Ein Aufenthalt in Otorongo
Das Kloster von Otorongo kann das ganze Jahr über besucht werden. Der zeitliche Aufenthalt ist im Bedarfsfall unbeschränkt. Manche Menschen, die an einer Lebensrevision arbeiten, bleiben bis zu einem Jahr.
Es gibt im Prinzip, wenn man es so formulieren darf, drei Typen von Besuchern:
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Solche, die aus Interesse an unserer Arbeit, aus Freude an der Natur und aus Faszination für die bei uns eingenommenen Pflanzen kommen. Diese Besucher bleiben gewöhnlich zwischen sieben und 17 Tagen.
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Menschen, die sich im sozialen Rückzug einer „Diät“ unterziehen, mit anderen Worten also von Pflanzen lernen Diese Lernwilligen unterziehen sich einem systematischen Programm anspruchsvollen Lernens in Einsamkeit, gewöhnlich zwischen 14 Tagen und zwei Monaten.
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Menschen, deren Gesundheit gefährdet ist. Diese Personen, von der sogenannten „Schulmedizin“ oftmals bereits aufgegeben, suchen Heilung unter anderen Vorzeichen, man könnte sagen, unter spirituell-metaphysischen Vorzeichen.
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Die Ansätze der Heilarbeit, wie sie in Otorongo praktiziert werden, haben mit den positivistischen Sichtweisen der klassischen pharmazeutischen Medizin sehr wenig gemeinsam. Menschen, die an ihrer Heilung arbeiten, bleiben zwischen sechs Wochen und einem guten halben Jahr.
Die Eremitage zeichnet sich augenscheinlich durch großen Familiensinn aus. Der Umgang zwischen der Belegschaft, die seit vielen Jahren in Otorongo arbeitet und dort eine Heimat gefunden hat, und den Besuchern ist informell, freundschaftlich. Arbeiter und Gäste essen gemeinsam an mehreren Tischen. Die Gäste halten sich die Köchinnen warm und bestellen bei diesen ihr Lieblingsessen. In Otorongo wird auf Wunsch sowohl vegan, wie auch vegetarisch und fleischlich à la carte serviert. Die Speisen sind sowohl lokal als auch – im bescheidenen Maße – international orientiert, mit kulinarischen Leckerbissen. Zu den Fleischsorten, die am Markt angeboten werden, zählen wir Fisch, Meeresfrüchte, Huhn, Rind, Schwein, Wildschwein, Reh, Dachs, Tapir sowie die als besondere Delikatesse geltenden Holzmaden.
Mit dem Leben in der Eremitage geht sehr schnell das Zeitgefühl verloren. Es gibt keine fixen Essenszeiten. Man ißt, wenn man Appetit hat. Wir wecken die Gäste aus Prinzip niemals auf. Zu wichtig ist uns der zeitenthobene, persönliche, psychisch-seelische Prozeß. Gäste, die den Vorhang ihres Moskitonetzes heruntergelassen haben, werden nicht gestört.
Die Bungalows sind komfortabel eingerichtet. Das Bett wird schnell eine wohlige Heimstatt. 24 Stunden am Tag ist die Natur tätig. Es gibt immer (immer!) Tiergeräusche: Vögel, Frösche, Kröten, Grillen, Hühner. Hin und wieder die Affenfamilie. Man taucht ein in einen ungestörten Kosmos, das Paradies einer behüteten Oase, die lange, über unser Leben hinaus, Bestand haben soll, so Gott will.
