Narziss war in der griechischen Mythologie der schoene Sohn des Flussgottes Kephisos und der Leiriope. Der Sage nach wies der vielfach Umworbene auch die Liebe der Nymphe Echo zurueck. Dafuer wurde er von Nemesis, nach anderen Quellen durch Aphrodite, dergestalt bestraft, dass er in unstillbare Liebe zu seinem eigenen im Wasser widergespiegelten Abbild verfiel. Damit erfuellte sich die Prophetie des Sehers Teiresias, wonach er ein langes Leben nur dann haben werde, wenn er sich nicht selbst kennenlerne. Eines Tages setzte er sich an den See, um sich seines Spiegelbildes zu erfreuen, woraufhin durch goettliche Fuegung ein Blatt ins Wasser fiel und so durch die erzeugten Wellen sein Spiegelbild truebte. Schockiert von der vermeintlichen Erkenntnis, er sei haesslich, starb er. Nach seinem Tod wurde er in eine Narzisse verwandelt. (Nach Pausanias Periegeta, * um 115 n.Chr.)
"Alles sprach gegen die Menschen, denen ich begegnete. Ich war an des Meisters gleichbleibendes Verhalten gewoehnt, an das Fehlen jeglicher Ueberheblichkeit und an den unermesslich weiten Horizont seines Verstandes. Dagegen war sehr wenigen Menschen, die ich kannte, auch nur bewusst, dass es ein anderes Verhaltensmuster gab, das so erstrebenswerte Eigenschaften foerderte. Die meisten kannten nur die Moeglichkeit der Selbstreflexion, die Menschen im Grunde schwach macht und in ihrem Wesen verbiegt." (C.C., Das Wirken der Unendlichkeit, Frankfurt 1998, S.259)
"Denn wer immer seine Seele retten will, wird sie verlieren; wer immer aber seine Seele um meinetwillen verliert, der wird sie retten. In der Tat, welchen Nutzen hat ein Mensch davon, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst aber verliert oder Schaden leidet?" (Lukas, 9:24-25)
"Auch gehoert ihr nicht euch selbst, denn ihr seid um einen Preis erkauft worden. Auf jeden Fall verherrlicht Gott in dem aus euch bestehenden Leibe." (1.Korither 6:20)
"Durch den Christus nun haben wir solche Zuversicht gegenueber Gott. Nicht, dass wir aus uns selbst hinreichend befaehigt sind, etwas als aus uns selbst kommend anzusehen, sondern unsere hinreichende Befaehigung kommt von Gott, der uns wirklich hinreichend befaehigt hat, Diener eines neuen Bundes zu sein, nicht eines geschriebenen Rechts, sondern des Geistes; denn das geschriebene Recht verurteilt zum Tod, der Geist aber macht lebendig." (2.Korinther 3:4-6)
"Er [JHW] kommt ueber jeden Selbsterhoehten und Ueberheblichen und ueber jeden Erhabenen und Niedrigen." (Jesaia 2:12)
"… dass ich Abrechnung halten werde wegen der Frucht der Unverschaemtheit des Herzens des Koenigs von Assyrien und wegen des Eigenduenkels seiner ueberheblichen Augen." (Jesaia 10:12)
"Dieses aber erkenne, dass in den letzten Tagen kritische Zeiten dasein werden, mit denen man schwer fertig wird. Denn die Menschen werden eigenliebig sein, geldliebend, anmassend, hochmuetig, Laesterer, den Eltern ungehorsam, undankbar, nicht loyal, ohne natuerliche Zuneigung, fuer keine Uebereinkunft zugaenglich, Verleumder, ohne Selbstbeherrschung, brutal, ohne Liebe zum Guten, Verraeter, unbesonnen, aufgeblasen, die Vergnuegungen mehr lieben als Gott; die eine Form der Gottergebenheit haben, sich aber hinsichtlich deren Kraft als falsch erweisen; und von diesen halte dich weg." (2.Brief an Timotheus 3:1-5)
"Mejor buscarse a sí es buscar a Dios en sí mismo. Y cuando andamos dentro nuestro a la busca de Dios, no es acaso que nos ande Dios buscando?" (Miguel de Unamuno, Spanischer Dichter und Philosoph, 1864-1936)
"Besser als sich selbst zu suchen ist es, Gott in sich zu suchen. Und wenn wir uns auf die Suche nach Gott in uns begeben, laesst uns nicht vielleicht Gott selbst uns auf diese Suche begeben?"
