Heiligabend 2020

There is a crack in everything“ (Leonard Cohen)

Die Zeit ist aus den Fugen, so scheint es. Praktisch niemand aus meinem näheren oder ferneren Bekannten- und Freundeskreis möchte von sich behaupten, er verlebe gegenwärtig eine unbeschwerte Zeit. Das Virus zieht vielen den Nerv. Totalitarismen regen ihr Haupt und tauchen wie Untote aus den Erdschollen brachliegender Felder empor. Der strafende Blick, das giftige Wort. Da und dort Erstaunen, doch immer auch Angst. Nur meine Saufkumpane auf den Bahnhöfen geben sich gesellig wie immer. Die Bahnhöfe Österreichs: sie sind auch nicht mehr wie früher. Und überall rasen die Züge mit Hochgeschwindigkeit durch. Kinetische Energie, die alles vibrieren läßt. Glorreiche Zeit der Siebziger, wo bist du geblieben? Orient-Expreß, wo bist du geblieben?

Wahrhaftig, alles ist verändert. Kein Stein auf dem anderen. Fundamentale Wahrheiten müssen neu erkämpft werden, Kälte besiegt, Vertrauen neu errungen. Die Ratlosigkeit steht vorerst allen ins Gesicht geschrieben. Nichts geht mehr. Das Heer der Pensionisten stimmt einen Klageruf an: „Der Tod macht uns alles öd. Sieht es denn niemand, wie alles wertlos wird?“ Fürwahr, in dieser kalten, dunklen, europäischen Zeit möchten sich viele nur in ihr Bett verkriechen und von nichts mehr hören. Der Aufschrei ist nicht mehr zu unterdrücken. Die Witwen weinen. Überall sind die Männer fortgestorben. Hinwegggeheigt, wie sie am Land sagen. Das Virus verbricht einen Kahlschlag sondergleichen. Niemand will davon berichten. Alle stellen sich die gleiche Frage: Wie soll dies weitergehen? Und alle tauchen bei der Suche nach Antworten in ihr persönliches Meer ab. In ihre ganz persönliche Dunkelheit, die zum ersten Mal bewußt durchkreuzt werden will. Dieses Virus, eines von unzähligen, hat tatsächlich den peripheren Stillstand zuwege gebracht. Alle sinken vor Müdigkeit nieder. Und manche sterben. Und manche werden exekutiert, so wie in den USA, diesem durch und durch katastrophalen, heillosen Staat. Ja, manche sterben, bekannte wie unbekannte Leute. Die Mehrheit unbekannt. Auf Lesbos drohender Erfrierungstod. Kleinkinder von Ratten angenagt. Niemand will darüber sprechen. Wir haben ja selbst genügend Sorgen. Ja, welche Sorgen nur? Immerhin eine ganze Menge, möchte ich ehrlich gestehen. Die Unheimlichkeit des Seins; die allgemeine Dummheit; die Verblendung; der schleichende Lebensüberdruß; die Einsamkeit; das allgemeine Sklaventum; die allgemeinen Verbrechen an der Natur; das schreiende Unrecht; die Geldgier. Und so weiter, und so fort…

Doch es gibt Lichtblicke, und deren sogar nicht wenige. Da gibt es Menschen, die mir wie vom Lieben Gott geschickt vorkommen. Ein junger Mann bietet sich an, mir beim Aussteigen aus dem Zug in Wien Meidling behilflich zu sein. Als ich seine Geste mit leichtem Erstaunen ablehne, läßt er immer noch nicht locker: „Ein Herkules!“ Ich gaffe ihm unverhohlen nach und wünsche ihm mit lauter Stimme Gottes Segen. Ihn freut’s, doch er will sich nichts anmerken lassen. Niemand in den öffentlichen Verkehrsmitteln raunzt, als ich zur Botschaft losstrample. Die Jenseitigkeit der Zeit ist mit Händen zu greifen. In St.Pöltens Bahnhofshalle kommentiert die junge Verkäuferin beim Überreichen meiner ersten heißen Leberkäsesemmel seit Jahren keck: „Der nette Herr bekommt Rabatt, weil er mit dem Käseleberkäsescherzerl sein Auslangen findet.“ Augenblicklich finde ich mich im Ausnahmezustand. Zwei abgefledderte Kumpane machen mir mit genialer Lockerheit Platz, als ich mich neben sie setzen möchte. So also sehen Engel aus, denke ich unwillkürlich. In Österreich steht die Zeit still, alles gleitet schleichend ins Jenseits hinüber. Wer weiß, ob es heuer überhaupt Weihnachten geben wird? Und wer weiß, ob es in Europa nicht gar einen Tag geben wird, an dem keine Sonne aufgeht? Möglich ist ja alles, auch wenn es in Peru ganz anders aussieht, anders im Sinne von 37.000 Toten, über die sich niemand beschwert, denn die Menschen haben andere Sorgen als dieses Virus, dessen ja sowieso mittlerweile bereits alle überdrüssig sind. Wer trägt noch Masken in Iquitos? Am Markt vielleicht. Ansonsten nicht mehr. Trotz der subtilen Form hat sich überall Verdruß breit gemacht. Und im Hinterland, sei es in den Anden oder im Dschungel, will von dieser Pandemie eigentlich ja niemand mehr etwas wissen. Wozu auch? Weshalb sich sorgen? Wovor sich fürchten? Die Blitze, die nächtens einschlagen, sind da viel konkreter. Die Donner, die ganze Dächer zum Beben bringen, erst recht. Doch die Kinder schlafen wie die Engel, und so auch die Hühner im Hühnerhaus. Und die Schildköten in ihrem Teich kümmert das bißchen Naß mehr doch keinen Deut, und die Landschildkröten sitzen in ihren Verstecken, in den selbstgegrabenen Höhlen, und keiner sieht ihnen an, was sie denken, diesen eigensinnigen Kerlen und Bräuten in ihrer zumeist stoischen Ruhe. Vorbilder noch und nöcher. Friede inmitten von Getöse.