Wenn nicht eine Ayahuasca-Zeremonie für 19 Uhr angesetzt ist, gehen die Menschen zwischen 19 und 20 Uhr ins Bett und schlafen in vollkommener Dunkelheit – so nicht Vollmond ist und das Anwesen magisch parkähnlich, friedlich im Silberglanz des Mondscheins liegt – bis gegen 6 Uhr früh. Um 6 Uhr beginnt das Tagwerk der Angestellten, Manrique, der Vorabeiter, der sei 2004 bei uns arbeitet, Llervis, Geronimo und Flixbert, sowie Judith, unserer Köchin von Anbeginn an. Die Besucher, so sie auf der Bildfläche erscheinen, nehmen ihre Medizin ein, oft von Doña Eugenia (76) liebevoll und fachgerecht zubereitet, um sodann die gesundheitsfördernden Konsequenzen mit Bravour und Würde auszutragen. Die Wildnis ruft. Die Besucher fühlen sich bald zurück in den Zeiten der menschlichen Wildnis.. Das Bad im großzügig angelegten Pool, der mit den Wasserschildkröten geteilt wird, ist immer von entzückendem Genuß, bei Regen wie bei Sonnenschein. Die Temperaturen fallen auch bei Nacht nicht unter 24°C.
Die Menschen baden nackt oder im Badetrikot. Die Sonne, so sie unverdeckt scheint, scheint tropisch heiß, mit einer Wucht, wie sie auf der Nordhalbkugel unbekannt ist. Sonnenschutzfaktor 15+ ist dringend angeraten. Das Frühstück wird variabel zwischen 7 und 9 Uhr serviert. Es gibt „Schlafmützen“, die erst gegen 11 Uhr auf der Bildfläche erscheinen. Wir fragen nicht nach, nur, ob die Nacht angenehm war.
Das Tagesprogramm wird entweder am Vorabend oder beim Frühstück bekannt gegeben. Man entscheidet eigenmächtig, ob man dabei sein oder sich ein „Time out“ genehmigen möchte. Die Hängematten stehen immer bereit. Otorongo verfügt über eine erlesene Bibliothek. Es ist außerordentlich empfehlenswert und fruchtbar, ausführlich Tagebuch zu schreiben, – eine in unserer Zeit zu Unrecht vernachlässigte Kultur.
Ausführliche Dschungelwanderungen von etwa drei Stunden Dauer gehören zur körperlich-abenteuerlichen Körperertüchtigung. Wir betreten Primärurwald und begegnen Urwaldriesen, die zwischen 500 und 1.000 Jahre alt sind, „Yacushapanas“ und „Huayra Caspis“. Der Wald öffnet uns seine Pforten und verschluckt uns im nächsten Moment. Wir begehen legendenumwobene Pfade, den „Zwergenpfad“ zum Beispiel, oder die „Passage der Außerirdischen“. Manche Bäume muten schlichtweg phantastisch an. Shapishico, der „Wurzelsepp“, der „Herr des Waldes“, ein Schutzgeist, der Schutzgeist schlechthin für ganz Amazonien, spielt mit uns Schabernack, wenn er uns wohl gesonnen sein will. Auf diesen Wanderungen kann es zu Raum- und Zeitverzerrungen kommen, weshalb wir gewöhnlich von individuellen Waldbegehungen anfangs abraten. Erst wenn die Besucher sich mit den Mapacho-Zigarrillos und den von uns angelegten Dschungelpfaden vertraut gemacht und mit entsprechenden Wanderstöcken ausgerüstet haben, lassen wir den Bewegungsgesinnten nach Voraviso auf eigene Faust in die „Grüne Hölle“ vorstoßen.
Nach dem Mittagessen ist eine zweistündige Siesta, wie in Südamerika üblich, obligat. Danach gibt es Kaffee und Kuchen, neuerliches Baden, Beratschlagen, Plaudern, Konferenzen. Nach dem Abendessen folgt gewohnheitsmäßig eine „Otorongo-Legenden- und Abenteurgeschichte“, freilich keine erfundene, untermalt mit genügend Mapachos und – wegen der Mücken – bequemer Sitzposition auf texanische Art.
Die Träume Nächtens sind zumeist von unbekannter, neuartiger Qualität und werden regelmäßig erinnert. Die Taschenlampe im Bett ist bei der Reise der wichtigste Begleiter.
