dependencen aufgeteilt. Oslo, St.Valentin, Tamshiyacu, Ulan Bator.

Der wohlerzogene Herr Peter Handke versteigt sich nicht zu einem Satz wie: „Nirgendwo ist man einsamer als in der Möse einer Frau.“ (Copyright Wim Wenders, engster Freund des Herrn aus Chaville, in seinem epochalen Film „Im Lauf der Zeit“). Ein Mann von Welt wie dieser Vorzeigepilzspezialist, ein Pilzgeher vom Scheitel bis zur Sohle (man achte auf sein Schuhwerk, seine Umhängetasche und besonders auf seinen Taschenfeitel), Peter Handke, das Trüffelschwein schlechthin, wird nicht vulgär und prostitutiv seine verschiedenen … Auseinandersetzungen mit dem weiblichen Geschlecht zum besten geben. Das ist die hohe Kunst. Manche mögen es Verschämtheit nennen. Doch gerade diese Vornehmheit macht ihn wiederum zugänglich (Beweis hiermit – ich meine den hier vorliegenden Hymnus – erbracht). Ungzählte Frauen stellen ihm nach. Handke wird angepirscht. Unzählige Frauen tragen ihm ihre Liebesbereitschaft an, entweder per Brief oder direkt vor der Haustür. Handke, der Saubermann, wirkt wie ein Leuchtturm im Nebel vor der Küste Irrlands. Wo ist mein Irrland, kreischen die Sirenen mitten im Sturm. Diese Wogen können selbst uns, die Sirenen, an den felsigen Gestaden Irrlands zermalmen. Wollen wir uns an das Feuer des Leuchtturms halten und die richtige Woge abwarten, um direkt zu Füßen des Leuchtturms hingeschleudert zu werden. Nur so ist Rettung und Anbetung. Sie, Sie Inspirierter, Vergeistigter, heilen Sie uns von unserer zügellosen Wolllust. Und wenn Sie nicht können oder wollen, finden Sie uns den Ausweg zu jenen klirrenden Gestaden, wo kalte Höhlungen uns befrieden. Die Hoffnung auf Befriedung, können Sie uns diese vermitteln? So wird der Wandernde, der Prophezeiende, gefragt, selbst noch von den toten Freiheitsstatuen.

Wir leben mitten in einem weltumspannenden Mythos; dem Mythos der Selbstüberwindung des Menschen. An diesem Mythos hängt Wohl und Wehe. An diesem Mythos hängt die Geschichte schlechthin, so wie vor 63 Millionen Jahren. Wer überwindet sich nicht, wenn nicht der, der bis zum letzten Atemzug schreibt? So gestand er es gegenüber dem hochgelobten André Müller: Am Schreibtisch sterben, den Bleistift in der Hand. Den Bleistift. Nicht das blutige Schlachtmesser. Nicht die eigene Kehle offen. Das ist ein gewaltiger Unterschied. In allem.

 

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  1. Noblesse oblige. Elias Canetti

    Das ist mal ein Anlauf im umgrenzten Grätzel. Ich werde hier nicht zu einem Rundumschlag gegen den Herrn aus London ansetzen. Elias Canetti ist für mich, den Gartenzwerg ohne Schrebergarten, ein paar Nummern zu groß. Ein Rubik-Würfel, wo ich das Paradebeispiel der Hilflosigkeit abgebe. Canetti kann ich nicht das Wasser reichen. Das konnte Marcel Reich-Ranicki. Der hatte sich dieses Begutachten des Geschriebenen zum Beruf gemacht. Bedankt sei auch er. Mein Interesse, das ich nunmehr sich kondensieren lassen will, ist Canettis erst jüngst posthum erschienenem Werk „Das Buch gegen den Tod“ und den darin enthaltenen Gedanken gewidmet. Das Buch war eine Loseblattsammlung, der Titel ein Arbeitstitel. Ein Großteil des Werkes von Canetti harrt noch der Veröffentlichung. Der Kampf gegen den Tod ist uns glücklicherweise bereits erhalten und überliefert. Canetti unterhielt eben wegen dieses seines Herzleidens, dem Tod, eine nicht unbedingt belanglose Fehde mit Thomas Bernhard, die im groben dokumentiert ist, und fand eine Unterstützerin in Friederike Mayröcker, die sich heuer in ihrem 93.Lebensjahr befindet. Die Mayröcker können wir getrost als die Nachfolgerin Maria Theresias titulieren, die Ziehmutter des geistigen Österreichs. Am 25.Oktober 2003 erschien in der Wochenbroschüre „Profil“ ein Interview, das wiederzugeben ich mir hiermit aus Dokumentationsgründen erlaube. Die Gedanken, die Mayröcker in diesem Profil-Interview formuliert, führen uns direkt zu jener Frage, die mich rund um Canetti bewegt.

    profil: Was ist der Tod für Sie?
    Mayröcker: Der Tod ist mein Feind. Ich kann die Tatsache des Todes überhaupt nicht akzeptieren. Riesenschildkröten erreichen ein hohes Alter, manche Bäume werden über 500 Jahre alt, und gerade der Mensch, die so genannte Krönung der Schöpfung, muss mit achtzig oder neunzig Jahren abtreten?
    profil: Gibt es keine Aussicht auf Versöhnung zwischen Ihnen und dem Tod?
    Mayröcker: Nein, der Tod ist ekelhaft. Er ist ein Eklat, ein Skandalon, eine Frivolität, eine Schmach, eine Verdammung und eine Herabsetzung des menschlichen Lebens. Und der große Stachel des Todes ist, dass man nicht weiß, wohin es geht.
    profil: Seit zehn oder 15 Jahren räumen Sie Ihrem Feind, dem Tod, immer mehr Platz in Ihrer Arbeit ein.
    Mayröcker: Ich habe schon mit dreißig einige Gedichte über den Tod gemacht, weil ich mich bereits damals gedanklich mit ihm auseinander gesetzt habe. Die Beschäftigung ist mit zunehmendem Alter stärker geworden. Man sieht den eigenen Verfall, und auch wenn man die liebsten Menschen verliert, ist der Tod ganz nahe. Ich habe einfach Angst vor dem Tod. Nicht nur vor dem Sterben, auch vor dem Zustand des Gestorbenseins. Ich bin sehr skeptisch, was die Bejahung des Todes anlangt. Es gibt viele Menschen, auch viele Autoren und Künstler, die ihn akzeptieren. Ich habe nur einen gekannt, der ihn genauso gehasst hat wie ich; das war Elias Canetti.
    profil: Können Sie den Tod und Ihre Angst in Schach halten, indem Sie darüber schreiben?
    Mayröcker: Wenn ich über den Tod schreibe, ist das eine positive Beschäftigung. Ich kann mich dann mit der Sprache gegen ihn sträuben. Es ist eine Metamorphose der Angst vor dem Tod. Aber nur für die Zeit, in der ich schreibe. Die Angst kommt immer wieder.
    profil: Welchen Wunsch haben Sie für Ihr eigenes Sterben?
    Mayröcker: Ich möchte nicht plötzlich sterben. Ich will mich auf diese schreckliche Sache vorbereiten, mich mit dem Tod auseinander setzen können. Und wenn möglich möchte ich zuhause sterben; vielleicht umgeben von ein, zwei Freunden.
    profil: Sie haben einmal gesagt: „200 Jahre wären so ungefähr die Lebenszeit, die ich mir vorstelle.“
    Mayröcker: 200 Jahre mindestens. Meiner Ansicht nach dürfte das Ende überhaupt nicht kommen. Man müsste so lange weiterleben, wie man gerne lebt, und vielleicht kommt dann eines Tages die Stunde, wo man sagt: „Jetzt habe ich genug. Jetzt möchte ich abtreten.“ Aber an und für sich sollte der Mensch so lange leben können, wie er es wünscht.
    profil: Sie hätten kein Problem mit der Vorstellung eines ewigen Lebens auf Erden?
    Mayröcker: Ganz im Gegenteil. Das wäre wunderbar. Dann könnte man es sich wirklich einteilen: fünfzig Jahre für das, fünfzig Jahre für jenes. Ich schiebe ja einiges weg, weil ich mir denke, dass ich es in meinem Alter nicht mehr anfangen kann, weil ich dazu noch zwanzig Jahre leben müsste – und das ist ganz ausgeschlossen.
    profil: Was möchten Sie noch alles tun?
    Mayröcker: Ich entdecke jeden Tag neue Dinge, die mich interessieren und die ich noch näher betrachten möchte: Menschen, Wissensgebiete, Länder. Ich möchte noch zumindest eine Sprache lernen – Französisch. Ich würde gerne nach Südspanien und Südportugal reisen, wo ich noch nie war. Das sind Dinge, die mir immer vorgeschwebt sind, die ich nie in Erfüllung habe gehen lassen. Ich bin noch sehr neugierig. Vor allem aber möchte ich noch sehr viel lesen. Ich habe Rückstände beim Lesen.
    profil: Ob das Leben einen Sinn hat, ist demnach eine Frage, die Sie längst mit Ja beantwortet haben?
    Mayröcker: Der Sinn meines Lebens liegt in meiner Kreativität, die sich Gott sei Dank immer wieder wiederholen lässt, in der Möglichkeit, neue Erfahrungen zu machen und zwischenmenschliche Beziehungen auszubauen.
    profil: Sind Sie gläubig?
    Mayröcker: Ja, aber nicht in einem strengen Sinn.
    profil: Ist das nicht ein Widerspruch: sich als gläubigen Menschen wahrzunehmen und das größte Trostversprechen aller Konfessionen und jeglicher Spiritualität, nämlich die Aussicht einer Existenz nach dem Tod, nicht zu teilen?
    Mayröcker: Ich schwanke einfach nur sehr. Es gibt Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, es könnte sein, dass man doch weiter existiert. Dann aber habe ich wieder ein ganz negatives Gefühl und fürchte, dass es nach dem Tod total aus sein könnte.
    profil: Wie stellen Sie sich ein mögliches Danach vor?
    Mayröcker: Ich würde vor allem hoffen, dass ich Ernst Jandl, meine Mutter, meinen Vater und ein paar liebe Menschen wiedersehe, die gestorben sind. Mein Vater hat so gern gelebt. Anscheinend habe ich das von ihm. Außerdem habe ich noch die ganz verrückte Idee, dass es in einem Leben nach dem Tod möglich sein müsste, dass ich weiter schreiben kann. Es ist eine monströse Vorstellung, sich vom Schreiben verabschieden zu müssen. Das Tod-sein bedeutet eine Abnabelung von dem, was man an Intimität mit sich selbst gehabt hat.
    profil: In Ihrem „Requiem für Ernst Jandl“, das ein halbes Jahr nach dem Tod Ihres „HAND- und HERZGEFÄHRTEN“ im Sommer 2000 erschienen ist, haben Sie sich von Ernst Jandl verabschiedet. Sie schreiben: „Jammervoll ist der Tod, erbärmlich ist der Tod … Zerbrecher und Zerstörer ist der Tod.“ Es ist ein ungeheuer zorniges Buch.
    Mayröcker: Ich war unlängst wieder an seinem Grab und habe mir gedacht: Er liegt da drinnen, und er war ein so hundertprozentig lebendiger Mensch. Es ist entsetzlich, dass nichts mehr in seiner Macht liegt und dass er nichts mehr bestimmen kann.
    profil: Hat sich Ihre Arbeit nach dem Tod Ernst Jandls verändert?
    Mayröcker: Zuerst habe ich mein Bewusstsein ausgeschaltet, weil der Schmerz über seinen Tod so groß war. Nach vier Wochen habe ich mit dem Schreiben des „Requiems“ begonnen. Das hat mich die erste Zeit über Wasser gehalten. Obwohl ich Selbstmord ablehne, war ich nahe daran, Schluss zu machen. Ernst Jandl war sehr krank, und ich habe seinen möglichen Tod jahrelang immer wieder vorweggenommen. Deswegen war es aber auch nicht leichter, als er dann tatsächlich gestorben ist. Eine Sache verfolgt mich ununterbrochen, auch dreieinhalb Jahre nach seinem Tod noch: der Moment, als der Primararzt herausgekommen ist und ganz lapidar gesagt hat: „Ernst Jandl ist gestorben.“ Das war wie ein Hieb.
    profil: In Ihrem neuen Gedichtband „Mein Arbeitstirol“ gibt es ein Gedicht mit dem Titel „wenn ich vor ihm gestorben wäre“. Haben Sie sich oft vorgestellt, vor Ernst Jandl zu sterben?
    Mayröcker: Ich habe immer gehofft, vor ihm sterben zu können, weil ich wusste, dass mich sein Tod vollkommen entwurzeln würde. Das war ja dann auch wirklich der Fall.
    profil: Sie wären dafür freiwillig bereit gewesen zu sterben?
    Mayröcker: Ich habe es halt so gedacht.