"Triebschicksal ist Lebensschicksal." (S.Freud)
"Ich weiss nicht, wer ich bin." (Augustinus Karl Wucherer Huldenfeld, Ordinarius fuer Christliche Philosophie an der Katholischen Fakultaet in Wien, 1978)
"Wer weiss, was noch alles in mir steckt? Je aelter ich werde, umso fremder werde ich mir selbst." (James A. Fischer, Philosoph, 1982)
Im griechischen Mythos faellt "aus goettlicher Fuegung" ein Blatt in den Teich, bringt das Antlitz des Narziss zum Schwingen und zerstoert so das stillgestandene, ewig geglaubte Spiegelbild. Eine Metapher fuer den eingeleiteten Tod, sobald etwas in Bewegung geraten ist. Die Suche nach dem Unbewegten (in der griechischen Philosophie war Gott der "Spiritus rector", der "unbewegte Beweger") war eine Bewegung, die bereits tausende von Jahren vor dem Auftreten des Nazareners in den vedischen Schulen kultiviert worden war. Der Yoga ist die Disziplin des Anhaltens des eigenen Geistes, dessen Stillstand den Blitz der Erleuchtung einleitete.
Das brahmanische Indien hatte ein einmaliges Verhaeltnis zu kriegerischer Aktion und meditativer Stille. Die Baghavad-Gita spielt Minuten vor einer Schlacht von Tausenden, in denen Familienangehoerige auf beiden Seiten fechten und sterben. Minuten der absoltuten Bewegungslosigkeit. Pferde, geschmueckte Kampfelefanten, Bogenschuetzen, Lanzentraeger.
Auf der Suche nach der Bewegungslosigkeit formte sich der Individualismus. Die Yogis wandten sich ab, Gauthama Siddharta wandte sich ab. Die eingemauerten Moenche wandten sich ab. Die altmexikanischen Zauberer in ihren Erdgraebern wandten sich ab. Franz von Assisi wandte sich ab. Die Bancos unserer Breiten wandten sich ab, verloren im Dschungel, oft fuer Jahre.
Doch dem Geist kann man nicht entfliehen. "Er kommt ueber jeden Selbsterhoehten und Ueberheblichen und ueber jeden Erhabenen oder Niedrigen", sagt Jesaia. Zurecht.
Narziss, ein Stigmatisierter, ein Eigenwilliger, weist die Liebe der Nymphe Echo zurueck. Ein Frevel. Von Nemesis, der Goettin des Verhaengnisses, wird er verdammt, im Spiegel Befriedigung zu finden, gleichnishaft unsterbliche Befriedigung. ("Im Hotelzimmer angekommen, entledigte ich mich meiner Kleider und onanierte vor dem uebergrossen Spiegel. Es war wie ein Zwang." Tilman Moser, Psychoanalytiker, in "Gottesvergiftung", Frankfurt/M. 1980). Es ist der Stillstand, den wir anstreben, weil wir fuehlen, dass die Bewegung, das Gefuehl, unser Verhaengnis werden kann. Wir fuehlen das Verhaengnis, ja wir sehen es. In der der Bewegungslosigkeit angenaeherten Selbstbetrachtung spueren wir, dass wir im Feuer verbrennen koennten, jeden Augenblick. Und tatsaechlich, wir leben ja im Feuer, tagein, tagaus. Wir leben in einem Wechselbad der Gefuehle, im Fegefeuer. Wir leben in der Hoelle der ueberbordenden Emotion, einer Bewegung, die glueht. Es ist die Glut des Bewusstseins, die eine sichtbare Energie emittiert und die erst recht zu Beginn am staerksten ist. Wir koennen ihr nicht entfliehen. Sie ist der Rohstoff. So wie im Mythos. Dieser thematisiert nicht die Wahrnehmungsfaehigkeit des Sohnes des Flussgottes an. Der Fluch der Goettin des Verhaengnisses besteht im Zwang zur Selbstversenkung. Sie hat nicht die Stille des Sees in ihrer Macht, doch die Ausrichtung der Aufmerksamkeit des Selbstversenkten. Er versenkt seinen Blick und erhaelt ihn reflektiert von der Stille.
