Die Makellosigkeit des Don Juan Matus

Er ist die Referenzperson. Ein täglicher Begleiter. Ja, ein täglicher Begleiter. Als solcher steht er natürlich in der Versuchung, verdrängt zu werden. Oder sagen wir besser: ignoriert zu werden. Aus gutem Grund ignoriert. Don Juan Matus, der Nagual aus Sonora, etwa 1973 von dieser Welt gegangen, im mexikanischen Zentralbergland. Eine geradezu mythologische Gestalt. Ein Zauberer (was auch immer das dem unverständigen, intellektuell-aufgeklärten Schnellschießer bedeuten mag). Ein Mann der Jenseitigkeit. Ein Mann, der, so in Castanedas famosem Werk glaubhaft und beredt (ja, glaubhaft und beredt) nachzulesen, mit seinen Mitstreiterinnen und Freunden am Ende seines Lebens freiwillig und gekonnt fortging, in eine höhere Dimension, die er die „dritte Aufmerksamkeit“ nannte. Ein Yaqui-Indio. Eine durch und duch geheimnisvolle Gestalt, die in das Leben des Carlos Castaneda wie ein Blitzstrahl einschlug. Ein Mensch, ein Nagual, der, soweit dies verständlich klingt, eine messianische Mission auf sich nahm.

Das Wort „Messias“ meint „der Gesalbte, der von Gott Gesalbte“. Er ist der „Heilsbringer“. Er bringt göttliches Heil. Das war durch und durch mißverständlich, als es soweit war, denn die Juden Israels erwarteten sich zuerst politische Freiheit, Freiheit von den Römern. Sie erwarteten sich einen göttlichen Handstreich, eine Außer-Kraft-Setzung der militärischen Realität. Man könnte auch sagen, der Realität des Bösen, denn Rom stand im Bewußtsein der Juden für das barbarische, glaubenslose Bewußtsein eines Usurpators. Aber der Nazaräner war nicht militant. Er paktierte nicht mit den „Messerstechern“, den Sikariern, den Zeloten. Er war der Friede in Person schlechthin. Er redete den Leuten ins Gewissen, aber wie. Und er zeigte den Damaligen den wahren Gott. Den Gott mit menschlichem Antlitz. Und nicht nur den Damaligen. Auch noch uns, uns, den 2000 Jahre Entfernten, leider, leider, möchte man sagen. Leider waren wir damals nicht dabei. Wir hätten uns mit eigenen Augen davon überzeugen können, was damals dort, in Galileia und Judäa, vor sich ging. Seine Taten, seine Worte. Wir hätten ihn sehen können. Wie hat er ausgesehen, der Nazaräner? War er klein oder groß? War sein Haar gekämmt oder war er zerlumpt? Hatte er blonde Augen oder schwarze? War er ein vorzeigbarer Hollywood-Typ oder war er ein Underdog, einer, der insgeheim Bomben warf oder der einen Sprengstoffgürtel unter dem Übergewand trug, vor dem man sich fürchten mußte? War er vielleicht ein Jihadist, der keine Sekunde zögert, sich selbst in die Luft zu sprengen und dergestalt seine Umgebung mit in den Tod zu ziehen? Wir driften fort von diesen ominösen drei Jahren, diesen plus minus drei Jahren, bevor sie ihn mit der Kreuzigung mundtot machten. Wir driften fort, und mit jedem Jahr mehr des Fortdriftens in dieses Meer des fortschrittsgläubigen Schreckens wird unser Glaube umso mehr beansprucht. Ja, das ist es, was uns unter den Nägeln brennt, dieses Fortdriften vom Ursprungsereignis, nach welchem sich unser abendländischer Kalender bis heute orientiert, das Fortdriften in eine Stille, in der, wie wir meinen, die Stimme des Heilands verhallen muß. Wie will er denn sein Wort aufrecht erhalten, in diesem Meer des Schreckens, in diesem Meer der Heillosigkeit? In diesem gorgonischen Meer, in dem die Gorgonen jeden Moment ihr Haupt aus den Fluten erheben können, so wie Medusa, und alles mit ihrem Blick lähmen werden? Ja, der lähmende Blick. Der Blick der Starre, der Blick des Hasses, der Blick des Mordens, der Blick purer Zynik. Der Blick der Gottlosigkeit.