    Soweit Friederike Mayröcker. Von solchen Gedanken kann man als Kirchenmaus leben.

    Die Frage ist also, kann man vom Tod so sprechen? Natürlich kann man. Beweis erbracht. Die weiterführende Frage ist eine unter mehreren: Macht es Sinn, so über den Tod zu sprechen? Ja, es macht Sinn. Es ist Beweis meines Denkens und Empfindens. Die nächste Frage trifft hingegen vielleicht bereits den Nerv: An wen richtet sich dieses Sprechen?

    An wen richtet sich dieses Sprechen? Ich glaube, das ist die zentrale Frage und gleichzeitig jene, die weiterführt. Eine Frage, die mich nicht und auch nicht die Mayröcker zum Verstummen bringt. Die Frage kann ich auch umdrehen. Sie zeigt dasselbe Motiv. An wen richtet sich mein Schreiben? Diese Frage ist berechtigt und muß sich jeder Mensch, der lebt, gefallen lassen. An wen richtest Du dich? An wen richtete sich Mozart?

    Bei Mayröcker können wir in Würdigung der Sachlage feststellen, sie richtet sich an die Person ihr gegenüber, an die Redakteure des Profil und an die Leserinnen und Leser des Profil. Sie richtet sich aber auch an sich selbst. Das doch wohl. Der denkende Mensch entspinnt sich selbst. Mittels ihrs Sprechens versichert sie sich ihrer selbst. So wie sie ja sagt: Während des Schreibens „… kann ich mich dann mit der Sprache gegen ihn sträuben. Es ist eine Metamorphose der Angst vor dem Tod. Aber nur für die Zeit, in der ich schreibe.“

    Und dann dürfen wir fragen: Richtet sich ihr Reden auch gegen den Tod? Hört ihr der Tod zu, während sie spricht? Und: Richtet sich ihr Reden an oder sogar gegen Gott? Ist solches Reden als Vorwurf gedacht. Ich werfe doch schlußendlich mein Reden auf jemanden, jemanden, der mich versteht, der mich hört. So wie Hilde Spiel Canetti als „wirkliche Giftspritze“ erlebte, darf man doch annehmen, er hatte immer jemanden im Blick. Wen hat ein bekennender Gottloser im Blick, wen er vom Tod als dem „Todfeind“ spricht? Das ist ein komplexes Feld. Vielleicht ist dieses Reden im eigentlichen nicht Ausdruck der Angst, sondern des „Ich-Redens“. Je weiter ich historisch zurückblicke, umso weniger finde ich Dokumente der Feindschaft gegen den Tod. In mehreren prähispanischen Kulturen Lateinamerikas finden wir den Opfertod von Siegern. Die Sieger des aztekischen Ballonspiel gaben ihr Leben dem Sonnengott hin. Die Selbsthingabe wurde als Triumph verstanden. Dieser Gedanke ist uns – zumindest im populären Diskurs – völlig fremd. Ebenso fremd wie die Kultur des japanischen Seppuku. Der Opfertod – und ein solcher war auch der Kreuzestod des Nazaräners – muß Canetti und Mayröcker schlichtweg absurd erscheinen bzw. erschienen haben. Das ist zumindest die Charakteristik in der Rede Canettis: Er wettert gegen den Glauben, und zwar profund. Mayröcker schwankt, wie sie sagt. Das ist ein zentraler Unterschied. Der andere Unterschied: Elias Canetti ist bereits tot. Er starb knapp 90-jährig. Zur Würdigung seines Anliegens hier der beste Essay, der meiner Meinung nach zu diesem Dichter verfaßt wurde. Er stammt aus der Feder eines Literaturwissenschafters, Harry Timmermann, verfaßt im Jahr 1997.

     

    DIE KLAGE DES GILGAMESCH

     Elias Canettis Herausforderung des Todes
     
     Elias Canetti, der 1905 in Bulgarien geborene, deutsch schreibende Dichter und Essayist spaniolisch-jüdischer Herkunft – er starb nicht lange vor seinem 90. Geburtstag in Zürich – hatte seit seiner Kindheit eine Leidenschaft für das dramatische Rezitieren, besonders das lesend vorgetragene Rollenspiel. Im Zusammenspiel mit der Mutter hat er früh begonnen, sich in poetisch gestaltete Figuren einzuleben, sie sich als geistige Substanz einzuverleiben, lesend immer wieder ein anderer und dadurch erst er selbst zu werden: ein potentiell unbeschränktes Ich, daß sich darin seiner selbst versichert, daß es sich verwandelt. Über seine Jugend in Wien (1913 bis 1916) schreibt Canetti in seiner autobiographischen Schrift „Die gerettete Zunge“: „Das unvergleichlich Wichtigste, das Aufregende und Besondere dieser Zeit waren die Leseabende mit der Mutter und die Gespräche, die sich an jede Lektüre knöpften. Ich kann diese Gespräche nicht mehr im einzelnen wiedergeben, denn ich bestehe zum guten Teil aus ihnen. Wenn es eine geistige Substanz gibt, die man in frühen Jahren empfängt, auf die man sich immer bezieht, von der man nie loskommt, so war es diese. Ich war von blindem Vertrauen zur Mutter erfüllt; die Figuren, über die sie mich befragte, über die sie dann zu mir sprach, sind so sehr zu meiner Welt geworden, daß ich sie nicht mehr auseinander nehmen kann. Alle späteren Einflüsse kann ich in jeder Einzelheit verfolgen. Diese aber bilden eine Einheit von unzerteilbarer Dichte. Seit dieser Zeit, also seit meinem zehnten Lebensjahr, ist es eine Art Glaubenssatz von mir, daß ich aus diesen vielen Personen bestehe, deren ich mir keineswegs bewußt bin. Ich denke, sie bestimmen, was mich an Menschen, denen ich begegne, anzieht oder abstößt. Sie waren das Brot und das Salz der frühen Jahre. Sie sind das eigentliche, das verborgene Leben meines Geistes“ (GZ lo5 f.).

