Praegt ein Heiligabend-Sonntag unsere Weltsicht? Ein Montag als Christtag?
Wie auch immer, die Strassen liegen leer. Nur die Strassenbahnen fahren ab und zu. Maenner im Pyjama suchen sich ihre Zeitungslektuere, vergeblich.
Die Strassen liegen leer; die Menschen hinter den Mauern. Was auch immer sie tun moegen. Die Einsamen in ihren Wohnungen. Sie duschen und bereiten das Fruehstueck vor. Dann wieder halten sie inne. Vor ihrem inneren Auge sehen sie Geliebte, Entschwundene, Leidende, Tote. Sie wissen, wie leicht waere es, jetzt fortzugehen. Gerade zu Weihnachten. Eine Zeit lang wuerde es niemand bemerken. Vielleicht sogar laenger. Die Welt wird noch stiller bei diesem Gedanken. Der Morgen haelt den Atem an.
Dann kramt man in der Briefkiste, holt sein Lieblingsbuch hervor, schaltet den Computer ein. Wie viele wollen etwas von mir. Doch wessen Wort nimmt mir die Einsamkeit? Ich greife zum Telefon und rufe meine Freundin an, die kluge, die saloppe, die unverdrossene. Die, die alles, was ich sage, ernst nimmt. Ich koennte sie haben, wenn ich wollte, es waere nicht schwer. Nicht fuer sie, nicht fuer mich. Doch sie will allein sein, und meinen Weg pflastern Leichen. Frauenleichen. Schlussendlich schlage ich die Bibel auf, wahllos, sie faellt mir in den Blick, dort am Kaminsims, wo ich sie vor ein paar Naechten abgelegt habe. Lukas. Sie gingen von Nazaeth nach Bethlehem, um sich zaehlen zu lassen. Dort gebar sie einen Sohn, Emanuel, ihren Erstgeborenen. Vor 2000 Jahren.
Weihnachten wird mich ueberleben, wenn ich laengst nicht mehr bin. Wird uns ueberleben. Wir sind eine Gemeinschaft der Sterblichen. Was wir tagsueber trieben, die reine, pure Torheit, niemand wird sich ihrer erinnern. Wir werden spurlos gehen und alles zuruecklassen. Wir werden eine Ueberfahrt machen, ohne eine Muenze in der Tasche. Wir werden ein Totenhemd tragen, ein zeitloses, und unser Geist wird nicht mehr menschlich sein. Alles wird sich aufloesen und doch nicht zerfliessen. Wir werden aufgehen im Ozean, und doch nicht verlorengehen. Wir werden sehen, ohne geblendet zu sein, wir werden unsere Arme austrecken, von einem Stern zum naechsten. Ein Bruder wird uns seine Hand reichen, er bis zum naechsten Stern. Wir werden alle Sterne umschliessen und die Engel die Galaxien. Der Christus des Weltalls, das Licht in seinen Pupillen Galaxienhaufen, wird vor unseren Augen auferstehen. Er wird uns mit seinem unergruendlichen Blick beruehren, jeden einzelnen, und seine Stimme in uns wird uns sagen: „Du bist nicht allein. Deine Muedigkeit hat ein Ende“. Und unser Atem wird sich in Feuer verwandeln, und wir werden die ganze Wahrheit erkennen, fuer einen Moment.
