Auf einer Stufe des Nachdenkens ueber die Bedeutungszeichen, die uns in der technisierten, d.h. elektrisierten Welt mit nicht endender Impertinenz entgegenflimmern oder entgegenschallen, stolperte man eines Tages ueber einen franzoesischen, weisshaarigen, auffallend rundkoepfigen, scheinbar naturverbundenen Herrn mit Brille, dessen Blick auf beinahe allen Fotos, die von ihm erhalten sind, seltsam verletzlich und er selbst bescheiden wirkt. Ein Mann, der sich mit Angst in alle Untiefen der Gesellschaft wagte, und diese Untiefen liegen nun mal im Studium der Millionen Zeichen, die unsere Staedte und Wohnungen und Koepfe praegen, der Semiotik, und ihrer laehmenden Wirkung. Semiotik ist das Studium des Hauptes der Medusa. Jean Baudrillard gehoerte zu einer Welle von Friedenskaempfern, von intellektuellen Polarforschern, die sich der allmaechtigen Scheinrealitaet der Mediengesellschaft mit laestigem und wortgewaltigem, weil messerscharf und gleichzeitig verspielt argumentierendem Nachdruck entgegensetzten. Ein Philosoph, Soziologe und Marxist, der politisch passiv blieb, aber umso mehr argumentativen Sprengstoff lieferte. Ein Denker, der den ungehemmt gierigen Konsumismus und den ihm vorausgehenden Stachel der Verfuehrung des Konsumenten aufnehmen musste. Ein juengerer Bruder von Pasolini, dem Sueditaliener. Ein sich viele Freuden – bis auf das Geniessen franzoesischer Speisen und Weine – verwehrender Spurengaenger, der den Schleier der Maya durchtrennen wollte. Er meinte, zurecht, die Tauschgewalt des Geldes werde sich einmal in einem symbolistischen Weltenbrand, einem Inferno, selbst vernichten, einem implosiven Akt, der Scheinwerte, wie eben Aktienwerte, in Minuten-, vielleicht sogar in Sekundenschnelle vaporisiere. Baudrillard philosophierte eigentlich – unausgesprochen, denn er hatte kein Feindbild; wir alle sind Geschlagene – vom Menschentod des Kapitalisten, des Machtinhabers, der die Mittel der Verfuehrung nach seinen Absichten einsetzen kann, so wie vom Tod von uns Konsumenten, die wir entmuendigt, Treibgut in den Wellen der realen Machtverhaeltnisse, mit Illusionen von Freiheit abgespeist, in den von Richtungspfeilen vollgestopften Kanaelen – Kloaken letztendlich – treibend dahinsiechen. In der Haltung des Abstreitens, dass der eigene Tod unaufhaltsam ist und durch keinen Konsumakt aufgehalten, ja nicht einmal verlangsamt werden kann. Hinter dem Schleier der scheinbaren Welt liegt der Moment der Unaustauschbarkeit. Der letzte Moment der Durchtrennung des Vorhangs.

Baudrillard wirkt deswegen sympathisch, weil er keine philosophischen Massanzuege trug, sondern wie ein Spaziergaenger das Tagesgeschehen in einen historischen Zusammenhang und in eine Welt der verborgenen Zusamenhaenge, sozusagen eine zweite Realitaet, die Welt der Zeichen, zu stellen vermochte. Ein Mensch, dem die blosse Anschauung der fackelnden Zwillingstuerme nicht die Verpflichtung zum Nachdenken entschlug, nun nicht ueber die Rache und ihr Mahlwerk, doch ueber die Saat.

Mit Jean Baudrillard, so die Betroffenen in den letzten Tagen, endete eine Generation, eine Epoche. Ja. Ein wehmuetig stimmender Verlust. Ein Beispielgeber? Ja! Sein Bild zum Einrahmen. Warum nicht.

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