     

    Später erfährt man, was Canettis Mutter – die, wie auch der Vater, am liebsten Burgschauspielerin geworden wäre und ihren Mann in endlosen Theatergesprächen kennen- und liebengelernt hatte – mit dem Sohn Elias las: Shakespeare und Schiller vor allem. Doch hat es seinen Sinn, wenn Canetti diese Namen eher beiläufig erwähnt: nicht um bestimmte dramatische Figuren geht es ihm, die ihm etwa als Vorbild gedient hätten, sondern um den Wechsel der Identifikationen, das Erlernen einer Vielfalt von Figuren. Im dramatischen Rollenspiel und in Gesprächen darüber hat sich für den Jüngling Elias Canetti eine Identitätsbildung vollzogen, die mehr war als die Ausbildung zum funktionstüchtigen Mitglied einer Gesellschaft oder zum selbstbewußten Staatsbürger, mehr auch als die Bildung zu einer harmonisch geschlossenen, einheitlichen Persönlichkeit: es handelte sich um eine spielerische Schulung dessen, was für den Dichter und Philosophen Canetti später das zentrale Anthropologicum werden sollte, der entscheidende Differenzpunkt in der Bestimmung des Menschlichen im Unterschied zum Tier, das höchste Signum der Humanität: das ist die Verwandlungefähigkeit. Canetti schreibt in seinem Hauptwerk „Masse und Macht“: „In der Ausbildung der Verwandlung ist er (der Mensch) erst recht zum Menschen geworden, sie war seine eigentümliche Begabung und Lust.“ (MM 12o f.) Was Canetti für die Entstehungsgeschichte der Menschheit behauptet: daß der Mensch sich durch Verwandlung alle Tiere, die er kannte, gewissermaßen einverleibt habe und dadurch erst zum Menschen geworden sei, das gilt auch für die Lebensgeschichte von Elias Canetti selbst, der allerdings seine Verwandlungsfähigkeit nicht nur an Tieren, sondern an dramatischen und literarischen Figuren; an Menschen, die er kannte; vor allem aber in der Lektüre von Mythen übte. Dabei bildete er sich zum Dichter, den er einmal, in seiner Rede „Der Beruf des Dichters“ von 1976, als einen „Hüter der Verwandlung“ (GW 28-3) bezeichnete. Dies in einem zweifachen Sinne: einem gesellschaftlich-zwischenmenschlichen und einem kulturgeschichtlichen. „In einer Welt, die auf Leistung und Spezialisierung angelegt ist, die nichts als Spitzen sieht, denen man in einer Art von linearer Beschränkung zustrebt, die alle Kraft an die kalte Einsamkeit der Spitzen wendet, das Danebenliegende aber, das Vielfache, das Eigentliche, das sich zu keiner Spitzenhilfe anbietet, mißachtet und verwischt; in einer Welt, die die Verwandlung mehr und mehr verbietet, weil sie dem Allzweck der Produktion entgegenwirkt, die bedenkenlos die Mittel zu ihrer Selbstzerstörung vervielfältigt und gleichzeitig zu ersticken sucht, was an früher erworbenen Qualitäten des Menschen noch vorhanden wäre, das ihr entgegenwirken könnte- in einer solchen Welt, die man als die verblendetste aller Welten bezeichnen möchte, scheint es von geradezu kardinaler Bedeutung, daß es welche gibt, die diese Gabe der Verwandlung ihr zum Trotz weiter üben. Dies, meine ich, wäre die eigentliche Aufgabe der Dichter. Sie sollten, dank einer Gabe, die eine allgemeine war, die jetzt zur Atrophie verurteilt ist, die sie sich aber mit allen Mitteln erhalten müßten, die Zugänge zwischen den Menschen offenhalten. Sie sollten imstande sein, zu jedem zu werden, auch zum Kleinsten, zum Naivsten, zum Ohnmächtigsten. Ihre Lust auf Erfahrung anderer von innen her dürfte nie von den Zwecken bestimmt sein, aus denen unser normales, sozusagen offizielles Leben besteht, sie müßte völlig frei sein von einer Absicht auf Erfolg oder Geltung, eine Leidenschaft für sich, eben die Leidenschaft der Verwandlung. Es wurde ein immer offenes Ohr dazugehören, doch wäre es damit allein nicht getan, denn eine Überzahl der Menschen heute ist des Sprechens kaum mehr mächtig, sie äußern sich in den Phrasen der Zeitungen und öffentlichen Medien und sagen, ohne wirklich dasselbe zu sein, mehr und mehr dasselbe. Nur durch Verwandlung in dem extremen Sinn, in dem das Wort hier gebraucht wird, wäre es möglich zu fühlen, was ein Mensch hinter seinen Worten ist, der wirkliche Bestand dessen, was an Lebendem da ist, wäre auf keine andere Weise zu erfassen. Es ist ein geheimnisvoller, in seiner Natur noch kaum untersuchter Prozeß und doch ist es der einzige wahre Zugang zum anderen Menschen.“ (GW 285 f.)
     Dies ist also der eine Sinn der ‚Verwandlung‘: Aufhebung einer spezialisierenden Arbeitsteilung, die alles Individuelle zu töten droht, bis die Menschen kaum sich mehr ausdrücken in dem, was sie tun und sagen, austauschbar werden in der Schablonenhaftigkeit ihres Daseins, die sie kaum zu sich, noch weniger zu anderen kommen läßt. Lebendigkeit ist für Canetti eins mit der Einzigartigkeit des Individuellen; die Erfahrung des Lebendigen ist ihm mehr als verstehende Einfühlung oder psychologische Empathie: Verwandlung eben, es gibt kein stärkeres Wort für diesen Prozeß wechselseitiger Einverleibung und Vervielfältigung des Individuellen.
     
    Die zweite Forderung an den Dichter als den „Hüter der Verwandlung“ betrifft seine Aufgabe, „sich das literarische Erbe der Menschheit zu eigen (zu) machen, das an Verwandlungen reich ist.“ (GW 283)
     
    Als zwei der wichtigsten Werke der Weltliteratur, die den „eigentlichsten und rätselhaftesten Aspekt des Menschen, die Gabe der Verwandlung nämlich“ darstellen, nennt Canetti zwei „Grundbücher der Antike“: ‚“ein spätes: die Metamorphosen des Ovid, eine beinahe systematische Versammlung aller damals bekannten, mythischen, ‚höheren‘ Verwandlungen, und ein frühes, die Odyssee, in der es besonders um die abenteuerlichen Verwandlungen eines Menschen, eben des Odysseus, ging“ (GW 284).
     
    Und nun kommt Canetti auf den für sein Leben wichtigsten Mythos zu sprechen. In der „Fackel im Ohr“, dem zweiten Band seiner Lebensgeschichte, beschreibt er, wie er auf ihn gestoßen ist. Ein Schauspieler in Frankfurt, Carl Ebert, war der Vermittler.
     „In einer Sonntagsmatinee sollte er ein Werk vorlesen, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Es war älter als die Bibel, ein babylonisches Epos. Ich wußte, daß es bei den Babyloniern eine Sintflut gab, es hieß, daß die Legende von dort in die Bibel gewandert war. Das war alles, was ich zu erwarten imstande war, und dafür alleine wäre ich nie hingegangen, aber es war Carl Ebert, der las, und so bin ich aus Schwärmerei für einen sehr liebenswerten Schauspieler an Gilgamesch geraten, der mein Leben, seinen innersten Sinn, Glauben, Kraft und Erwartung wie nichts anderes bestimmt hat.“ (FO 51)
     Gilganesch: das ist jener König der Doppelstadt Uruk-Kullab in dem zwischen Euphrat und Tigris gelegenen Lande der Sumerer, der um 26oo vor Christus gelebt haben soll; um ihn ranken sich sagenhafte und mythische Erzählungen. Gegen Ende des zweiten vorchristlichen Jahrtausends wurden sie in ihre kanonische Form gebracht, das sogenannte Zwölftafel-Epos, das in einer Fassung des Königs Assurbanibal erhalten ist, der sie um 65o v. Chr. für seine Bibliothek im assyrischen Ninive anfertigen ließ.
     „Herrlich haben die Götter Gilgamesch geschaffen: groß ist sein Wuchs, unbändig seine Kraft. Zu zwei Dritteln ist er Gott, zu einem Drittel Mensch. Despotisch ist seine Herrschaft in Uruk: die Männer stöhnen unter der harten Fron beim Bau der Stadtmauer; bei den Frauen beansprucht er stolz sein Herrscherrecht auf den Beischlaf; er trotzt dem Volke. Das klagt den Göttern und fordert Hilfe; da schaffen sie Enkidu, den gewaltigen Tiermenschen, der frißt mit den Gazellen das Gras, der drängt mit dem Wilde zur Tränke: dieser soll streiten mit Gilgamesch, damit Uruk sich erhole. Eine Tempeldirne lockt Enkidu von den Tieren weg, führt ihn Gilgamesch zu. Die beiden Männer messen ihre Kräfte im Streite, sie versöhnen sich und schließen Freundschaft. Nun ziehen sie gemeinsam gegen den dämonischen König des Zedernwaldes, Humbaba, dessen „Brüllen Sintflut, dessen Rachen Feuer und dessen Hauch der Tod ist“, wie es in dem Epos heißt. Sie fällen die heilige Zeder, überwältigen Humbaba und töten ihn. Sie erlegen den Himmelsstier, den die eifersüchtige Göttin der Liebe, die Gilgamesch zum Manne begehrte, gegen sie senden läßt; doch wird Enkiddu als Strafe für die Tötung Humbabas und des Himelsstiers der Tod angekündigt. Er fällt in eine schwere Krankheit und stirbt, von Gilgmesch heftig beklagt und betrauert.
     