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Gute Freunde soll niemand trennen
Einer der frühesten Begleiter war Helmut, er, der Bob Dylan-Kenner. Bob Dylan und Pink Floyd. Er unterhielt in seinem Schlurfer-Zimmer, in welchem es immer charakteristisch roch, eine gediegene Plattensammlung, doch noch mehr einen Plattenspieler, der unzerbrechlich schien. Helmut war ein Schlurfi, wie er im Buche steht, doch der sympathischste von allen. Er war Buchhalter von Anfang an, so wie Kafka eine Büroexistenz mit Doppelleben. Er war kein Sportler. Er war die Verkörperung der Langsamkeit. So wie Herbert Weber, der Unvergessene, der Langstreckentaucher, der bei den Salesianern in Graz und danach in Istanbul landete, neigte Helmut zu Selbstgesprächen, wenn die Gedanken, die ihn permanent in Beschlag zu nehmen schienen, zu viel wurden, sodaß es aus ihm dezent herausplatzen mußten. Helmut war der Friedliebende in Person. Er wurde nie und niemals handgreiflich. Damit wurde er mir früh zum heimlichen Vorbild. Er wurde auch nie laut oder ausfällig. Er lebte in der Kunst der Musik, im Genießen von Melodie, Text und Ausdruck eines Lebensgefühls. Er hatte von Pink Floyd alles, doch Bob Dylan studierte er im Text. Er hatte Dylans gesamte Texte und studierte sie Zeile für Zeile. Obwohl Helmut etwa zwei oder drei Jahre jünger war als ich, war er mir in pucto Ernsthaftigkeit bei dem, worauf er sich konzentrierte, eine Zeit lang voraus. Er pflegte seine Vorlieben. Dann griff das Schicksal in sein Leben ein, und er verließ spontan St.Valentin und zog zu den Bayern hinaus. Der Ruf der Deutschen ereilte ihn. Das nahm er komplett stoisch. Ich staunte nicht schlecht. Gut, er folgte seinem älteren Bruder Harald, einem eingefleischten Castaneda-Fan, der in München landen sollte, doch München war für Helmut nur Übergangsstation. Er verliebte sich in die Frau seines Lebens, Claudia, eine Frau von Kultur durch und durch. Es hätte keine bessere geben können. Sie zogen nach Bayreuth und dort schlugen sie Wurzeln, direkt neben einer Kirche, an einem emblematischen, verträumten Platz. Als ich mit Don Luis von Berlin herunterkam, machte ich zum ersten Mal Halt bei ihnen, später noch mehrere Male, auch in Anwesenheit von Freund Thorvald, meinem Import aus Island, der damals in Bayreuth herumschnupperte. Die eigentliche Offenbarung aber boten mir Helmut und Claudia, als sie unangekündigt in der Wildschönau in Tirol auftauchten, 2003, wie zwei Kreuzritter auf der Suche nach dem heiligen Gral. Da begann ich etwas vom weiten, atemberaubenden Bogen der Medizin zu ahnen, denn ich nahm bereits in der Vorbesprechung vor der Zeremonie einen unvergleichlichen Glanz rund um die beiden wahr, einen jenseitigen Glanz, der sich mit einem beinahe unhörbaren Dröhnen im gesamten Firmament verband, und da verstand ich, daß die Ewigkeit Gottes in diesem Moment mit diesen beiden geliebten Menschen anwesend war. Das Jenseits, das herüberreichte. Tränen traten mir unwillkürlich in die Augen, und jetzt, wo mich etwas zu erinnern zwingt, wieder. Was für ein Geschenk. Unüberbietbar. Für immer und ewig.
Leidensgenossen
Ohne Zweifel werden in der Medizin Freundschaften geschlossen, Freundschaften, die fuer gewoehnlich ein Leben lang halten. Neue Buende entstehen, transnationale Buende oftmals. Teilnehmer einer bunt zusammengewuerfelten Gruppe bei geschaeftstuechtigen Indios finden sich nach einer fulminanten Zeremonie mit la madre morgens im Fruehstuecksraum ein, bisweilen mit veraendertem, etwas zerknittertem Gesicht. Wenn ueberhaupt. Manche Teilnehmer streichen das Fruehstueck aus hoeherer Gewalt. Es ist ihnen einfach unmoeglich, jetzt schon zu fruehstuecken. Gespraeche entstehen. Da und dort springt ein Funke ueber. Der Funke springt zumeist bereits in der Zeremonie ueber, in Gestalt des Mitleids. Da und dort treten die Teilnehmer gemeinsam aus. Manche gehen einfach