Ein Klosteraufenthalt zum Zwecke der Gesundung
Bisweilen schenken uns Personen in bedenklichem Gesundheitszustand das Vertrauen. Im Laufe der Jahre hatten wir Patienten mit verschiedenen Leidensbildern: Krebs an verschiedenen Organen, Multiple Sklerose, Amyotrophe Lateralsklerose, Geistes- und Nervenkrankheiten verschiedenster Ausprägung, neurotische Befindlichkeiten. Die Patienten kommen nach Otorongo, weil sie entweder der Schulmedizin nicht vertrauen oder von dieser bereits als unheilbar aufgegeben wurden. Die Erfahrung hat uns gelehrt, daß, wie das Sprichwort besagt, tatsächlich die Hoffnung zuletzt stirbt. Es gibt keine aussichtslosen „Fälle“, im Gegenteil: Bei Gott ist nichts unmöglich. Gleichwohl muß man feststellen: Je früher ein Patient zu uns in den Dschungel kommt, umso größer die Heilungsaussichten.
Der Heilansatz, wie wir ihn in Otorongo verfolgen, ist in erster Linie spirituell-religiös, sodann vegetalistisch-schamanistisch, und erst in dritter Hinsicht fachtherapeutisch medizinisch-psychologisch. 
Aus Erfahrung können wir sagen, daß in der überwiegenden Zahl der Fälle biographisch schwere psychologisch-existentielle Brüche in der seelischen Gesundheit nachzuweisen sind. Erlittene Traumatas und Verletzungen, eigene begangene Untaten sowie suizidale, bisweilen unbewußte Stimmungen können zu schwerwiegendem Entgleisen der Lebensbahn führen. Der Patient wird von uns aufgefangen und methodisch einer Reinigungsprozedur, die durchaus exorzistischen Charakter aufweist, unterzogen. Danach folgen stärkende Medizinen, sogenannte Kraftpflanzen. Danach setzt das Lebensprojekt der Lebensrekapitulation ein. Blut und Tränen werden vergossen. Die Knochenmühle von Ayahuasca kommt jede zweite Nacht schwerwiegend zum Einsatz. Die Menschen werden desintegriert und gesäubert. Die durch und durch belastete Erinnerung setzt ein. Der Heilige Geist senkt sich herab.
Unser Heilansatz ist christlich und ganz und gar nicht medizinisch-positivistisch: Der Mensch ist kein Produkt blinden Zufalls. Die Person ist ein Geschöpf Gottes. Sie ist ein Kind Gottes, eines persönlichen Gottes. Die Krankheit ist nicht unpersönlich. Sie ist nicht Pech, nicht blinder Zufall. Die Krankheit ist eine Botschaft unserer Seele. Das Leben hat einen Sinn. Wir sind zur Erfüllung einer Mission ins Leben gerufen worden.
Gesundungsarbeit nimmt an Ort und Stelle zwischen 6 und 36 Wochen in Anspruch. Von ebenso großer Wichtigkeit wie die penible Heilarbeit vor Ort ist die detailierte Neuorientierung für die weitere Zeit, das weitere Leben zuhause. Dies kann oft eine generelle, unausbleibbare Lebensumwälzung bedeuten.
Lernen in Otorongo
Der Sinn des Lebens kann in nichts Anderem bestehen als zu lernen. Aus dem Nichts in die Fülle des Seins zu treten kann doch nur Lernen bedeuten. So wie wir als Kinder lernen, vom ersten Atemzug an, und noch davor, und bis zum letzten Atemzug lernen, wenn wir dem Tod ins Auge blicken. Das Leben, so sagen es einhellig alle Weisheitsbücher der Weltkulturen, ist ein unergründliches Geheimnis, dem nachzuspüren wir verpflichtet, wir dazu angehalten sind. Wir haben zu leben. Daran führt kein Weg vorbei, und sich dieser Verpflichtung mutwillig, eigenmächtig zu entziehen, endet fatal. Die Konsequenzen derartigen Tuns sind unabschätzbar. 