    „Um ihn hab ich Tag und Nacht geweint,
    Ich gab nicht zu, daß man ihn begrübe –
    Ob mein Freund nicht doch aufstünde von meinem Geschrei –
    Sieben Tage und sieben Nächte.
    Bis daß der Wurm sein Gesicht befiel.
    Seit er dahin ist, fand ich das Leben nicht,
    Strich umher wie ein Räuber inmitten der Steppe.“ (FO 51)
     
    Elias Canetti zitiert diese Klage des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu in seiner Autobiographie und schreibt dazu weiter: „Und nun folgt seine Unternehmen gegen den Tod, die Wanderung durch die Finsternisse des Himmelsberges und die Überquerung der Gewässer des Todes zu seinem Ahn Utnapischtim, der von der Sintflut errettet, dem von den Göttern Unsterblichkeit verliehen wurde. Von ihm will er erfahren, wie er zum ewigen Leben gelangt. – Es ist wahr, daß Gilgamesch scheitert und daß er selbst auch stirbt. Aber das bestärkt einen nur im Gefühl von der Notwendigkeit seines Unternehmens.“ (FO 51)

     

     Die Gewißheit des Scheiterns ist kein Argument gegen den Wert, ja die Notwendigkeit eines Kampfes gegen den Tod: dieser gigantische Trotz des Gilgmesch ist es, der Canetti am meisten fasziniert. Dessen Klage und Kampf ist ihm „eine ungeheure Konfrontation mit dem Tod, die einzige, die den modernen Menschen nicht mit dem bitteren Nachgeschmack des Selbstbetrugs entläßt.“ (GdW 284)

     

     In der Aufnahme des Mythologischen in das moderne Bewußtsein geht es Canetti um mehr als die Verwaltung eines kulturellen Erbes, um mehr sogar als die Einübung einer anthropologischen Fähigkeit: der Metamorphose; es geht um eine fundamentale Auseinandersetzung mit etwas, das Canetti wiederholt als den „Feind der Menschheit“ bezeichnet: um den Tod. Daß er nicht nachläßt in der Klage, sich nicht beirren läßt in der Suche nach Unsterblichkeit, daß er sich mit der Tatsache des Todes nicht abfinden, seine Macht nicht anerkennen will: das macht Gilgamesch für Canetti wichtig, zum Vorbild und Geistesverwandten in dieser ihm wichtigsten Frage. Nicht um eine blinde Leugnung der Tatsache des Sterbenmüssens geht es dabei, sondern um die Weigerung, dieser Tatsache einen Sinn zu geben, sich durch religiöse oder metaphysische Tröstungen mit ihr abzufinden, ihr durch eine transzendente Erhöhung den Stachel der „Enormität“ zu nehmen . Religiösen Glauben weist Canetti hier ab, aber auch die sogenannten rationalen Argumente; er sagt einmal, daß er in dieser Frage, der des Todes, unter allen Denkern nur Gegner gefunden habe. Die Mythologie ist deshalb für Canetti das wesentliche Bezugsfeld seiner anthropologischen Anschauungen und poetischen Produktion, weil sie ihre Gestaltenbildung und ihre Handlungen in einem Raum jenseits von rationaler oder religiöser Sinngebung ansiedelt; weil sie Träume der Menschheit bewahrt, ohne sie vernünftig oder theologisch zu rechtfertigen. Über die Bedeutung insbesondere des Gilgamesch-Epos für sein Leben und Werk schreibt Canetti:
     „Die Wirkung eines Mythus habe ich auf diese Weise an mir erfahren: als etwas, das ich im halben Jahrhundert, das seither verflossen ist (seit er im Alter vcn siebzehn Jahren auf Gilgamesch gestoßen ist), auf viele Arten bedacht und in mir hin und her gewendet, aber nicht einmal ernsthaft bezweifelt habe. Als Einheit habe ich aufgenommen , was in mir Einheit geblieben ist. Ich kann daran nicht mäkeln. Die Frage, ob ich eine solche Geschichte glaube, trifft mich nicht, wie soll ich angesichts der eigentlichsten Substanz, aus der ich bestehe, entscheiden, ob ich an sie glaube. Es geht nicht darum, wie ein Papagei zu wiederholen, daß alle Menschen bis heute gestorben sind, es geht nur darum, zu entscheiden, ob man den Tod willig hinnimmt oder sich gegen ihn empört. Ein Recht auf Glanz, Reichtum, Elend und Verzweiflung aller Erfahrung habe ich mir durch die Empörung gegen den Tod erworben. In diesem endlosen Aufstand habe ich gelebt. Und wenn der Schmerz um meine Nächsten, die ich im Lauf der Zeit verlor, nicht geringer war als der des Gilgamesch um seinen Freund Enkidu, so habe ich doch eines, ein einziges vor ihm voraus: daß es mir um das Leben jedes Menschen und nicht nur um das meiner Nächsten geht.“ (FO 11)

     

     Canetti haßt den Tod. Aus diesem Haß bezieht er die Rechtfertigung seiner poetischen Existenz; hier ist das affektive Zentrum seiner dramatischen, erzählerischen, aphoristischen und essayistischen Produktion, und hier liegt der Grund für seinen Stolz, zur Gattung der Menschheit zu gehören, einen Stolz, den er trotz der ihr zugestandenen Schlechtigkeit für sie empfindet. Am Anfang der Geschichte seiner Jugend „Die gerettete Zunge“, schreibt Canetti: „Es gibt wenig Schlechtes, was ich vom Menschen wie der Menschheit nicht zu sagen hätte. Und doch ist mein Stolz auf sie noch inmer so groß, daß ich mir eines wirklich hasse: ihren Feind, den Tod.“ (GZ 11)

     

     Canetti sieht den Sinn seines Lebenswerkes in dem Kampf gegen diesen Feind. Die Faktizität des Todes will er aushalten, ohne der Verführung zu verfallen, ihr einen positiven Sinn abzulocken, ohne ihm, wie er auch sagt, zu schmeicheln. Er ist sich im klaren darüber, daß er dabei gegen ein fundamentales Bedürfnis des Menschen anarbeitet, das sich nach Tröstungen sehnt, das den Tod eher erträgt als die Sinnlosigkeit. Hier ist Canetti unbarmherzig, nicht zu beschwichtigen.
     „Man muß den Menschen fassen, wie er ist, hart und unerlöst. Man darf ihm aber nicht erlauben, sich an der Hoffnung zu vergreifen. Nur aus der schwärzesten Kenntnis darf die Hoffnung fließen, sonst wird sie zum höhnischen Aberglauben und beschleunigt den Untergang, der näher und näher droht“ (PM 2o9), heißt es in den „Aufzeichnungen 1942 bis 1972“, die Canetti betitelt hat „Die Provinz des Menschen“, und ebenfalls dort erklärt er:
     „Immer fragt man dich, was du denn meinst, wenn du den Tod beschimpfst. Man will die billigen Hoffnungen von dir, die in den Religionen bis zum Überdruß abgespult werden. Ich weiß aber nichts. Ich habe nichts darüber zu sagen.Mein Charakter, mein Stolz besteht darin, daß ich dem Tod noch nie geschmeichelt habe. Wie jeder hab ich ihn mir manchmal gewünscht, aber kein Mensch hat je ein Lob des Todes von mir vernommen, keiner kann sagen, daß ich den Nacken vor ihm gebeugt, daß ich ihn anerkannt oder bereinigt habe. Er scheint mir so nichtsnutzig und böse wie je, das Grundübel alles Bestehenden, das Ungelöste und Unverständliche, der Knoten, in dem alles von jeher geschürzt und verfangen ist und den niemand zu zerhauen gewagt hat.“ (PM 143)
     
    Dies ist der Grundwiderspruch Canettis gegen die mephistophelische Ansicht, daß alles, was entsteht, wert sei, zugrunde zu gehen: kein Argument, sondern sein Charakter, keine Ansicht, die zur diskursiven Disposition stünde, sondern ein fundamentaler Affekt und eine Grundhaltung, die sich nicht weiter rechtfertigen, nur behaupten und leben läßt. Man kann Canettis Werk, das aus dieser Haltung entstanden ist, als eine einzige große Klage lesen – und Klage und Widerstand sind ihm eins – als eine Anklage aus der Trauer, die sich niemals abfindet mit dem Verlust von Leben und gar der Überlebens-Notwendigkeit, Leben zu vernichten. Grund der Klage sind Schuld und Scham des Überlebenden.
     „Mit der wachsenden Einsicht, daß wir auf einem Haufen von Toten sitzen, Menschen und Tieren, daß unser Selbstgefühl seine eigentliche Nahrung aus der Summe derer bezieht, die wir überlebt haben, mit dieser rapid um sich greifenden Einsicht wird es auch schwerer möglich, zu einer Lösung zu kommen, derer man sich nicht schämt. Es ist umöglich, sich vom Leben abzuwenden, dessen Wert und Erwartung man immer fühlt. Aber es ist auch unmöglich, nicht vom Tode der anderen Geschöpfe zu leben, deren Wert und Erwartung nicht geringer sind als die unsern.
    Das Glück, sich auf die Ferne zu beziehen, von dem alle überkommmenen Religionen zehren, kann unser Glück nicht mehr sein.Das Jenseits ist in uns: eine schwerwiegende Erkenntnis, aber in uns ist es gefangen. Dies ist die große und unlösbare Zerklüftung des modernen Menschen: Denn in uns ist auch das Massengrab der Geschöpfe.“ (PM 183)
     
    Das ist düster, das Düsterste vielleicht, was je gedacht wurde. Und doch scheint Canetti für sich eine Lösung gefunden zu haben, „deren er sich nicht schämt“: das ist seine Idee der literarischen Unsterblichkeit. Auf dem Wege zu seinem, wie er es nennt, „ganz konkreten und ernsthaften, dem eingestandenen Ziel meines Lebens, die Erlangung der Unsterblichkeit für die Menschen“ (PM 45) – und nicht etwa für sich – stößt Canetti auf die Literatur, die ihm die Möglichkeit bedeutet, individuelle Gestalten als lebendige zu verewigen. Dies ist einmal der Sim seiner Autobiographie: Menschen, die Canetti gekannt hat, die im Laufe seines Lebem in ihn eingegangen sind, werden dort literarisch aufbewahrt für das Gedächtnis der Menschheit. Dies gilt aber auch für den großen Roman „Die Blendung“ und für Canettis Dramen, in denen die grotesk einseitig gezeichneten Figuren trotz ihrer Untergangsverfallenheit für die Vielfalt des Lebendigen stehen. Besonders in Canettis Dramen wird deutlich, daß die Schlechtigkeit der Menschen – und sie werden als abgrundtief böse dargestellt, triebhaft und berechnend, geil und mordgierig, besitzergreifend und habsüchtig – daß ihre ganze Schlechtigkeit den Tod nicht rechtfertigt, dem sie ausgeliefert sind; im Gegenteil: es ist der Tod, der sie so schlecht macht, besonders da er dazu verführt, auf den Tod anderer zu spekulieren.