Zeitlebens hat mir, dem kleinen Max, nichts mehr zu schaffen gemacht als der Blick der Gottlosigkeit in meinem Gegenüber. Und das ist die Wahrheit. Sie haben nicht nur nie über Gott gesprochen, nein, viel schlimmer, sie haben mir zu verstehen gegeben, daß Gott für sie nicht existiert, und dementsprechend haben sie sich verhalten. So wie die Schlächter im Kolosseum; oder so wie die Stierschlächter in Spanien, diese hochdekorierten, zu Gecks verkleideten Mordbuben. Die spanische Stierkampfarena, das ist der moderne Mensch, – Tiergesetze hin oder her. Wen kümmert’s? Mit jedem Jahr mehr verbrennt sich die Sonne immer mehr. Irgendwann wird sie in einer Nova explodieren, trompeten sie uns ins Ohr, dann, wenn das Gestirn uns, den Planeten, bereits lange zuvor verschluckt haben wird. In ferner Zukunft.

Da lebte also ein Mann, ein Indio, aus der Wüste von Sonora. Er pendelte zwischen Arizona und Sonora. Keiner wußte, wer er war. Er muß um die 70 gewesen sein, und er hatte schneeweißes Haar. Doch vieles an ihm war höchst irritierend. Höchst irritierend. Sein Blick, seine Jugendlichkeit, die Unvorhersagbarkeit seines Verhaltens. Niemand konnte sagen, wer er war, und schon gar nicht, wie er war. Castanedas Begleiter, der die beiden zusammenführt, hatte von ihm bereits gesprochen. Der Unsympathler schlechthin. Der, der ihn unwirsch zusammengestaucht hatte. „Quassle nicht soviel Unsinn! Spar dir vielmehr deine Energie! Du wirst sie noch brauchen!“ Für den Todeskampf. Der Nagual sah den bevorstehenden Tod der Menschen, die seinen Weg kreuzten. Jener Menschen, deren Tod sich vorbereitete, indem er sich wie eine drohende, dunkle Gestalt über ihrer linken Seite erhob. Das ist doch wohl nicht jedermanns Perspektive. Damit fing es an, in der Bushaltestelle von Nogales, auf amerikanischer Seite. Ein elementares Ereignis, geschichtlich bedeutend. Wer Ohren hat, der höre, wer Geist hat, der sehe. Natürlich, für die allermeisten ist das nicht von Belang, doch an diese wende ich mich heute nicht. Noch nicht. Wir stecken heute das Feld ab, das Feld zwischen Lüge und Wahrheit.

Wir leben heute in einer Zeit des nie dagewesenen Relativismus. Benedikt XVI. hat gerade das schlaflose Nächte bereitet, dieser Relativismus. Der Pole, Benedikts Vorgänger, nannte es anders: Eine Kultur des Todes. Eine weltumspannende Kultur des Todes. Dieser Ausspruch gefällt mir besser, weil er das Phänomen des Mordens direkt anspricht. „Phänomen“ ist hier eigentlich deplaziert, ja Hohn. Ich sage es so, wie ich es gelernt habe: Die Todsünde des Mordens. Doch auch der Relativismus wird uns im Handumdrehen das Genick brechen, wenn wir so weitermachen. Jede Disjunktion, so sagt der Relativismus, ist relativ. Gut und Böse, Leben und Tod, Zufall und Notwendigkeit, Gesundheit und Krankheit. All diese Disjunktionen zählen im Grunde nicht, sagen sie.