Der Mythos erzaehlt nichts ueber die Motive des Narziss, warum er die Liebe Echo’s zurueckwies. Im Prozess der Natur stellte es einen Frevel dar. "Triebschicksal ist Lebensschicksal". Bei Narziss ist es ein Frevel, ein verfestigter, noch dazu verfuegter, keine Perversion. Er haelt, ebenso verfuegt, das Rad des Verhaengnisses an. Eigentlich wird er ein heimliches Liebkind der Goettin des Verhaengnisses. Sie demaskiert sich in ihm selbst. Kein Verhaengnis, wenn nichts sich bewegt. Doch hoehere Goetter treten auf den Plan. Sie lassen ein Blatt in den Teich fallen. Die Selbstreflexion wird verzerrt. Narziss, der naive, glaubt sich einen Teufel und stirbt vor Schreck.
In "Matrix, Teil 1", einem Film der auf dem Saatfeld Castanedas entstanden ist, haelt der schwarze Kapitaen dem erwachten Keanu Reeves die Realitaet in Gestalt einer simplen Batterie vor Augen. "Das ist es, was dein Koerper produziert: Elektrizitaet. Elektrizitaet, die die Maschinenwesen, die dich so wie alle anderen Menschen gefangenhalten, in Brutkaesten, zum Leben brauchen!" Die elektrische Entladung wird evoziert. "Evozierte Potentiale" nennen die Psychologen unsere Hirnaktivitaet. Etwas evoziert, will heissen, ruft hervor, eine Entladung. Eine hirnelektrische Regung, die verschieden stark ausfallen kann.
Selbstreflexion ist aber mehr als eine Hirnaktivitaet. Es ist zuerst eine Sondierung, eine Selbstversenkung. So wie im Spiegelbild. Der Spiegel schafft einen imaginaeren Raum, der den Raum vor ihm spiegelbildlich abbildet. Wir treten in Distanz zu uns selbst. Darin erst liegt menschliches Vermoegen. Wir messen den Raum bis zur imaginaeren Wesenheit, einer Duplizitaet auf Basis eines Lichtphaenomens und der Planitaet der Grenzschichte. Dieser Akt geht ueber die Selbstreflexion hinaus. Sondierung eben. Wir fahren Fuehler aus, ins Unbekannte. Wir durchdringen Dunkelheit, bis wir einen Lichtstrahl erhaschen, ein kaum wahrnehmbares Glimmen. Eine Erinnerung regt sich, ein Gefuehl. Neuronenkomplexe beginnen zu gluehen. Die Erinnerung ist Aktivierung von Bewusstsein, doch das Bewusstsein war bereits in Bewegung. Es grub sich durch den Berg und wurde fuendig. Ich erinnere mich des Damals und mit einem Mal begreife ich, was damals geschah. Ich sehe, wie mich der Vater an den Fuessen in die Hohe haelt und mir mit Wucht auf den Kopf schlaegt. Er will mich in seinem Zorn umbringen, weil ihn mein Schreien nicht schlafen laesst, am Morgen nach der Nachtschicht. Die Mutter faellt ihm in den Arm, beinahe zu spaet. 25 Jahre bin ich lebensunfaehig, zucke bestaendig, dann erinnere ich mich, in Ayahuasca. Schlagartig verschwindet mein Leiden.
Disziplin ist das einzige Kleid, das man dem Menschengeist schneidern soll. Disziplin ist der einzige Hut, der unser Haupt schuetzt. Geordnetes Denken, das an den Anfaengen ansetzt. Denn die Realitaet der Erfahrung wird von keiner Besserwisserei ausser Kraft gesetzt. Der Verstand waechst mit uns mit. Ja, wir koennen die Ungeheuerlichkeit begreifen, so wie wir die verhaengnisvolle Kraft eigenen Fehlverhaltens zu erkennen vermoegen. Schlagartig und qualvoll. Das meint der Nazarener, wenn er von der Rettung der Seele spricht. Er meint die gaenzliche Ueberantwortung unserer Seele, ihm, dem Gesalbten. Es ist eine Rueckbesinnung ganz an den Anfang. Wir waren dabei und wurden gefragt. Wir sind Kinder Gottes. Wir kamen von oben. Wir haben das Wissen. Es ist in uns eingespeichert. Milliarden von Zellen liegen in der Dunkelheit wohlgeordnet. Eines Tages bringen wir sie wieder zum Gluehen. In einer Wertschaetzung unserer selbst als einer Wohnstaette des Geistes.
So wird alles gut.