     

    Canetti hat immer wieder betont, daß man seine Dramen hören müsse: auf den moralischen Gehalt hin gelesen, könnte der Tod als eine gerechte Strafe erscheinen, die die Bösen am Ende erreicht; vorgelesen jedoch, und besonders von Canetti selbst vorgelesen, überwiegt der Eindruck der lebendigen Vielfalt der „akustischen Masken“, wie Canetti seine dramatischen Figuren genannt hat, und ihr Untergang bekommt eine unabweisbare Tragik, erregt Schrecken und Mitleid.
    Deutlich sind, in der Präsentation Canettis, die ‚akustischen Masken‘ hörbar, individuell verlebendigte Gestalten, deren Vielfalt und Prägnanz vor allem eines auszudrücken scheinen: eine unbeirrbare Liebe zu der Einzigartigkeit lebendiger Geschöpfe. Als Canetti die ‚Hochzeit‘ das erstemal vorlas, 1933 in Wien, nannte der expressionistische Schriftsteller Franz Werfel, der Canetti nicht mochte, diesen einen „Tierstimmenimitator“. Mitten in die Vorlesung rief er es hinein; Canetti schreibt dazu im dritten Teil seiner Lebensbeschreibung „Das Augenspiel“: „Er hielt das für einen Schimpf, gröber, rücksichtsloser, störender hätte es gar nicht kommen können, er wollte es mir unmöglich machen, weiterzulesen, aber er hatte die gegenteilige Wirkung, das war es ja genau, was ich vorhatte, jede Figur sollte gegen die andere so klar abgesetzt sein wie ein besonderes Tier und an ihren Stimmen sollte es zu erkennen sein, die Geschiedenheit der Tiere übertrug ich in die Welt der Stimmen, und es traf mich, als ich seine Beschimpfung aufnahm, wie der Blitz, daß er etwas Richtiges erkannt hatte.“ (A 135)
    Als das Drama 1965 in Braunschweig uraufgeführt wurde, führte das zu einer Strafanzeige wegen „Erregung geschlechtlichen Ärgernisses“. Doch bei aller moralischen Schlechtigkeit der dargestellten Figuren sind es doch lebendige Wesen, die Canetti hier gestaltet hat, und die Trauer des Autors um den unvermeidlichen Tod seiner Figuren ist, in seiner Lesung, nicht zu überhören.
     Hier setzt Canetti, als Dichter wie als Interpret, seine Verwandlungsfähigkeit ein, die enorme Plastizität seines stimmlichen Ausdrucks und die genau beobachtete, prägnantee Individualität seiner Gestalten, im Kampf gegen die Macht des Todes, als Klage und Widerstand in der literarischen Anklage gegen den Hauptschuldigen allen menschlichen Übels.
     „Wir müssen böse sein, weil wir wissen, daß wir sterben müssen“ (PM 144), sagt Canetti in den „Aufzeichnungen“ und daß es nur einen Ausweg gebe, eine Möglichkeit, das Leben zu ertragen im Bewußtsein, daß andere sterben müssen, damit wir leben können, die des Dichters und Biographen: „…, indem er seinen Toten sein eigenes Leben leiht, es nie verliert und sie verewigt.“ (PM 211)
     Es ist eine durchaus magische Seite der Erinnerungs- und Dasstellungsarbeit, die Canetti hier in Anspruch nimmt: er glaubt an die Kraft der Schrift, der Literatur, Leben zu bewahren in der Gestaltung, Individualitäten zu retten vor dem Verfall und dem Vergessen. Hier sieht er den Sinn seiner literarischen Werke, vor allem aber seiner Autobiographie: Menschen zu verewigen, mit denen er gelebt hat.
     
    In einem Interview aus dem Jahre 1980 sagt Elias Canetti: „Heute verstehe ich, daß ich mit (meinen) Büchern den Tod herausgefordert habe, meinen eigenen md den der anderen. Die Menschen, die ich liebte, meine Eltern, den Bruder Georg, aber auch jene, die ich nicht mochte, werden noch einmal leben, solange man mich lesen wird. Ich habe eine unsagbare Freude, wenn ich denke, daß sie sich außer mir bewegen, sprechen, leben.“
    Siglen
    GZ: Elias Canetti, Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend. Frankfurt/M 1983 (Fischer Tb)
    MM: Elias Canetti, Masse und Macht. Düsseldorf 1978
    GW: Elias Canetti, Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt/M. 1982 (Fischer Tb)
    FO: Elias Canetti, Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921 – 1931. Frankfurt/M. 1983 (Fischer Tb)
    PM: Elias Canetti, Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942 – 1972. Frankfurt/m. 1981 (Fischer Tb)
    A: Elias Canetti, Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937. München 1985.

    (Ende Zitat)

     

    „Das Glück, sich auf die Ferne zu beziehen, von dem alle Religionen zehren, kann unser Glück nicht mehr sein.“ Das ist der Zentralsatz. Die Ferne. Vielleicht liegt hier der Dreh- und Angelpunkt. Canetti lag an der Ferne. Er wollte unbedingt das Großwerden seiner einzigen Tochter Johanna, die ihm seine Gattin Hera Buschor 1972 geboren hatte, miterleben. Dieser Wunsch wurde ihm erfüllt. Canetti, zum Zeitpunkt der Geburt seiner einzigen Tochter damals bereits ein 67-jähriger, erstmaliger Vater, begleitete seine Tochter 22 Jahre lang, ehe er am 14.August 1994 in Zürich verschied. Die Ferne des eigenen Todes war ihm somit alles. Er starb sechs Jahre nach seiner tragisch vom Krebs dahingerafften, viel jüngeren Gattin. Hera Buschor, ein zartes Wesen durch und durch, war 28 Jahre jünger als ihr berühmter Gatte. Der Mann, der schon 1932 geschrieben hatte: „Wenn du ein Paar siehst, so reisse die beiden auseinander … Zieh ihnen die Haut ab, dass ihre Körper nicht zueinander finden“. Was für eine Brutalität. Warum nur? Was ist das? Ein Mann, der damit prahlte, 39 Frauen gleichzeitig gehabt zu haben, ohne daß die eine von der anderen wußte. Wenn es sich tatsächlich so verhielt, was, um alles in der Welt, war das? Ein Mann, der doch an seinen Taten gemessen werden soll und nicht an seinen Worten, vergeht sich in seiner Londoner Zeit dermaßen am anderen Geschlecht. Grauenerregender Schwindel, dünkt mich, den Nachfahren. Das relativiert doch jedes noch so hehre Wort. Das Alter Canettis, wenn ich es, mit Verlaub, so formulieren darf, war doch eine extreme Konstellation. Er ist bereits 83 und seine Tochter, die bei ihm lebt, 16, als die Gattin und Mutter stirbt. Der Vater bürdet seiner Tochter Johanna ein Erbe auf, das sie unmöglich tragen kann. Die größtmögliche Verstörung, bewirkt von einem schon seit Jahren in größter Zurückgezogenheit lebenden Nobelpreisträger. Genau diese Verstörung formulierte auch Max Frisch (ich glaube, es war in „Montauk“), ein Mann des klaren Blicks, über Canetti, dem er auf der Straße zu begegnen droht und deswegen rechtzeitig die Seite wechselt. Ein verstörender, gefährlicher, durch und durch Fremdartiger, obwohl sie dieselbe Sprache sprechen. Er wüßte nicht, welches Wort er mit diesem Alien wechseln sollte. Jedes Wort erstirbt ihm bereits in der Kehle. Es wäre sinnlos. Frisch wechselt die Straßenseite.

    Die Überlebende, die zurückbleibt, ist eine 22-jährige Tochter, der beide Elternteile weggestorben sind. Was geht in einer solchen jungen Frau vor?

     

     

     

     

  2. Ja, er weinte

    Wenn Sie erlauben, werte Damen und Herren, gehe ich weiterhin auf das Kardinalthema ein, das zwischen Thomas Bernhard und Elias Canetti ausgetragen wurde.

    Canetti war von seiner Physiognomie her eine Bulldogge. Ein kleiner Mann mit großem Kopf. Ich glaube, seine Worte waren streckenweise tatsächlich ganz schön giftig. Auch wenn er die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens in völliger Zurückgezogenheit in Zürich verbrachte, keine Interviews mehr gab und auch keinen Besuch empfing – beinahe Totenstille in seiner Wohnung, wie die Nachbarn berichten, ohne Musik, ohne Fest -, so war er doch in seiner Londoner Zeit eine fixe Größe in der damaligen literarischen Schickeria. Ein Mann, der zu allem und jedem eine fixe Meinung besaß. So hatte es den Anschein. Ein Mann, der über andere richtete. Ein Schreibender mit vielschichtigem Hintergrund, der in erster Instanz auf Noblesse viel hielt, doch im Hintergrund eine multiple Persönlichkeit darstellte.