hinaus, nachdem die groebste Tortur ueberstanden ist, um Luft zu schnappen und um wieder zu sich kommen, und kommen so, auf der Bank sitzend, harmonisch miteinander ins Gespraech. Denn Gespraechsstoff gibt es zuhauf. Ja, es gibt eine Leidenslinie, einen Leidensfaden, ein Seil, das verknuepft. Oder erweitertes, gemeinsames Verstaendnis in vormals komplex gewaehnten psychischen Zusammenhaengen. Das Mass der Einsicht ist erweitert, ja sogar das Sprechvermoegen. Ausfluesse des erhoehten Bewusstseins, von dem man zurueckkommt. Doch eine Restveraenderung, eine hartnaeckige und geradewegs signifikante, bleibt. Signifikant im kleinen Bereich, wie bei einem Traum, der uns weit zurueckfuehrt. Ich weiss jetzt, warum ich diese oder jene Sexualpraeferenz kultiviert habe. Ich verstehe jetzt etwas mehr von der Dynamik zwischen mir und meinem Vater. Ich verstehe jetzt ein paar Gramm mehr von meiner haarstraeubenden Ignoranz, und wenn ich ehrlich bin, oh Schreck, einen ordentlichen Teil meiner Gier. Und ich fuehle mich verwegen genug, um mich meinem schon seit langem insgeheim lodernden Hass anzunaehern. Ich fange an, am Folgetag, als mir Pascal im Park in spaerlicher Bekleidung ueber den Weg laeuft, davon zu erzaehlen, wir setzen uns auf die naechstbeste Holzbank, und siehe da, er versteht sofort, wovon ich rede. Es geht ihm genauso. Gewisse eingefleischte Dinge sind zutage getreten, und es laesst sich ohne Scham von ihnen berichten. Diese Sachverhalte wollen, wie mich duenkt, geradezu ausgesprochen werden. Werden sie ausgesprochen, werden sie ausgereift und verschwinden. Zumindest hege ich die Hoffnung, dass sie ausreifen. Ich spuere es ja selbst, wie mich das Sprechen erleichtert. Die eine oder andere Dame beginnt, ihrer neu gewonnenen, naechtlichen Gestaendnisfreundin Briefe im Dutzend zuzuschicken. Es quill aus ihr fluessig heraus, wie duennfluessige Magma, die nur langsam erstarrt. Magma sprudelt. Ich kann es beobachten. Faszinierend! Das bin ich! Ich haette nie gedacht, dass ich so bin.
Diaetkollegen, sofern sie sich ueberhaupt jemals ueber den Weg laufen, pflegen demgegenueber einen etwas veraenderten Jargon. Diaetgespraeche verlaufen in Tempo und Inhalt anders als Ayahuasca-Gespraeche, teilweise werden sie auch erst Monate oder Jahre nach entsprechender Durcharbeitung aufs Tapet gebracht. Die Themen, die in einer Diaet aportiert werden, sind feingestrickter, doch dafuer breitflaechiger als die Dramen aus Ayahuasca. Obwohl auch Diaeten dramatisches Material zutage foerdern koennen – notwendigerweise -, mutet den Diaetanten das in ihm/ihr zutage Getretene weniger gefaehrlich an, weil, simpler Grund, es nicht mit Erbrechen verbunden ist. Die Nichterzwungenheit von Erbrechen macht es jedoch deshalb nicht leichter, denn umso mehr ist man gezungen und, schlimmer, aufgefordert, genau hinzuschauen. Die Erkenntnisprozesse einer Diaet tauchen in der Regel naechtens hoch, wie Riesenoktopusse oder Riesenkalmare, wo sie sich im Mondlicht knapp unter der Oberflaeche treiben lassen, glotzende, riesige Augen, die alles spiegeln. Diaetthemen sind somit, um es zu wiederholen, feingesponnen, doch breitflaechig. Sie erfassen bisweilen die gesamte Existenz, und dabei, oh Schreck, lassen sie auch hartnaeckig, ja, man koennte sagen: wie unter eisernem Griff, etwas anklingen, was bald zu einem Droehnen wird, naemlich die Anwesenheit Gottes. Gewoehnlich ist es die Anwesenheit Gottes, von der man erschlagen wird, doch da Gott nunmal barmherzig ist, zieht er sich wieder zurueck hinter seinen Vorhang und ueberlaesst das Feld den Pflanzengeistern, die einem in kindlich-schnippischer Weise wie Till Eulenspiegel oder Rumpelstilzchen oder eben in Gestalt des Wurzelsepps (bei manchen ist es auch die erotisch-attraktive Wurzeljosefine) ganz schoen frech zusetzen, frech und erfindungsreich und jedenfalls immer so, dass es einen augenblicklich aus den Latschen