Die Konsequenz: Alles ist erlaubt. Wie sagte doch Barrack Obama so treffend: „Zur ISIS haben wir noch keine Strategie entwickelt.“ Zu dieser siebenköpfigen Hydra hat die Militärmacht Nummer Eins noch keine Strategie entwickelt, denn sie führt den Herren der CIA das eigene Gesicht vor, das Gesicht des Bösen. Die Gorgone erhebt ihr Haupt, und alle der sozialen und beruflichen Hoffnung Beraubten strömen ihr zu, aus 80 Ländern. 15-Jährige inbegriffen. Und die Gorgone nimmt ihnen als erstes die Angst vor dem Sterben. Im Gegenteil: Als erstes gibt sie den Verführten eine Orientierung, einen Sinn. Den Sinn, wofür zu sterben. Etwas, das im Westen verleugnet wird. Denn Sinn ist im Zeitalter des Relativismus ein Unding. Im Zeitalter des „blinden Zufalls“ ist Sinn ein Unding, eine Unperson. „Sinnerfülltes Leben“ ist in unseren barbarischen Zeiten ein Synonym für Egoismus, politisch diskredidierten Egoismus. Die Priester sind Egoisten, sagen sie. Die Nonnen sind Egoisten. Deren Leben biologisch wertlos, sagen sie. Denn sie pflanzen sich nicht fort. Und diese Schwarzkittler verbreiten Lügen, Illusionen, Opium. All diese Kirchenleute sind Drogenhändler. Sagen sie. Und jetzt kommt ISIS. Islamischer Fundamentalismus. Schon seit Jahrzehnten treffen sie Uncle Sam auf dem falschen Fuß an, und mit ihm The British Empire.

Der Nagual Juan Matus sieht den schwarzen Schatten, wie er sich erhebt. Er ist ein Seher. Doch wir machen weiter wie bisher. Wir rauchen weiter Marlborough, denn das ist cool. Rauchen bis zum Tod. Amen. Sich zu Tode Rauchen ist eine Option.

Wir sind mitten im Dritten Weltkrieg, sagt Papst Franziskus. Die Wirtschaft bringt uns alle um. Welches Wort braucht es noch mehr? „Weltkrieg“. Wir verzeichnen ein alarmierendes, schrecckenerregendes Hochspringen der Selbstmordquote. Ein fürchterliches Hochspringen. Suizid. Depression. Allgemeiner Krieg. Doch die bezahlten Kalmierer, die Statistiker, halten dagegen. „Die aktuellen Selbstmordzahlen sind statistisch nicht signifikant.“ So reden sie tatsächlich.

Der Nagual sagt, die Menschheit steht auf dem Spiel. Die Menschheit steht in Frage. Er verwendet nicht den Begriff „Spiel“. Für ihn existiert Spiel nicht mehr. Er ist kein Kind mehr. Er ist 70, ein Seher. Er sieht den Tod. Er sagt, wenn wir, wir alle, weiterhin so tun, als würden wir ewig leben, ist das unser aller Untergang. Er sagt es noch viel drastischer zu seinem Schüler. Unser Leben kann in jeder Sekunde enden, ohne Vorwarnung.

Sehen Sie? Hier wurzelt die Lüge. Das ist der Ort, wo die Lüge einwurzelt. In der Ignoranz dieser energetischen Grundwahrheit. Die Ignoranz bäumt sich wie eine Hydra auf und gebiert die Lüge. Mit dieser Lüge fängt alles an.

Er erklärt es ihm anschaulich. Dein Leben kann jederzeit enden, ohne Vorwarnung. Jede deiner Handlungen kann deine letze sein. Es bleibt dir also nichts anderes übrig, als jede deiner Handlungen so makellos als möglich auszuführen, selbst das Zubinden deiner Schnürsenkel. Alles kann dein Ende bedeuten. Du hilfst deinem ehrwürdigen, 85-Jahre alten Professor in den Mantel. Dann brichst Du tot zusammen. Dein Kind zeigt Dir ein LEGO-Kunstwerk, doch du hängst über dem Computer. Das Kind grüßt Dich, doch du arbeitest stur weiter, wendest nicht den Blick. Du gehst durch die Strassen, doch du bist nicht bei dir. Es kann jederzeit enden, so wie bei den Formel-1-Fahrern, diesen Verirrten, oder dem Tiroler Bau-Sicherheitsbeauftragten im niederösterreichischen Bahntunnel. Der Bagger fährt rückwärts. Tod.

Der Tod kann uns jede Sekunde ereilen.