    Er hatte ideelle Gegner. Einer davon war Max Frisch. Zu ihm schreibt er 1991, dem Todesjahr Frischens: „Daß Max Frisch nicht mehr am Leben ist, will ich nicht glauben. Seine Kunst war die des Zweifels. Ich möchte es einen Zweifel in unablässig kleinen Schritten nennen, im Grunde war es ein Zweifel, der sich gegen das Erzählen, gegen sich selbst also, wandte. Da er der Gegenstand dieses Erzählens war, konnte er es so einrichten, daß sein Zweifel immer wach blieb. Man empfand ihn als das Urbild einer ganz und gar unheroischen, aber eindringlichen Form von Wahhaftigkeit. Ich wünschte, ich könnte den Zweifel, in dem er ein Meister war, gegen den letzten Punkt seines Lebens wenden, seinen Tod.“

    In sein Tagebuch notiert er dazu wenige Tage später: „Ich habe also etwas über Max Frisch gesagt und muß mich dafür zur Rechenschaft ziehen. Ich habe nichts gesagt, was ich nicht meine. Er bestand aus den kleinen Zweifeln. Darin war er wirklich ein Meister. Daß er mir als Schriftsteller nichts bedeutet hat, überhaupt nichts, war nicht wichtig, denn viele, zu meiner Verunderung, haben ihn gebraucht. Aber ich habe auch gesagt, daß ich an seinen Tod nicht glauben will und daß ich wünschte, ich könnte seine Zweifel gegen seinen Tod wenden. Das war wie Trauer um ihn. Es war Trauer. Wir kannten einander ganz gut und haben uns mehr als ein Dutzend Jahre nicht mehr gesehen.. Ich mochte ihn nie sehr. Wir spotteten viel über ihn, Hera und ich. Hera glaubte mir nie, daß ich ihn ernstnahm. Es ist wahr, ich nahm ihn – sehr im Gegensatz zu Dürrenmatt – nie wirklich ernst. Aber er gab sich große Mühe um mich, ohne daß ich ihm viel bedeutete. Die äußere Entfremdung begann, als er mir den „Holozän“ schickte, mit pompöser Widmung. Von diesem Buch war ich angewidert. Es war wie ein Thomas Bernhard, aber errechnet. Ich dankte dafür nicht. Es wäre eine arge Unanständigkeit gewesen, über dieses Machwerk irgendetwas zu sagen. Er hörte nichts von mir. Wir begegneten einander nicht mehr durch Zufall. Dann kam der Nobelpreis. Ich hatte ihn nie erwartet. Er wartete darauf, – soll man sagen: seit Jahrzehnten. Er hat es mir nie verziehen. Er wartete darauf weiter, neun volle Jahre. Er hatte eine sehr kleinliche Art, sich große Dinge zu wünschen.. Er schrieb mir kein Wort dazu und vergab sich damit viel. Ich bekam von anderen zu hören, wie sehr er mir den Preis grollte. Mit jedem Jahr der Enttäuschung steigerte sich sein Groll. Er fand kein Wort für Hera, die er gut kannte, kein Wort, als sie starb. Das schien mir der Gipfel der Kleinlichkeit, und dafür haßte ich ihn. Er wird es gespürt haben, weil er wohl wußte, was der Tod für mich bedeutet. Dann hörte ich vor einem halben Jahr, daß er dieselbe entsetzliche Krankheit habe. Von diesem Augenblick an spürt ich so etwas wie Liebe für ihn. Ich hätte ihn gern gesehen und ihn noch davon überzeugt, daß der „Preis“ überhaupt nichts bedeute. Nur wenn man ihn nicht habe, scheine er wünschbar, sonst sei er eine Art von Aussatz, mehr noch als anderer Ruhm. Er hat sich bestimmt nicht gewünscht, mich wiederzusehen. Wahrscheinlich hat er mir bis zum Schluß für diese gleiche Sache gegrollt.“ (Das Buch gegen den Tod, 2014, 285f.)

    Das, wie ich finde, ist eine typische Passage für den Denk- und Schreibstil Canettis.

    Sein ideeller Gegner war jedoch Thomas Bernhard, auch wenn es zwischen den beiden nie einen öffentlichen Disput gab. Die beiden kannten einander persönlich. Canetti hatte Bernhard auf dessen Vierkanter in Ohlsdorf besucht. Sie waren gemeinsam in einem Wirtshaus Essen und danach Spazieren gegangen. Canetti wußte in etwa, wie Bernhard hauste. Es ist bezeichnend, wie Canetti am 3.März 1976 über Bernhard schreibt. Es ist ein Brief, den er dann, aus welchen (sicherlich bezeichnenden) Überlegungen auch immer, nicht absendet, sondern in seine Aufzeichnungen überträgt: „Lieber Thomas Bernhard, Ich habe Sie hart kritisiert und Sie schlagen nun besinnungslos um sich. Sie wissen sehr wohl, wie ernst ich Ihre Sache genommen habe, noch vor der „Verstörung“ war ich, ich habe es Ihnen selbst gesagt, stark beeindruckt. Dann bekam ich von Ihnen folgende Äußerung zu Gesicht: „Der Tod ist das Beste, was wir haben.“ Das empfand ich von einem, der dem Tod schon nahe war und ihm entkommen ist, als einen abscheulichen Zynismus. Niemand weiß besser als Sie, wie sehr wir vom Tod verseucht sind. Daß Sie sich noch zu seinem Anwalt machen, hat mich mit Mißtrauen gegen Ihr Werk erfüllt. Ich bin überzeugt davon, daß es eben durch diese Gesinnung schwächer wird, und wollte Ihnen das öffentlich sagen. Sie reagieren immer blindwütig auf Kritik. Da ich aber kein Zeitungsschmierer bin, dachte ich, daß ein harter Stoß von mir, den Sie in Wirklichkeit ganz anders sehen als in Ihrer Schimpftirade, Sie zur Besinnung bringen könnte. Sie haben niemand, der Ihnen die Wahrheit sagt, ist sie Ihnen gleichgültig geworden?“

    Sind wir vom Tod verseucht? Man muß diese Frage in Ruhe bedenken. Und wie, dem gegenüber, meinte Bernhard seinen berühmten Ausspruch? Schließlich sind dies kundgetane Meinungen, Ansichten, Lebenshaltungen. Die eine wie die andere. Am Tod der beiden Kontrahenten ändert dies nichts. Hier und jetzt geht es mir um eine Meditation. In der Meditation lasse ich die Differenzen sprechen, denn die beiden Dichter unterschieden sich in vielerlei Hinsicht gewaltig:

    Bernhard war ein Naturbursch. Er hatte Anlagen zum Bauern. Er fuhr Traktor. Er lebte zölibatär und alleine. Ein Eremit. Er war menschenscheu. Er verlor früh seine Eltern. Er war von jung auf lungenkrank. Das eine sind Taten, das andere Dispositionen und Verhängnisse. Man kann und darf Bernhard an seinen Taten messen. Insofern ist er mir Maßstab und Vorbild. Nicht sosehr in dem, was er in Interviews von sich gegeben hat, auch wenn diese ganz und gar nicht verlogen, ja nicht einmal selbstdarstellerisch waren. Man drängte ihn zu gewissen Szenen, und er sagte halt ja. Er war ganz und gar kein Misanthrop. Er war menschenscheu, das ja. Doch das ist nicht dasselbe. Bernhard ging auch nicht gezielt gegen Menschen vor. Er ging gegen sein Heimatland vor. Die üblen Zustände in ihm. Das tue ich auch. Das ist etwas ganz anderes.

    Der Tod ist kein Virus. Wie können wir also von ihm verseucht sein? Der Tod ist nicht radioaktive Strahlung, die wir Erfinder virulent gemacht haben. Was ist er denn wirklich? „Das kann keiner sagen“, sagt Don Juan Matus. Wie kann der Tod ein Feind sein, wenn es nichts und niemanden auf dieser Erde gibt, der oder das überlebt. Niemand überlebt, auch nicht der Stärkste, nicht der Fitteste und nicht die Päpste und nicht Elisabeth II. oder Prinz Philipp von Kent. Niemand überlebt. Wie also kann der Tod ein Feind sein? Bilden wir uns vielleicht gar ein, bereits zu Lebzeiten, nur weil wir leben, Anspruch auf Unsterblichkeit zu genießen? Ist denn dies nicht grenzenloser Hochmut? Auflehnung gegen das elementare Prinzip schlechthin? Eine lästernde Auflehnung gemäß dem Prinzip, alles, wozu ich fähig bin, darf ich im Eigentlichen umsetzen, denn nach meinem Tod gibt es kein Gericht. Das ist dieselbe Haltung jener Gewaltverbrecher, die in den USA zum Tode verurteilt werden. Die Verurteilten selbst fordern, bereits am nächsten Tag exekutiert zu werden. Sie wollen fort. Fort von ihrem eigenen Leben, einem durch und durch suspekten, obsoleten, sinnlos gewordenen Leben.

