Die Mutter meiner Muttersprache
Sie kommt regelmäßig wieder. Ich ahnte es. Diese Frau war, genau besehen, zusehr beeindruckend. Sie hinterließ ihre bekömmlichen Spuren, zum Glück. Jetzt beginnt die Erinnerung zu rufen. Heute, an einem verrückten Mittwoch, dem 17.April 2013, hier meine Danksagung an die unvergessene Deutschlehrerin, Frau Mag.Helga Aigelsreiter, deren Unterricht ich von 1973 bis 1976 genießen durfte. Die geschätzten Leser des Forums bitte ich um mildes Verständnis. Vielleicht wird dieser Dank zu einem Ausdruck stellvertretender Wertschätzung für alle Lehrerinnen, die sich gewissenhaft die Mühe geben, ihre Schülerinnen und Schüler in deren, unserer Muttersprache zu unterrichten. Nichts wertvoller als das.
Frau Aigelsreiter war eine stämmige, muskulöse Dame. Mit ihrem Pagenkopf, den sie nie änderte, hätte sie vielleicht burschikos gewirkt, wäre da nicht ihre klare, stets sichere und in der Rückhand bei Bedarf ohne weiteres autoritäre Stimme gewesen. Sie war kein Spaßvogel, sondern eine prinzipienbewußte Linienvorgeberin. Sie ging systematisch, selbstbewußt und gefaßt vor, mehr als jede andere Lehrperson, und in der ersten Stunde der fünften Schulstufe steckte sie das Feld ab. „Sie sind jetzt in der Oberstufe, meine Herren (wir waren ausschließlich Burschen in der Klasse, bis auf zwei Mädchen, die uns in diesem Jahr noch begleiten und dann, wohin auch immer, ausscheren sollten), also haben Sie Anspruch, formell mit „Sie“ angesprochen zu werden. Sie dürfen sich entscheiden und ich werde jetzt jeden einzeln durchgehen.“ Alle entschieden sich für das „Sie“. Ich sehe noch meinen Dorffreund Erwin Schmidt, der gerade verspätet und zu meinem allergrößten Erstaunen von einem Gymnasium in einer Stadt ganz woanders hereingetrödelt gekommen war, und der dann nur mehr ein Jahr leben sollte, bevor er bei einem nächtlichen Autounfall ums Leben kam. Erwin, 16 Jahre jung, steht also auf, als einziger, grinst sie frech an (diese Frechheit war sein Markenzeichen; nie mehr wieder sollte ich einen Menschen kennenlernen, der sich gegenüber Autoritäten dermaßen unbeeindruckt zeigte. Er hatte immer dieses nicht zu unterdrückende Grinsen im Mundwinkel, perfekt koordiniert mit den grinsenden Augen. Und es war ein Grinsen. Nicht das eines Schelms, nicht das eines Niederträchtigen. Es war einfach so, daß diese Generallinie, die er fuhr, nur eins ausdrückte: „Ihr merkt nicht, daß ihr auch einmal jung ward. Ihr glaubt, ihr habt ein Privileg, weil ihr erwachsen seid. Ihr nehmt euch so ungeheuer wichtig und meint, ihr seid gescheit. Und eines, ihr gesteht nicht offen ein, daß jedermann das Recht hat, traurig zu sein.“ Denn er war ohne Vater groß geworden. Ja, Erwin Schmidt spürte es im Geiste, daß er nur 17 Jahr alt werden sollte. Und nach seinem Tod schwiegen alle betroffen.) und antwortet: „Sie, bitte, Frau Professor, wenn Sie erlauben.“ „Kein Problem, Schmidt, das ist ja mein Angebot.“
Die nächste Klarstellung, die sie anbrachte, war folgende: „Meine Herren, wenn ich das Klassenzimmer betrete, möchte ich, daß Sie mir Respekt erweisen, indem Sie aufstehen und Ihren Lärm beenden. Ich möchte mit Ihnen von der ersten Minute an konstruktiv zusammenarbeiten (ich notierte das Wort „konstruktiv“). Ich brauche keinen Kasperlverein wie in der Unterstufe. Ich brauche Gesprächspartner. Ihr Interesse für unsere Muttersprache zu wecken ist meine Aufgabe. Und das gehen wir konzentriert an." Ich weiß noch, wie diese Worte die Spreu vom Weizen trennten. Die Mehrheit zog mit ihr mit, aber es blieben ein paar, die machten sich insgeheim lustig über sie. Das lag daran, weil sie unbemannt war und männlich wirkte, und darüber hinaus wie eine Spaßverderberin (was sie ganz und gar nicht war), die eben Ernsthaftigkeit ausstrahlte.