Ja und?, wirft jemand ein. Was soll’s? Wieso soll das mein Problem sein? Ich habe das nicht eingerichtet. Mein Tod ist nicht mein Problem, siehe ISIS. Siehe die Tschetschenen. Sprengen sich in Moskau in die Luft. Mein Tod ist nicht mein Problem, mein Leben, im Grunde genommen, auch nicht. Das alles habe ich mir nicht selbst eingebrockt. Das hat ein anderer für mich getan. Was also soll der Spaß, wenn nicht ich mir nicht selbst auch den nötigen Spaß gönne, denn Spaß gehört zum Leben, anders hält man es doch nicht aus, nicht wahr, Partner? Und was soll diese Rede von Makellosigkeit? Was bilden Sie sich denn eigentlich ein, wenn Sie diesen obszönen Begriff der „Makellosigkeit“ in den Mund nehmen? Wer ist schon makellos, und vor allem, wenn ich’s recht überlege, für wen? Einen Makel aufweisen, ja warum nicht? Ja, noch mehr: Warum überhaupt dieses schale Gerede? Nichts als Gerede. Wo steht das geschrieben, daß man makellos sein sollte? Sterbe ich etwa deshalb anders? Ändert das auch nur das Geringste an meinem Tod? Sie wollen mir doch nicht etwa einreden, daß es nicht unerheblich ist, wie man stirbt? Was soll das? Mit dem Tod ist es aus, merken Sie sich das, Herr Nachbar. Im Grunde genommen ist es sogar unerheblich, ob ich als Selbstmörder, als Mörder oder als zahnloser, seniler Pensionist sterbe. Nicht mein Problem. Oder etwa nicht? Beweisen Sie mir das Gegenteil!

Das ist die Rede. Viele Fragen. Doch die eigentliche Frage dabei: Wer redet hier? Wer redet hier wirklich? Sind es wirklich wir, die hier reden?

Die Frau des Hiob aus dem gleichnamigen Buch des Alten Testamentes bringt es auf den Punkt, diese Rede, diesen Anwurf. „Was willst Du noch?“, schilt sie ihren halbverrückten, vom Aussatz übersäten Mann im Staub. „Fluche Gott und stirb!“

Was für eine Rede… „Fluche Gott und stirb“. Ich kenne keine fürchterlichere Rede. Die Rede der Trostlosigkeit. Das einzig Trostvolle in dieser Willenserklärung einer Ehefrau: Offenkundig ihr Glaube an die unendliche Stille des Todes. Das glaubt die Frau des Hiob. Und gleichwohl auch hier die Frage: Wer redet hier?

Aber der Nagual Juan Matus, ein Heilsbringer des EINEN und WAHREN, will mit der makellosen letzten Tat auf etwas Anderes hinaus. Er will auf die Würde der menschlichen Person als einer Emanation der Unendlichkeit hinaus. Wir Menschen, so sagt er, so sieht er es, sind eine Emanation Gottes. Wir sind Navigatoren im unendlichen Meer des Bewußtseins. Im dunklen Meer des Bewußtseins. Wir sind erfüllt von Dunkelheit. Die Astronomen heute, in diesem Jahr 2014, haben sich zu einer neuen Erkenntnis durchgerungen. Das Weltall besteht zu 97% aus dunkler Materie und dunkler Energie. Über beides kann nichts gesagt werden. Die restlichen 3% sind meßbar.

Dunkelheit. Wir kommen aus der Dunkelheit, tragen die Dunkelheit in uns und gehen in die Dunkelheit zurück. Sagt Juan Matus. Deshalb Makellosigkeit. Die einzige und wahre Aufgabe des Menschen. Stets das Beste zu geben und noch ein bißchen mehr. Stets. Schon ein kurzer Blick auf diese Forderung sagt mir, dem werde ich mich nicht entziehen können. Und dieser Forderung will ich mich nicht entziehen. Oder wie Matthäus in Kapitel 5, Vers 48 das Wort des Herrn überliefert: „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ Danke. Amen.

 

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  1. Dialog mit dem Lehrer

     

    „Was ist christliche Mystik, Herr Professor?“

    „Das Staunen, was direkt vor unseren Augen geschieht. Im großen Maßstab. Die Welt als Ganzes. Und mit ihr die Menschen. Sagen wir, die Menschheit. Und der Herr, wie er hier auftrat, in dieser Welt.“

     