    Vielleicht war Canetti ähnlich tiefgreifend zerrissen. Ich halte dies für sehr gut möglich. Ein notorischer Schürzenjäger in England, der 32 Beziehnungen gleichzeitig unterhält, ist schlimmer als jeder Neapolitaner. Er ist praktisch gezwungen, notorisch zu lügen, um seine Machenschaften unerkannt aufrechtzuhalten. Im Jahr 1986 findet sich ein Eintrag: „Jesus und seine Jünger gingen an einem toten Hund vorbei. Die Jünger sagten: „Er stinkt so widerwärtig!“ Aber Jesus sagte: Seine Zähne sind so weiß!“ Auf diese Weise ermahnte er sie, nichts Schlechtes von jemandem zu reden.“ Darüber hinaus zitiert Canetti den Nazaräner, soweit ich es überblicke, fast nie. Wenn ich jedoch den Tod als Todfeind mein Leben lang bekämpfe, muß ich mir, der korrekten Vollständigkeit halber, die wahren Prätendenten der monotheistischen Religionen und deren überlieferte Worte vor Augen halten. Und wüßte auch gar keinen anderen Ansatz. Ich kann doch nicht mit einem Handstreich den Tod vom Tisch wischen, nur weil ich ihn hasse. Ich kann den Tod nicht außer Kraft setzen. Es stimmt, das Sterben der Geliebten – und jeder Mensch hat Geliebte und wird geliebt oder wurde geliebt – ist ein Drama. Es kostet unser ganzes Stehvermögen, den Schlag des Todes auszuhalten und nicht unter ihm zusammenzubrechen. Ich kann den Tod nicht außer Kraft setzen. Selbst Christus konnte dies nicht. Wir gehen durch den Tod hindurch, zum ewigen Leben. Das nennt man Glaube. „Glücklich, wer glauben kann“, sagt das Sprichwort. Ja, so ist es. Doch deshalb wird nicht der Glaube obsolet. Was immer schon obsolet war, und noch viel mehr als obsolet, vielmehr verwerflich, grausam und zerstörerisch wirkt, das ist das tägliche, weltweite Brechen des fünften mosaischen Gebotes. „Du sollst nicht töten!“ Das ist doch der Angelpunkt. Der Skandal ist nicht der Tod. Das allergrößte Verbrechen, dessen sich der Mensch schuldig macht, ist das Morden. Denn jeder Mörder instrumentalisert den Tod zu seinem Verbündeten. Jeder Mörder tötet auf ewigen Tod hin. Nur hoffnungslos Irre, und deren gibt es genug, argumentieren, der Ermordete habe es so gewollt. Der Tod ist keine Majestät, doch er ist gottgewollt. Die Strafe auf den Sündenfall hin. So sagt es die Bibel mit der Erzählung von der Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies. Der Tod ist ein Schlag, doch er ist kein endgültiger. „Wer an mich glaubt, wird leben in Ewigkeit.“ Selbst Elias Canetti konnte dieses Wort nicht außer Kraft setzen. Thomas Bernhard hingegen weinte derweilen seine ungeweinten Tränen. Vielleicht weinte Bernhard, wenn er alleine in seinem Vierkanthof saß. Wer weiß es? Ich finde das die entscheidende, die für mich maßgebliche Differenz. Canetti hatte den scharfen, den sezierenden Blick. Bernhard war immer mild. Canetti ist mir, warum soll ich es nicht gestehen, in seinem scharfen Blicken sogar unheimlich. Ein Umschneider. Alles, was er umschneidet, wächst nicht mehr nach. Mir fehlt das Quentchen Barmherzigkeit. Bei Bernhard gingen Bettler, Obdachlose und vom Gefängnis Entlassene aus und ein. Canetti wohnte derweilen im noblen Zürich unter noblen Eidgenossen. Thomas Bernhard wurde fast auf den Tag genau 58 Jahre alt. Dann raffte ihn höhere Gewalt dahin. Canetti wurde erst mit 67 zum ersten und einzigen Mal Vater. Ich finde, das sagt alles. Um Bernhard trauerten viele. Über Jahre hinweg legten unbekannte Frauen Blumen auf seinem Grab in Grinzing nieder. Frauen, die ihn als Mensch schätzten, ohne daß sie ihm direkt zu Lebzeiten begegnet wären. Sogar Claus Peymann „weint“ um ihn.

    Eines Tages sind wir da. Hier. An einem Ort. Wir wissen ganz und gar nicht, was dieser Ort ist, noch wo dieser Ort sich findet. Wer vermag zu sagen, woher wir kommen? „Wir kommen aus der Dunkelheit und kehren in die Dunkelheit zurück“, sagen Sehende. Canetti war kein Sehender. Er vermochte scharf zu sehen, doch die Scharfgesichtigen müssen darauf achten, das Wahrgenommene nicht zu versengen. Und das Zarte, das Geheimnisvolle zeigt sich nur dem unschuldigen Blick von selbst. Ich lasse etwas zur Entfaltung kommen, weil ich es verstehe, ihm Liebe, Zärtlichkeit, Verständnis und Nahrung schenke. Das ist die berühmte Achtsamkeit von einem, der sich selbst nicht überhöht. Von einem, der wußte, er ist bereits verloren. „Ich bin bereits tot.“ Das ist ein Kraftakt sondergleichen.

    Was hingegen sollte der Hunger, der Durst von jemandem sein, der die Unsterblichkeit, die er sich sosehr wünscht, bereits in Händen hält? Was denn, in Gottes Namen, sollte überhaupt der Preis der Unsterblichkeit zu Lebzeiten sein? Gar unendliche Langweile? Das Leben eines Schwarzen Loches, das erst dann verdunsten wird, wenn das Universum bereits längst zu existieren aufgehört hat? Was hat das mit uns, hier und jetzt, zu tun? Was hat Unsterblichkeit mit unserem Leben zu tun? Diese Frage, mit Verlaub, kann doch niemals ein Sterblicher beantworten. Selbst der Pole aus Wadowice verstand diese Frage theologisch, doch niemals anthropologisch. Denn die einzige Antwort, die man, die ich angesichts dieser historischen Polemik, die Canetti gegenüber Bernhard so wie gegenüber jedem anderen, von dem er meinte, er widerspreche ihm, anbringen zu müssen vermeinte, einwerfen kann (was heißt hier überhaupt „einwerfen“? „Erinnern“ kann!), ist das christliche Heilsversprechen, somit die ultimative Zentralsache des Glaubens schlechthin. Die Befreiung vom „Stachel des ewigen Todes“.

    Die Tatsache, daß Canetti nicht wirklich auf diesen Zentralsatz des Glaubens einging, zeigt meines Erachtens, daß er vor diesem Bekenntnis, wie er es denn mit dem Glauben zuinnerst hält, im Unterschied zu Friederike Mayröcker, die zugibt, im Glauben zu schwanken, zurückschreckte. Von seiner Biographie her verstehe ich heute, warum. Denn es gibt immer ein „Warum“. Am Ende beantwortet sich immer alles. Dem sogenannten Ende. Ich würde sagen, im Angesicht der Wahrheit.

     

  3. Das ist die Wiese Zittergras

    und das der Weg Lebwohl

    Christine Lavant (*4.7.1915, +7.6.1973)

     

    Was für ein zartes Mädchen. Was für ein von Beginn an immer wieder mit Krankheiten geschlagenes Mädchen. Ein Kind aus dem Lavanttal. Ein Kind, dem von den Mächten von Anfang an Demut auferlegt wurde. Ein Kind, das sich nicht wehren wollte und auch nicht wehren konnte. Ein Kind in Armut, in bitterer Armut. Ein verlassenes Kind, dem alle wegsterben, ehe es ihnen nachfolgt. Ein durch und durch zartes Gewächs, feinfühlig bis in das letzte Nervenende. Eine Heilige, verkannt, aufgegeben. Eine Heilige der Landstraße, das weite Strecken wandert. Ein Mädchen des Mondes. Ein Mädchen des Weggeblasenseins, des jedermaligen, sofortigen Fortscheiden-Müssens und Sich-Ergebens, die Demut personifiziert, die menschliche Gestalt schlechthin, das Wesen der Gottergebenheit, der Ergebenheit an die Allmacht, die alles nimmt, was sie je gegeben hat, nach gestundeter Zeit, wie später ihre Nachfolgerin, die ebensolche Klagenfurterin, Frau Bachmann, in die Fußstapfen dieses ewigen Kindes tretend, formulieren sollte und mußte. Frau Bachmann, eine Antilope erstklassiger Ausmaße, hinter dem Kind, das Kind bleiben sollte, zarte Frau, Stickerin, Handarbeiterin, einem Wesen, das nie den Ausweg sah, den es auch nicht gab, denn es gibt keine Flucht vor Gott, nein, nicht vor ihm, das schon gar nicht, und auch nicht von allen Gestirnen, die er an den Himmel gehängt hat für unser Auge, unerreicht, unerreichbar.

    Christine Lavant, die Verkörperung des Ernstes schlechthin. Das Sterben war ihr ein Hauch. Sie versank in dessen Wahrnehmung. Sie vernahm den Tod von ihrer ersten Zeit, ihren ersten Jahren an. Und sie ging mit ihm, ergeben, das kleine Mädchen, auf der Landstraße.

    Es ist kein Wunder, daß die beiden größten Dichterinnen, Frauen, die Österreich hervorbrachte, ebenso wie der Unbescholtene, der Herr mit Initialen P.H., allesamt Kärntner waren. Die Menschen des Grenzlandes. Die Lavant wurde nur 58 Jahre alt, so wie mein geliebter Thomas Bernhard. Wen die Götter lieben, den holen sie früh wieder zu sich. Nur allzu gerne hätte ich diese Ausnahmeerscheinung kennengelernt. Ich lernte sie 1977 kennen, vier Jahre nach ihrem Tod, so, als hätte sie auf mich gewartet, in einer Buchhandlung in Völkermarkt, vier Jahre nach ihrem Tod also. Vielleicht flog mich ihr Geist an. Ich sehe dieses Kind und achte es mehr als mein Leben. Jedes ihrer Gedichte fiel ganz tief. Tiefer als irgend etwas sonst, sogar tiefer als die Worte des Herrn. Sie sprach in Ansehung des Mondes, der wogenden Ähren, des raschelnden Laubes. In Ansehung der ab Juni 1940 bereits gemordeten Kinder der Kärntner Faschisten. Sie war sich selbst bereits zu Lebzeiten enthoben, und nie, wahrlich nie, ein Laut des Klagens. Sie wäre vielleicht nie auf den Glockner gestiegen. Hätte es gar nicht zuwege gebracht. Ich jedoch fliege sie mit dem Alpinhubschrauber dort hinauf, als Gipfelkreuz, mit ausgebreiteten Armen, der Zeit ein für allemal und unwiederbringlich enthoben, unser aller Gipfelkreuz, auf jenen Gipfel, der Österreich ist, denn sie, als Dienerin, die ihren Auftrag erfüllte, wird unser aller Fürsprecherin zum Firmament hinauf und darüber hinaus sein, so wie die geheiligte Jungfrau, die sie, die Kinderlose, irgendwie immer war. Wenn ich auch nur den Hauch von Feinfühligkeit lernen sollte, dann an ihrem Beispiel, und in Dankbarkeit an jenen Freund, dessentwegen ich damals nach Völkermarkt hinunterfuhr, dem vaterlosen Freund, dem unvergessenen Josef, dessen Blick die Dunkelheit durchdrang, und dessen Schwester mich damals, in einem Anflug Kärntner Hellsichtigkeit, dazu ermutigte, den Stadtplatz einmal zu erkunden. Und so trat ich ein in jene Buchhandlung, in deren Schatten mich die Lavant erwartete. Ich schlug nur eine Seite auf und war gebannt. Und das ist so geblieben, 12.000 Klometer westwärts, 40 Jahre später. Die Ewigkeit kennt weder Zeit noch Raum. Nur Seelen. Solche, die IHM ganz nahe stehen. Und dem/der Lesenden. Amen. Vergelt’s Gott, Christine Lavant.