Unsere Anstalt blieb bis in die 90er-Jahre hinauf autoritär unterwandert. Der Führer hatte sein Gift als 10 und 11-Jähriger bereits nachhaltig gestreut, bevor er wegen disziplinärer Unverträglichkeit aus Fadingestraße 4 hinauskomplimentiert wurde. Wir hatten kriegsverwundete Veteranen und wir hatten ehemalige Bürokräfte der Nazis im Lehrkörper. Professoren, die wir für geisteskrank, im gelindesten Fall für verschroben hielten, ohne zu wissen, ja nicht einmal ohne zu mutmaßen, woher ihre Krankheit kam. Linz, ein wesentlicher Bestandteil in der Biographie des Führers. Linz, ein Zentrum der Gestapo. Wir hatten Herren, die im weißen Mantel unterrichteten. Grad unlängst traf ich einen Herren aus Hongkong, der unsere Anstalt für ein paar Jahre genossen hatte. An die weißen Mäntel der Professoren als deren Autoritätsanspruch konnte er sich nicht gewöhnen. Helga Aigelsreiter war keine Nationalsozialistin, bei Gott nicht, aber sie vertrat eine klare politische Einstellung, und die war fortschrittlich, geistesbezogen und nicht korrupt. Wie gesagt, ihr Unterricht war streng methodisch und angesichts der extremen Verhältnisse in unserer Klasse praktisch perfekt. Sie begann mit der Grammatik und der alt- sowie neuhochdeutschen Lautverschiebung. Dann ging es in die Literaturgeschichte, ausführlich. Wir lasen Gottfried Keller, Droste-Hülsoff, Dürrenmatt, und im anderen Jahr die Giganten, Schiller, Goethe und Shakespeare. Mit den Giganten forderte sie uns zum kritischen Denken auf. Die Titel der Schularbeiten (wir hatten stets drei Themen zur Auswahl) lauteten etwa: „In Schillers „Die Räuber“ wird das Abgleiten in Anarchie angesprochen. Welche Schwächen weist die Anarchie Ihrer Meinung nach auf?“ Selbiges zu „Wilhelm Tell“: „Ist Thyrannenmord gerechtfertigt?“
Es waren die 70er-Jahre. Franz Jägerstätter war damals noch kein Thema, und außerdem war Zeitgeschichte nicht ihre Aufgabe bei uns. Doch Helga Aigelsreiter hatte als Zweitfach Geschichte (wie gesagt, nicht bei uns), und ich denke, das war ihre Geheimwaffe, ihre Rückhand, ihr Atout. Ihre kritische Haltung entsprang einem kritischen Verstand, und der war historisch untermauert. Sie sah das meiste kritisch, vor allem die Politik der österreichischen Sozialisten unter Kreisky. Sie ließ gelegentlich einen passenden Kommentar einfließen, eine Wortmeldung, die uns zu ihren heimlichen Fans machte. Mich jedenfalls auf jeden Fall. Ein nachdenklicher Blick auf den Großbau der Post draußen vor dem Fenster, der über Jahre hinweg hochgezogen wurde und dessen Baufortschritt niemandem verborgen bleiben konnte. „Eine Investitionsblase. Ein Vorzeigeprojekt ohne Fundament!“ So regte sie uns zum Denken an. Doch ihr wahres Engagement, so denke ich heute, war der Antifaschismus, erkannt und gelebt. Kein Lippenbekenntnis, angelesen aus einem Schulgeschichtsbuch für die Oberstufe, das dem Zweiten Weltkrieg zehn kleine Seiten widmet, darunter eine dem Holocaust. Ja, das war der faschistische Unterbau der österreichischen Gesellschaft, wie er wohl nie abgerissen ist.