    „Was heißt es, er werde wiederkommen, am Ende aller Tage?“

    „Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Viele evangelische Gemeinden erhoffen sein Kommen noch zu Lebzeiten. Sie sind der Verhältnisse überdrüssig. Man darf es ihnen nicht verargen. In der Tat berührt dieser Punkt ein Problem der menschlichen Befindlichkeit, Befindlichkeit in der Zeit. Wir können es auch als das Problem des Bewußtseins schlechthin titulieren. Das erschreckende Bewußtsein, das Angst macht. Der Mensch erlebt sich als bewußtes Wesen. Er entkommt seinem Menschsein nicht. Das weiß jeder, auch Sie und ich. Auch die Apostel standen vor diesem Problem. Es war im gewissen Sinn sehr arg, denn sie waren drei Jahre lang mit dem Herrn gewandelt. Ihre Wege waren Spurenlegungen der allermächtigsten Weise. Sie erkannten in einem Moment, daß sie alle sterben würden, gewaltsam, so wie der Herr, doch sie wagten nicht laut auszusprechen, was danach sein würde. Denn da gab es das Wort des Johannes so wie das seiner Mutter. Denn diese wiederholten die Worte des Herrn am Kreuz, das eine Wort zum gerechten Schächer. „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ Die Jünger wußten also, sie würden bei ihrem Tod ihrem Herrn sofort gegenübertreten und wieder mit ihm vereint sein, in aller Ewigkeit, im Himmel. Und sie würden Gott schauen. Deshalb waren sie bereit, als Märtyrer zu sterben, ob in Indien oder in Spanien. Der Begriff „Am Ende der Zeit“ kann nur in aller Demut entgegengenommen werden. Nicht im Sinne von kosmischen Weltkatastrophen. Das ist zu billig.“

     

    „Ihr Lehrer Romano Guardini spricht davon, Gott könne seine Schöpfung jederzeit widerrufen. Ist das nicht etwas gewagt?“

    „Nein, ganz und gar nicht. Guardini hatte manchmal solche Anwandlungen. Das zeigt, welchen Charakter er hatte. Damit ist er übrigens nicht allein. Mit dieser scheinbaren Mickrigkeit, die meint, bei Gelegenheit mal eine große Volte schlagen zu müssen. Die Idee überkam ihn. Das kann man nachlesen. Man spürt es. Er wird sich in einem Moment bewußt, daß alles Reden von Gott Gerede ist. Er wird sich bewußt, was „Macht“ eigentlich sagen will. Das Vermögen, Leben ins Sein zu rufen. Sie verstehen, daß selbst der Begriff „Vermögen“ hier ungenügend ist. Seiendes wird ins Sein gerufen.“

    „Sein…“

    „Ja. Das Sein selbst ist der Logos. Aus dem Nichts heraus. Sie verstehen mich.“

    „Und das Sein selbst wandelt sich, wie Sie klargestellt haben.“

    „Ja, das Sein über dem Nichts ist gewollt.“

    „Wille.“

    „Wille vor Absicht. Das wollten Sie ja gerade sagen. Aus gutem Grund. Sie sehen, das ist eben gerade nicht der Tod.“

     

    „Herr Professor, Jähzorn ist eine Schwäche.“

    „Ich kann Sie gut verstehen. Sie sind damit nicht allein. Der große Geist ermißt sich daran, wie Sie diese Bedingung überwinden. Das sind dann individuelle Rezepte. Intelligenz geht oft mit Jähzorn einher. Dummheit nicht. Das zeugt von der Hartnäckigkeit der Infantilität, infantilem Größenwahn, und Narzißmus. Ich bin mir sicher, Sie konnten Heinz Kohut etwas abgewinnen. Ein Spezialist, so wie die gediegenen Vertreter der Analyse.“

    „Ich könnte der Gerechtigkeit halber auch noch Ärger, Groll und Haß hinzufügen.“

    „Den Haß nehme ich Ihnen nicht ab. Haß ist nur Verblendung. Verfallen Sie bitte keinem Irrtum. Doch Ärger und Groll sind Phänomene. Sobald man ihnen auf die Spur kommt, wird es leichter. Der Herr steuert Mut und Glauben bei. Oder sagen wir besser, er schickt uns den Geist, um diesen Kanaillen standzuhalten.“

     

    „Kannten Sie Erwin Ringel?“

    „Wie denn nicht? Er war Arzt mit Herz. Ein österreichischer Patriot.“

    „Er verlor seinen Sohn. Angeblich durch Selbstmord.“

    „Ja. Tragisch.“

    „Und Viktor Frankl?“

    „Frankl muß man verstehen. Der Arzt in Auschwitz. Seine Frage nach dem Sinn traf einen Nerv, erst recht den Nerv der Amerikaner. Allerdings ist seltsam und eigenartig, daß er mit Sinnquanten arbeitete. Es ist verständlich, aber nicht haltbar.“