Wir lernen jeden Moment. Wenn wir uns vor eigener Klugheit nicht drücken, lernen wir sogar das Lernen. Geistvoller Genuß, Freude. Verstehen. Verstehen aus Verstand, Vernunft, Einsicht und Kraft, übergeben dem Licht der göttlichen Absicht. Es gibt im Leben nichts als das Lernen. Das, so sehe ich es, ist bereits das Mysterium des Lebens. Dieses Mysterium verweist direkt auf die metaphysische Grundfrage: „Warum ist überhaupt Sein und nicht vielmehr Nichts?“ Diese Frage verweist zuerst und ganz zuvorderst auf uns selbst, auf Dich und mich. Wir sind bereits und immer schon im Leben. Wir sind immer schon anwesend. Was wir daraus „machen“, liegt an uns. All dem liegt Lernen zu Grunde, und Lernen bedarf eines Meisters, einer Meisterin. Menschen sind fehlerbehaftet. Makellose Lehrer zu finden ist ein Geschenk. Nichtmenschliche Lehrer sind leichter zu finden. Kraftpflanzen, wie sie im Curanderismo bekannt und verehrt werden, werden deshalb als „Kraftpflanzen“ tituliert, weil sie den Fokus der menschlichen Aufmerksamkeit, der eingeübten, alltäglichen, der routiniert gewordenen Aufmerksamkeit verschieben, hin zu neuem Terrain, hin zu neuen Bedeutungs-zusammenhängen. Das ist ja Lernen: Bedeutungszusammenhänge auf Basis adäquater Sprache zu erkennen und in die eigene Praxis zu integrieren.
Kraftpflanzen sind bewußte Wesen. Ihnen wohnt, wie die Indiomeister Amazoniens es nennen, ein „Genius“ inne, eine Autorität, ein Geist. Bei Ayahuasca z.B. spricht man von „La Madre“, „Mutter Ayahuasca“. Bei „Ojé“ von „Doktor Ojé. Bei „Mapacho“ vom „Herrn des Rauchs“ oder auch vom „Herrn der Dunkelheit“. Bei „Chullachaqui Caspi“ ganz simpel vom „Onkel“. Diese Pflanzengeistwesen können für das menschliche Auge jeden physischen Aspekt annehmen, organisch wie anorganisch, oder unsichtbar bleiben, nur ein Säuseln in der Luft, eine unsichtbare Stimme, obwohl sie einem die Hand auf die Schulter legen und wir die Hand unzweifelhaft spüren. Die Haare sträuben sich augenblicklich, man stößt einen Schrei aus und flüchtet.
Wir wurden in unserem Leben nirgendwo gröber vergewaltigt als auf dem Feld der verharmlosten Erziehung, die nicht mit Lernen zu verwechseln ist. Wir sind allesamt verstörte Wesen, denen wahres Lernen verunmöglicht wurde. Das wahre Lernen wurde uns geradezu ausgetrieben. Mord und Totschlag, Brandschatzung und permanente Lügen sind die Kennzeichen des Krieges, in dem wir uns Tag für Tag befinden. Wir befinden uns unter Dauerbeschuß. Wir werden ausgebombt. In Otorongo holen wir uns das längst überfällige Timeout. Der Terror der lügenhaften Einflüsterungen hat ein Ende. Wahre Autoritäten, über dem Menschen stehend, treten auf den Plan. Pflanzengeister, die mit uns zu sprechen beginnen. Wir unterziehen uns Diätbedingungen: Kein Salz, kein Zucker, kein rotes Fleisch, kein Sex, keine sozialen Kontakte. Zwei geräucherte Bocichico-Fische, zwei geräucherte Platano-Kochbananen und ein Krug Wasser sind alles. Wir ziehen uns zurück, in die Abgeschiedenheit. Wir trinken die Kraftpflanze, von Doña Eugenia liebevoll zubereitet. Die Kraftpflanze in uns bewegt sich. Sie führt uns in ihre Welt. Die Entwicklung des Diätanten ist unabsehbar. Standardaufgaben im Rahmen der Lebensrekapitulation treiben das Lernen voran. Der Diätant ist niemandem Rechenschaft schuldig. Er lernt auf eigene Einsicht hin. Er begibt sich freiwillig in die Sphäre des Unbekannten. Schlußendlich kommt es zur magischen Begegnung.