Ohne den Faschismus zu thematisieren gab sie uns ein Beispiel persönlicher Standhaftigkeit. Ein einziges Mal kam ein Gesandter der Schulaufsichtsbehörde in unseren Unterricht, als dieser schon begonnen hatte. Frau Aigelsreiter ließ sich in keinster Weise aus dem Konzept bringen, wohingegen ich nicht schlecht staunte („Was sucht der hier? Wieso kommt er verspätet und unangemeldet?“). Mit einem Kurzkommentar erklärte sie ihm den momentanen Lehrstoff. Der Besucher verließ noch vor der Pausenglocke wieder das Zimmer.
Helga Aigelsreiter war eine Einzelkämpferin, doch hatte sie Gesinnungsgenossen im Lehrerzimmer, einen Lateiner und einen Theologen, beide im selben Alter wie sie. Sie brach nie unter Burn out zusammen. Dazu war ihre Disziplin, ihr methodisches Denken und ihr Eingehen auf die Schüler, die sie so für sich und das Fach gewann, außen vor. Letztes Jahr, so konnte ich lesen, wurde sie mit allen Ehren pensioniert.
In der achten, im Jahr der Matura also, verabreichte sie uns den Coup de Grâce. „Meine Herren, sie haben im zweiten Halbjahr neben den Schularbeiten die Aufgabe eines Referats über einen Schriftsteller oder ganz generell über ein kulturelles Thema.“ Kollege Gründlinger, ich erinnere mich gern, wählte die Beatles („Sehr gut, Gründlinger, sehr engagiert, gratuliere. Aber eine Frage: Haben die Beatles den Orden der Queen angenommen oder nicht?“ ). Ja, das war der Coup de Grâce. Von dort weg gab es jemanden, der Peter Handke nie mehr aus der Hand legen sollte, und einen anderen, der wegen des Maturathemas, das ihm Frau Professor Aigelsreiter vorsetzte ("Das größte Wunderding ist doch der Mensch. Nachdem er´s macht, er Gott und Teufel ist"; Spruch des Angelus Silesius), Priester wurde, und er blieb ein solcher bis heute. Nur deswegen.
Wir luden sie zu unserem 25-jährigen Jubiläum ein, allein, sie wollte nicht. Aus Prinzip. Sie verbündete sich privat mit niemandem. Ihre Adresse liegt nicht auf, und das sicher nicht aus Groll. Aus durchdachtem Prinzip. Und somit diese öffentliche Danksagung, aus Prinzip.
„Danke für alles, sehr geehrte Frau Mag.Aigelsreiter!“
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Die Sprache der Liebe
Sie war der erste Lichtblick in meiner, in unserer Schulkarriere. Dritte Klasse Volksschule. Das Jahr fing beeindruckend an. Wir mußten in das große, gelbgestrichene Gebäude am Hauptplatz des Dorfes. Eine neue Umgebung. Am Hauptplatz gab es gleich vier Dorfwirte. Einer von ihnen hatte den Miststall draußen, einen kleinen zwar nur, doch auf und in ihm tummelte sich bisweilen ein Schwein. Auf dieses warteten wir, wenn wir vorbeigingen. Nur das Schwein zu sehen in seinem Paradies. Der Gasthof stand über einem Bach, ja, er war seitlich darübergebaut. Eines von zwei Entlastungsgerinnen des Erla-Baches, der das Dorf durchquert, bis heute. Das Stadtzentrum war uns noch unbekannt, wenig erforscht. Alles war neu. Die Häuser, genaugenommen die Abfolge der Häuser. Die ersten zwei Klassen absolvierten wir in einer Barracke. Nunmehr stand ein veritables Schulgebäude imposant vor uns, eines mit zwei Stockwerken. Auf seinem Dach die Feuersirene des Dorfes, Samstag, fünf Minuten vor Zwölf, der Probealarm.