    „Wenn ich heute darauf zurückkommen darf, hat sich in diesen letzten 50 Jahren Ihr Verständnis von Sinnquanten verändert?“

    „Das wohl! Sie Spitzbub! Ich weiß, worauf Sie hinauswollen! Sie sind ein existentialistischer Quantenpsychologe. Das können wir wohl so festhalten. Sinn kann sehr wohl aus dem Nichts entstehen. Man muß nur ein bißchen Buddhist spielen. Wie sagen Sie im Schach? Man muß die Stellung lesen. Man muß den Geist lesen, sagen Sie im Schamanismus. Ja was denn sonst? Sinn ist die Sprache des Geistes. Der Logos dröhnt laut. Man kann im Nu zerplatzen.“

    „Mein Meister Agustin sagte immer, „Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“

    „Das könnten sich alle Priester hinter die Ohren schreiben, erst recht die humorlosen.“

     

    „Ich habe letztens erfahren, daß Sie grünen Tee Earl Grey vorziehen.“

    „Aus einem simplen Grund: dem japanischen muß man auf den Grund gehen. Bei englischem Tee wird einem der Geschmack am Silbertablett serviert. Und das könnte meine Schreibtischarbeit korrumpieren. Verstehen Sie?“

     

    „Wie Sie gegen die Nazis Flugblätter gedruckt haben, hatten Sie da keine Angst, so wie die Weiße Rose hopps genommen zu werden? Hopps genommen und geköpft.“

    „I wo. Das war alles Abenteuer. Und daß hier der Teufel direkt vor der Haustüre urraßt, das wußte jeder. In diesem Alter, mit 15, sind Sie heilig. Sie wissen untrüglich, Sie müssen was tun. Wir hätten mit Füchsen oder Dachsen im Waldversteck schlafen können, es wäre nichts passiert.“

     