     

  4. Das weite Land der Würde

    Karl May (*25.2.1842, + 30.3.1912)

     

    Ein Bekenntnis

     

    „Ich lese Karl May seit meiner Jugend. Dann stieß ich auf die Bibliothek meines Cousins Fritz in Salzburg. In ihr standen alle Bände. Er borgte mir ein paar zum Lesen. Nach einigen weiteren Wiederholungen des Ausborgens – der Fritz war da sehr großzügig – schaffte ich mir das Gesamtwerk an. Gesamtwerk ist übertrieben. Die Reiseberichte. Ich habe sie mein ganzes Leben lang gelesen. Sie gaben mir die Erholung und Freude, die ich suchte. Die Mutsch wußte, ich bin in einem neuen Band, also hat sie Ruhe von mir. Sie las dann in ihrer Gebetssammlung oder betete den Rosenkranz oder hörte „Radio Maria“. Heute bin ich im Sechsundachtzigsten. Die Bücher sind meine Schatzkammer. Karl May selbst war eine interessante Persönlichkeit. Vielschichtig. Ein seltsamer Zug zur Hochstapelei. Mehrmalige Gefängniseinsitzungen, einmal sogar vier geschlagene Jahre. Damals, unter Wilhelm, war das Gesetz noch sehr penibel in Deutschland. Welche Phantasie. Ich folge ihm gerne, denn zuvorderst schreibt Karl May von Ehre und Gerechtigkeitssinn. Mit den Büchern Karl Mays kann man ein Leben verbringen und lernen, einen geraden Weg zu gehen. Das ist seltsam. Er selbst saß wegen Landstreicherei und kleiner Betrügereien im Kotter, doch in seiner Phantasie lebte er die Freiheit schlechthin, die Freiheit der Prärie. Wenn ich einen seiner Bände aufschlage, bin ich sofort in dieser Welt, die auch in mir selbst entstanden oder besser: gewachsen ist. Eine reine Welt. Auch wenn Winnetou stirbt, seine Gestalt stirbt nicht. Sie transformiert sich. Winnetou taucht in Ägypten auf. Old Shatterhand wird Kara Ben Nemsi. Vom Wilden Westen reisen sie in den Orient. Die ganze Welt steht ihnen offen. Karl May reiste nach Indonesien. Dort ist er Ehrenbürger. Eine völlig verrückte Horuck-Aktion. Er wurde natürlich seekrank, Landpommerantsche, die er zeitlebens war. May war ja nirgendwo. Er war ein Stubenhocker. Mußte er auch sein, bei dieser Schreibproduktion.

    Der May war ein Humanist, ein verkanntes Genie. Vordergründig ein Eigenbrötler, ein Gockel, ein Asozialer, aber das trifft es alles nicht. Er war ganz zuvorderst ein Idealist und wollte als solcher die Welt verbessern. Ja, tatsächlich. Das wollte er. An seiner Wirkung zeigt sich, wer mit ihm gezogen ist. Die dummen Amerikaner sowieso nicht, denn diesem Volk, dem bereits mein Vater nach dem Krieg nicht traute, sind alle anderen Völker suspekt, die es mit den Indianern halten. Der Mord an den Indianern war ein noch größeres Verbrechen als die Hinmetzelung der Juden, denn er geschah früher, erfaßte den ganzen Kontinent und dauerte 200 Jahre lang. Und es war eine Kette gebrochener Verträge. Der May wurde von einem Geist getrieben, dem Geist der Vergeltung. Ich glaube, alle Indianer haben sich hinter ihm versammelt. Und weil wir sein Werk lesen, haben sie sich auch hinter uns versammelt, den Deutschen, den Schweizern, den Österreichern, den Holländern. Alle Osteuropäer lesen Karl May. Die Slawen sind eben stolz. Die Snobs in Frankreich und in England haben von diesem Mann noch nie etwas gehört, dabei ist er der meistübersetzte Deutsche. Das alleine sagt schon alles. Das ist das Gesicht der Ignoranz. Snobs und Reiche wollen mit armen Naturburschen nichts zu tun haben. Ich bin weder das eine noch das andere.

    Der May war ein Idealist. Er wollte ganz Europa reformieren. Er wußte, wie es um Europa bestellt war. Er kannte die Kriegslüsternheit hinter der Monarchie, und vor allem kannte er die Ungerechtigkeit. Der May war ein Naturbursch, das kannst du mir glauben. Als Landstreicher wußte er im Wald zu überleben. Er wollte zurück zur Natur. Der May lehnte die Technik ab. Ich glaube, auf seiner Fahrt nach Indonesien wurde er zu einem Häufchen Elend. Aber immerhin sah er etwas von der Welt. Der May war ein Naturmystiker. Du kannst es mir glauben. An der Einfachheit seiner Beschreibungen kannst du es bereits ersehen. Die heile Natur. Der May bewegte sich im Paradies. Das war sein Schutz. Er bewegte sich unter edlen Menschen. Der edle Indianer. Der größte Pädagoge, den Deutschland je hervorgebracht hat. Als Pädagoge zeigt er den Menschen, wie er sein sollte, den naturverbundenen Menschen. Lebe deine Natur! Das sagt uns Karl May. Deshalb diese kleinen Betrügereien. Er war der typische Laib-Brot-Dieb, als er hungerte. Und natürlich wurmte ihn sein ganzes Leben lang diese nicht kleinzuhaltende Frage: „Wo soll das alles hinführen?“

    Der May wußte genau, wo alles endet. Aber er wußte auch, was Engel sind. Der May, du kannst es mir glauben, glaubte an das Leben nach dem Tod. An die „ewigen Jagdgründe“. Das war kein leeres Gerede. May glaubte an den großen Manitou. Und weil er vom großen Manitou schrieb und sprach, war er der Volksbildner schlechthin. Volk, erhebe dich! Auf in die bessren Zeiten! So feuerte er die Menschen seiner Zeit an, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg. Das sieht ein Blinder: Da der May, da der Weltkrieg, der Teufel. Der May war von Engeln umgeben. Die beschützten ihn gegen Satan. Der May war ein Steher. Er wußte um Satan. Er schrieb drei Bände, „Satan und Ischariot Eins, Zwei und Drei“. Das Böse, wie es in Judas einfährt. Judas, der Apostel des Herrn, vom Herrn auserwählt. Satan kreist herum, wie eine Störfliege. Dann sitzt er auf, ausgerechnet bei Judas. Warum gerade bei ihm? Solche Fragen stellte sich May. Der May redete fortwährend mit Gott. Das tat er, indem er sich in Winnetou und Old Shatterhand hineinversetzte. Der Shurehand war ein anderer, und Kara Ben Nemsi wieder in anderer. Doch die Wildwest-Bände handeln vom Großen Manitou. Die Inka-Erzählung war eine Frage nach dem Sonnengott. Aber das Spätwerk war eindeutig messianisch. Dazu gehören der Silberne Löwe Drei und Vier, Friede auf Erden und Winnetou Vier. Messianisch. Der May war sich dafür nicht zu blöd. Ich mag ihn. Er hat uns alle unermeßlich beschenkt. Er hat mir sogar etwas die Furcht vor dem Sterben genommen.  Er hat mir den indianischen Edelmut vermittelt. Ich weiß heute, ja, der Tod ist das Böse. Das Böse ist nicht gottgewollt. Das Böse wurde aus der Freiheit geboren, aus dem Nein-Sagen. Selbst der Tod ist nicht gottgewollt. Nein, ist er nicht. Gott ließ den Tod zu, doch mit einem Heilsversprechen. Frag den Bernhard in Wilhering. Das war von Anfang an so. Der liebe Gott zerknüllt die Schöpfung nicht wie ein wertloses Stück Papier, auf dem ein wertloser Text steht, der nicht zu veröffentlichen ist. Ein nichtssagender Liebesbrief eines Schwärmers. Der Tod ist das Böse, doch das Böse hat nicht das letzte Wort. Das ist der ganz große Irrtum. Am Sterben von Winnetou kann man dies ersehen. Winnetou stirbt den Heroentod, um seinen Freund aus Alemanien vor der Kugel Santers zu schützen. Er gibt sein Leben für seinen Blutsbruder. Das kann er tun, weil er weiß, es gibt dafür einen Lohn. Den Lohn im Jenseits, den Lohn des Wagemutes, den Lohn der Liebe. Winnetou ist wie Christus. Jeder Heros ist wie Christus. Er gibt sein Leben für die gesamte Menschheit. Doch manche spucken ihm bis zuletzt ins Gesicht. Das eben sind die Bösen, die sich an seinem Sterben, seiner Agonie, laben. Manche Priester habe ich so sterben gesehen. Noch auf ihrer Totenbahre wurden sie angespuckt. Der May wußte das wie kein zweiter, Landstreicher, der er war. Sie spucken dich an und werfen dich in den Kotter. Keiner erbarmt sich deiner, zieht dir das Gewand ab, wäscht dich und gibt dir trockenes neues Gewand. Aber der May, auch er, wird seinen Lohn erhalten. Ich werde mit einem seiner Bände auf meinem Schoß sterben. Wenn’s der Herr so will. Ansonsten, so wie der Fred, im Schlaf.“ (OMR Dr.Karl H.)

    Amen. Vergelt’s Gott.

     

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