Wir wurden bekannt gemacht mit Maria Brandner. Sie sollte unsere Mutter werden für’s ganze Jahr, und sie wurde unsere Mutter. Eine schlanke, hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit nuanciert dunklem Teint. Das Jahr mit ihr war vollkommen problemlos. Ich erinnere mich an keinen einzigen Zwischenfall. Es war das Paradies. Sie lächelte immer. Ja ich würde es sogar als ein ständiges Schmunzeln nennen, das sich einen Millimeter in ihre Mundwinkel eingegraben hatte. Sie lehrte uns die flüssige Satzbildung. Was sie uns sonst noch lehrte, habe ich geschluckt und verdaut. Ich hatte sie gern. Ich hing an ihrem Gesicht, diesem Innbild der Ausgeglichenheit. Es gab nur einen Moment, jetzt erinnere ich mich, da drehte der Wolfgang, der Schielende, der Wolfsrachige aus der Russensiedlung, durch, und zwickte eines der Mädchen, es war so oder ähnlich. Er konnte nicht ruhig sitzen, zappelte ständig, zog ständig Grimassen. Er saß vorne, erste Reihe, Mittelgang, dazu war er vom Direktor verdonnert worden. Das Problemkind. Der Asoziale. Ich fürchtete um meine geliebte Lehrerin. Ich fürchtete den Ausbruch der Bestie, den öffentlichen Skandal, die Störung des Klassenfriedens. Die Konfrontation des Teufelchens mit dem mütterlichen Engel. Es war so, und wir alle trachteten danach, ihn zu neutralisieren, – mit Liebe. Er nahm sie an. Es wäre gut gegangen und Wolfgang Hablesreiter wäre noch am Leben, wäre er nicht in der Vierten auf seinen Bruder Gernot gestossen, der auf ihn wartete, um das Schuljahr mit ihm zu repetieren. Wir brachten den Wolfgang durch, mit Liebe, mit Rücksicht. Maria Brandner, eine liebevolle Frau, Volksschullehrerin durch und durch, wußte, in der Klasse der Schafe hatte sie einen Wolf. Wir wußten es auch. Es war eine gemeinsame Kraftanstrengung, diesem Wolf Liebe und Rücksichtnahme zu schenken, und der Wolf mit seiner Igel-Struppifrisur und dem Wolfsrachen zog mit, ohne über die Stränge zu schlagen, nicht einmal in der Turnstunde, wo ich ihm beim Völkerballspielen näher kam. Seine Struppifrisur war tatsächlich stachelig. Welche Rarität!
Wir gingen durch dieses Jahr voll Enthusiasmus. Es war gesunde Wanderschaft. Ich erinnere mich ein Leben lang, wie sie uns erklärte, "beim Singen schreibt man groß, Kinder. Zum Essen schreibt man groß. "Beim" und "Zum" verlangen das Tun-Wort großgeschrieben." Die Regel, die ich ein Leben lang nicht vergessen habe, die erste Rechtschreibregel. Als ich von der erfolgreich absolvierten Aufnahmeprüfung zum Gymnasium nachmittags vom Bahnhof zurück kam, läuft sie mir knapp vor der Bahnübersetz in der langgezogenen Kastanienallee über den Weg und fragt mich direkt, wie es war. Ich erwidere ihr: "Frau Lehrer, ich habe leider das "zum" und "beim" nicht beherzigt, obwohl ich es wußte, wie man es schreibt. Ich weiß‘ nicht, warum ich es so geschrieben habe." "Ja, Wolfgang", meinte sie, und das war auch bereits das Wort des Abschieds für meinen Sprung ins Fegefeuer der großen, weiten Welt, ""zum" und "beim" verlangen immer die Großschreibung des Zeitwortes."
Ich weiß nicht, warum wir sie dann nicht mehr in der Vierten hatten, sie die Mutter. Es kam eine Junge aus Puchberg am Schneeberg, Eva Bock, in die ich mich nach 10 Tagen Unterricht heftig verliebte. Doch das dauerte nur 14 Tage, dann leistete sie sich einen Schnitzer, der mich ernüchterte. Doch Maria Brandner, die Madonna, war immer hinter mir. Ja, so war es, und sie war es mehr, als ich je ahnte.
Gestern führte mich der Eine und Wahre, der Schöpfer und Lenker allen Lebens, zum Straßeneck vor unserer Haustür, dort, wo die Totenparten unserer Kleinstadt traditionell aufgehängt sind. Maria Brandner starb vorvorgestern, am 26.Oktober 2014, dem österreichischen Nationalfeiertag, im 88.Lebensjahr, nach einem Leben voller Liebe. Auf ihrer Parte wird im Eingang ein Spruch von Margarte Seemann zitiert: "Der Tod eines geliebten Menschen ist wie das Zürückgeben einer Kostbarkeit, die uns Gott unverdient lange geliehen hat." "Sie ging uns voran in die Ewigkeit…", steht weiters geschrieben.
Der Eine und Wahre führte mich ein letztes Mal, ein vorletztes Mal zu ihr hin.