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  2. Überall Engel

    Mutter Ayahuasca lehrt vielerlei Dinge, dürfte ich sagen. Sie erzieht uns geradezu. Das fängt mit dem richtigen Fragen an, dem Fragen und dem Suchen nach haltbaren Antworten. Das kommt nicht sofort, sondern mit der Zeit. Während man wartet und herumstöbert, merkt man, da tut sich eigentlich Entscheidendes. Ich werde tatsächlich ein anderer Mensch, ein neuer, sozusagen. Nichts willkommener als das. Doch gleichzeitig heißt es den Schock der Selbsterkenntnis auszuhalten, die Dimension der eigenen Dummheit. Dummheit und Frivolität, denn Besseres fiel mir nicht ein in allseits lähmender Furcht und scheinbarer Verzweiflung. Frivolität und Hysterie, wie mir es Agustin schon früh direkt auf den Kopf zusagte. Damals war ich erstaunt. Woher kennt er überhaupt diesen Begriff? Wie kann er sich anmaßen, diesen Begriff auf mich anzuwenden? Er, dieser Dschungelkautz. Das jedoch ist bereits eine typische Ayahuasca-Frage: Woher nehmen die Menschen ihr Urteil gegenüber anderen Menschen? Auch ich. Was drängt mich zu urteilen? Wozu urteile ich? Ayahuasca ist eine Universität, akklamierte Agustin eines Tages. Eine Pflanzenuniversität. Man diätiert Pflanzen und lernt. Das reinigt und klärt den Geist. Die Indios reden genauso. Doch was man lernt, darüber schweigen sie alle. Wohl, weil es zu persönlich ist. Das Lernen unter Diätbedingungen ist ein Lebensprojekt, ein nie endendes. Somit könnten wir sagen, es ist die Schule des Lebens. Ja, das sehr wohl. Dieses Lernen geht weit über jene Dressur hinaus, der wir gewaltsam unterjocht wurden. Das Lernen von Pflanzen ist im höchsten Maße feinsinnig und abstrakt, doch solche Abstraktheit meint nur die Gestalt, die Struktur des Wissens. Was Wissen ist, kann man nicht sagen, sagt Don Juan Matus an einer bestimmten Stelle. So wie der Geist und die Absicht. Doch was wir sagen können, und dies erstaunlicherweise mit Bestimmtheit, es ist höchst persönlich. Es entwickelt uns. Es fördert unsere Menschlichkeit, unser Gut Sein. Das doch ist das Allerwichtigste. Das Gutsein gestaltet sich. Es nimmt Formen an. Schon steht der Dalai Lama in der Tür und lächelt freundlich. („Meine Religion ist simpel und einfach: Freundlichkeit!“). Jetzt verstehe ich! Er hat vollkmmen recht. „Je mehr Sie motiviert sind durch Liebe, umso furchtloser und freier werden Ihre Handlungen sein.“ Ich gehe also auf die Leute zu, uneingeschränkt. In stiller Liebe. Dazu muß ich mich, verständlich, zeitweise durchringen, doch der Willensakt trägt Früchte. Nicht Früchte im Sinne von Ernte. Früchte als Erkenntniselemente mitten im Handeln. Ich erkenne die Struktur meiner Motive. Ich ahne ein immenses Geflecht von Gedanken, in denen ich die längste Zeit unreflektiert festhing, wie eine Spinne in klebrigen Fäden, bereit, stets das letzte Wort zu beanspruchen. Die Gedanken kreisten naturgemäß um das eigene Ich. Doch da – siehe an! – kommt ein Weggefährte, ein altbekannter. Er kommt gerade aus Nepal und trägt Erkenntnisse zur Ichanhaftung im Tornister. Das war seine Lektion aus der zurückliegenden Reisemeditation. Wie hängt Ichanhaftung mit Gedankenrasen zusammen. Und erst recht Ichanhaftung mit der Sorge, was passieren könnte, wenn ich über eine gewisse Strecke nicht mehr denke. Das ist ein typischer Diätgedanke. Vielleicht ein zerbrechlicher, doch dafür umso haltbarer. Ein intimer Urgedanke sozusagen. Ich erlebe die ungetrübte Wohltat der erhebenden, erleichternden Wirkung regelmäßiger Pflanzeneinnahme samt Diät. Mein Hunger, meine Gier lösen sich allmählich auf. Ich kann konzentriert miterleben, wie etwas in mir zettert und sich aufregt. Ich bekomme meine eigenen Reaktionen am Silbertablett serviert. Mein Ärger, mein Selbstmitleid und tausend andere Gefühlsregungen. Doch gleichzeitig spüre ich untrüglich, wie mich etwas fest im Griff hält. Erstaunlich! Meine Aufmerksamkeit erreicht neue Qualitäten. Und ich genieße es heimlich, ohne damit hausieren zu gehen. Jetzt ist der Moment gekommen, wo neue Qualitäten Form annehmen: Geduld etwa. Geduld und Langmütigkeit. Die werde ich wohl brauchen auf den Stadt- und Dorfstraßen Europas, in den überfüllten Schnellzügen. In der Kampfzone sozusagen generell. Sagte ich gerade „Kampfzone“? Ja. Doch Kampf in neuem Sinne! Aufmerksamkeit! Sei aufmerksam! Und beschwere dich nicht, daß Aufmerksamkeit Kraft verlange. Die hast du doch zur Genüge. Was du da ins Feld führen könntest, sind faule Ausreden. Trägheit, Behebigkeit, Verlogenheit. Altbekannte falsche Freunde. Geh dein Tempo, doch geh es stetig. Du wirst nicht zusammenbrechen. Und eine Pause, eine kurze Rast, ist allemal angeraten. Genieße die Aussicht. Du wirst sehen. Es tut dir gut. Du hängst nicht in der Wand. Niemand hat von dir verlangt, wie Tom Cruise selbstverliebt in der Wand zu hängen. Du wanderst und du steigst. Das nennen wir Gebet. Nutze jede menschliche Begegnung zu einer Fürbitte. All diese Menschen sind gerade heute (heute!) einzigartig. Nur allzu bald werden sie nicht mehr sein (so wie auch du nur allzu bald nicht mehr sein wirst). Sie alle sind Botschafter der Unendlichkeit. Du weißt doch, Wahrheit ist nicht auf Pathos angewiesen. Und mit der Wahrheit kommt Heil. Immerwährendes, unverbrüchliches Heil. Mut. Hab Mut, mein Kind! „Danke, Mutter!“

     

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