Agustin Rivas Grossvater, in seiner unendlichen Guete (und Schelmhaftigkeit), greift vor Beginn einer Zeremonie manchmal zu einem Buch, der Interpretation der Schrift. Einer seiner Freunde, ein von Weitem Angereister, ein Trinker, ein Verwahrloster, der noch schwitzt und stinkt, die Hose zerrissen, die Schuhe die einzigen, die er besitzt, einer von diesen Voegeln aus alter Zeit, die ihren Onkel besuchen kommen, ein solcher darf mit einem Plastikblatt hineinstechen in das weise Buch, und dann darf er vorlesen. Eine scholastische Deutung von dem, was die Bibel fordert, noch dazu auf Spanisch. Der Derwisch von Yushintaita ist fuerwahr drakonisch.
Was fordert die Bibel? Nichts ausser einem Ueberdenken des Wortes. Mehr nicht. Sagen wir, ein Aufnehmen des Wortes. Bei diesem Aufnehmen des Wortes muss man aufpassen, dass man sich nicht verschluckt. Nicht alle Worte stammen aus dem Mund des Bruders von Nazareth. Man sollte an die Schrift herangehen mit dem Verstand eines Kindes, sie unbefangen lesen wie ein Kind.
Der Reformierer aus Wittenberg war ein Unbefangener, ein Offener, einer, der Selbstgespraeche fuehrte. Soviel ist gewiss. Wie Pater Pio in seiner windumtosten Zelle. Sie fangen an, mit dem zu reden, der ihnen Qualen bereitet. Das moegen Quaelgeister am wenigsten: Dass man ihnen entgegnet. Denn das zwingt sie, ihr wahres Gesicht zu zeigen. Die Fratze.
Die Schrift in der eigenen Sprache lesen, das ist wie in einen Brunnen fallen und ihn leer trinken. Das ist wie in den Auen der Heimat sterben, wo man friedlich wandelte, ehe die Besatzer kamen auf ihren Streitroessern. Welcher Gott salbt die Stirn des Dahinroechelnden im Irak? Ein muslimischer oder ein christlicher? Welcher Daemon treibt die Mordenden, Unschuldige zu entleiben? Welche Sprache spricht er?
Welche Sprache spricht die Mutter der Vergebung, nachts, wenn die Albtraeume hereinbrechen?
Grossvater Agustin jedenfalls wandelt als Lexikon herum, in den Naechten. "Frau, hinlegen! Frau, bitte kommen! Gutes Schlafen!" Es ist eine Ehre, als Kind behandelt zu werden.
Kinder empfing Karol Wojtyla gerne. Er reiste zu ihnen und sie kamen in Heerscharen zu ihm, ganz entgegen seinem Stigma als der "Eiserne, Stockkonservative". Viele wollten sich bei ihm reinschwindeln, ein gemeinsames Foto ergattern. Auch die, die von der PR-Managerin gegaengelt werden, und die sich genoetigt fuehlen, eine Okkupation im arabischen Land zu rechtfertigen. Die meinen, der alte Parkinson-Patient, der nur mehr verkruemmt in seinem Stuhl lehnt, koenne mit Ressentiments aus dem Mittelalter gekoedert werden. Oder mit einem Appell an "Realpolitik" (was im Verstaendnis des Besuchers natuerlich gleichbedeutend ist mit "Globalpolitik").
Karol Wojtyla sagte ihm nur eines: "Bedenken Sie, Mr.President, wie viel Blut Unschuldiger Sie vergiessen. Du sollst nicht toeten!"
Karol Wojtyla war ein intelligenter Mensch, und er hatte das Glueck, ein paar intelligente Freunde zu haben. Warmherzige Freunde, die im Ganzen wussten, was es heisst, Mensch zu sein. Wie Franz Koenig aus Wien. Solche, die eine Ahnung haben, was eine "Weltkirche" ist. Naemlich ein Arche, in der alle Menschen Platz finden.
Sein Nachfolger – der in Rom – sprach vom Haus Gottes, aus dessen Fenster (unter zahllosen) Wojtyla auf uns jetzt, im Augenblick des eigenen Requiems, herabblicke, und die findige Regie blendete ueber zu einer Kameraperspektive auf der Balustrade des Apostelbogens.
Was bleibt uns in Erinnerung von den letzten Tagen unserer erinnernswerten Zeitgenossen auf ihrem Weg? Er schlaegt sich mit der Faust auf die Stirn aus Wut, nicht mehr sprechen zu koennen. Vor den Kameras der Welt. Aber das sehen wir nur von aussen. Wir sehen Sir Peter Ustinov, der den Foerderer Martin Luthers, den Kurfuersten von Sachsen, mimt. Eine seelendurchtraenkte Leistung in allem, als wuerde er in der Luft schweben. Wenige Tage vor seinem Tod.
Helmut Qualtinger als in der Kueche untergetauchter Ketzer im Kloster des "Namens der Rose": Er liess es sich nicht nehmen, durch den Schnee zum Scheiterhaufen barfuss zu gehen. Dann explodierte seine Leber. Seine Art des Vermaechtnisses.
Die Art, wie wir die Welt sehen, wenn wir sterben, – niemand kann sie uns nehmen. Selbst nicht der Mitspieler der Schergen, der in der Soutane, der uns mit dem Kreuz entgegentritt und es uns vor das geschundene Gesicht haelt. "Bereue!" So taten sie es millionenfach, auch mit den Indios Lateinamerikas. Doch innerlich ist es ein anderes Wort, das sie uns vorhalten. "Buesse!" Das menschliche Inferno, das fern ist der Liebe.
So ist es der Lauf. Eine zum Himmel schreiende Missachtung dessen, was uns geboten wurde. Wir toeten weiterhin und vergeben nicht. Woelfe und Laemmer. 30-jaehrige Kriege unter dem Vorwand des Glaubens, 100-jaehrige Kriege. 1000-jaehrige Reiche. Man selbst ein Staubkorn, ein denkendes.
"Wie lange dauert es noch,
bis es fuer immer Abend wird? Ich weiss es nicht.
So macht man weiter, so lange noch Tag ist.
Am Ende geht man mit leeren Haenden fort;
ich weiss es, aber so es ist gut.
Dann schaut man auf den Gekreuzigten und geht.
Was kommt ist die ewige Unbegreiflichkeit Gottes."
(Karl Rahner, 1904-1984)