hebt. Nur wenigen Auserkorenen (keiner kann sagen, warum sie Auserkorene sind) wird die Ehre zuteil, mit den Geschwistern der Madre Bekanntschaft schliessen zu duerfen, Chuchuasha, Toé und Mapacho. Und jene Mutigen, die sich zu 21 Tagen Chiric Sanango verdonnern lassen, werden noch andere Abenteuer gesteigerten Kalibers zugemutet. Sie schrammen fuer Tage an unheilvoll sich zusammendraeuenden Nebelschwaden des Wahnsinns (des endgueltigen Wahnsinns, so duenkt es einen, wohlgemerkt) entlang, wie bei einem, erst recht in der Regenzeit wie gerade jetzt, neuen, blauschwarz sich zusammenballenden Abend- oder gar Nachtgewitter, das keinen Stein auf dem anderen belassen wird, so sagt man sich, und: Hergott, nochmal, wieviele Baeume werden heute Nacht diesem Sturm, der ja gerade noch meine solide gebaute Huette stehen laesst, zum Opfer fallen? Diese armen Urwaldriesen, denen kein langes Leben beschert ist, auch wenn sie vielleicht bereits 500 Jahre geschafft haben. Dann, eines Nachts, im Megasturm, ist’s aus, ganz kalt. Todesurteil. 500 Jahre hat die Yacushapana ueberlebt, doch heute Nacht ist’s aus. Und das in meiner Anwesenheit, wo ich gerade hier im Dschungel weile. Haengt das mit mir zusammen? Bin ich an diesem Sturm schuld? Wie kommt es, dass sich Herr H. nicht in die Hose macht, ich jedoch mit knapper Not den Nachttopf finde, waehrend die Blitze gefaehrlich um meine Huette zucken und das Blechdach vom Donner bebt. Was fuer ein Gemuet muessen erst die Arbeiter haben, dass sie ein Gewitter dieses Kalibers durchschlafen koennen und am Morgen unschuldig aufstehen, sich die Augen reiben und wie die groessten Siebenschlaefer vermelden koennen: „Heut Nachts hat’s scheinbar ein bisschen mehr geregnet, aber ich hab gut geschlafen“?
Die Fachleute der Diaet zeichnen ein paar Qualitaeten aus, die quasi in jedem Gespraech sichtbar werden: Sie hoeren gleichmuetig zu. Sie verstehen, was die Dame, die da gerade von ihrem Mehrtagesprozess erzaehlt, ihnen sagen will. Waehrend des Zuhoerens verlieren sie gleichzeitig nicht den Blick fuer die Natur. Sie wissen augenblicklich, was im Camp, hier, vor ihren Augen, gerade geschieht oder getan werden muss. Waehrend des Zuhoerens beobachten sie die Arbeiter bei der Arbeit, und das voellig gleichmuetig, ohne jede Frivolitaet. Beide denken zeitgleich: „Wie verfuehrerisch es aus der Kueche duftet! Die Leute hier koennen froh sein, dass Judith so gut kocht. Es fehlt ihnen hier an nichts. Mir auch nicht. Ich habe meinen Boquichico samt Reis, und damit basta. Morgen bestelle ich rote Rauner. S’ist schon angenehm, dass man hier mit einander reden kann ueber alles. Und den Rest bekommt mein Tagebuch. Apropos Tagebuch: Ich brauche mein Handy zum Diktieren in der Nacht. Der H. muss es jeden Tag aufladen, untertags, nicht in der Nacht, denn das, was ich da in der Nacht sehe, ist einzigartig. Ich koennte ein Buch schreiben. Der Abt ist wahrlich ein Teufel. Er redet von Aerger, Zorn, Groll, Wut und Hass. Er hat nicht bedacht, was das bei mir ausloest. Ich kann das nur diktieren. Wenn ich im Bett diktiere, habe ich zumindest die Chance, nicht von dieser Lawine fortgeweht oder fortgerissen zu werden. Eine Lawine. Und zum Glueck habe ich die 500er-Liste. Eugen, geht’s dir auch so? Ich kann die Liste locker auf tausend Schwaechen aufpeppen. Das werd ich auch tun, ich versichere es dir. Auf Packpapier. Und dann werde ich Verbindungslinie einzeichnen. Ich werde visionieren, am helllichten Tag! Eugen, ich muss 100 Jahre Leben! Ich hab noch soviel zu tun! Erst recht bin ich noch auf keinen gruenen Zweig gestossen, wie wir der unendlichen Dummheit der Menschheit und ihrem unaufhaltsamen Selbstzerstoerungsdrang beikommen koennen. Ohne Gott geht da gar nichts. Das sagt nicht nur Denzel Washington. Ich muss da noch viel Hirnschmalz investieren. Wie kommen wir aus dieser Spirale heraus? Wie, verdammt nochmal?“