Eine Dame, verdienstvolle Mitarbeiterin der Caritas, ruft mich um halb Fünf in der Früh an, nicht zum ersten Mal, doch diesmal doch überraschend. Ich muß mich erst zurechtfinden in meiner Tiefschlafphase. „Lieber Herr H.“, beginnt sie das Gespräch wie unter Hochdruck, „stellen Sie sich vor, heute früh, direkt nach dem Aufwachen, hab ich verstanden, was das Eigentümliche war zwischen mir und meinem verstorbenen Mann: Wir haben immer um das letzte Wort gestritten, direkt oder indirekt. Ich habe ihn geschulmeistert, in meiner brachliegenden Angst, ihn beim geringsten Anlaß zu verlieren. Ich habe es immer gespürt, er fühlte sich von Grund auf unverstanden, erst recht von mir, doch ich habe nie die Courage aufgebracht, ihn deshalb zu hinterfragen. Er war schüchtern und von Minderwertigkeitskomplexen geplagt. Ein Mann intensiver Empfindungen. Zerrissen von seinen eigenen Impulsen, die er nie auslebte, und der Überzeugung, die Menschen wären alle nur zänkisch, hinterhältig und auf Versklavung bedacht. Niemand kannte sich aus bei ihm. Doch heute, nach Jahren, bekomme ich ein Gefühl, was ihn wirklich bewegte. Heute, nach Jahren. Er wollte sich nie mitteilen. Er mißtraute mir, weil er meinte, ich wolle ihn nicht verstehen. Nicht, daß ich ihn nicht verstehen hätte können, nein, das meinte er ja gar nicht. Er war tatsächlich der Ansicht, ich wolle ihn nicht verstehen, und zwar deshalb, weil er meinte, ich wäre im Grunde, im Inneren, genauso böse wie alle anderen Fuchteln seiner früheren Biographie, eine Verräterin und Diebin, die ihm seine Lebenskraft stehlen möchte wie eine Schwarze Witwe. Das ist doch allerhand, oder? Und stellen sie sich vor, erst heute, ganz plötzlich, ist mir dies gedämmert. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Keiner hätte jemals von ihm gesagt, er wäre ein besonders tiefgründiger Denker. Er, der brave Bundesbahner, dem die Hobbies wichtiger waren als sein Beruf. Ich weiß jetzt, er wußte ganz genau um meine Untiefen, meine Launen, mein Unverständnis. Heute. Doch er ließ es sich nicht anmerken. Er spielte den verschrobenen Privatier, der sich auf das Wursten verstand. Das habe ich Ihnen noch nicht erzählt, gell? Keine bessere Wurst als die von seiner Hand. Perfekt geräuchert in seinem Kamin, den er sich in der Tischlerei beim Nachbarn gebastelt hat. Ich habe mich immer gefragt, von wo hat er diesen Fanatismus her? Das Schachspielen daneben war da geradezu nur ein müdes Augenzwinkern. Er, der Schwerhörige. Er, der Schwierige. Von wegen schwierig! Die Schwierige war ich. Und als er merkte, mit mir gibt es kein Fortkommen mehr, ist er gegangen, aus dieser Welt. Es ist zum Wahnsinnig-Werden. Wovon habe ich denn eine Ahnung? Von mir? Ja, von mir schon. Schlimm genug. Doch von ihm hatte ich keine Ahnung. Ich dachte heimlich – das ist mir heute in den Kopf geschossen -, er wäre wie alle Männer in der tiefsten Tiefe seines Gemüts gewalttätig. Man braucht ihn nur reizen, und es bricht aus ihm heraus, und Gnade Gott, ich stehe ihm dann im Weg. Stellen Sie sich vor, das war meine Befürchtung zum Alois. Der Schwerhörige wird zum Gewalttäter. Er räumt mich weg und dann hängt er sich auf. Stellen Sie sich das vor! Das dachte ich insgeheim von meinem Mann, jahrelang, und wollte es mir nicht eingestehen. Ich bin fassungslos! Das wollte ich nur erzählen. Ich brauchte jemanden, dem ich es erzählen kann, einen Mann. Danke, daß Sie mir zuhören.“ Das Gespräch wird unter Brummen fortgesetzt und dann auf später vertagt. Die Krise verzieht sich wie der Gebirgsnebel am Gratlspitz ober Alpbach. Stunden später findet mich Sankt Josef vor meinem Abendcomputer. Ich surfe und führe mir eine herzerwärmende Dokumentation zu Ramana Maharshi zu Gemüte. David Godmans Kommentare berühren mich inniglich. Kommentare zu „Wer bin ich, was bin ich?“ Kaum bin ich nach einer Stunde mit ihr fertig, stoße ich auf indische Sadhgurus im Himalaya. Nackte Gestalten im Tiefschnee bei Minus 20°. Einer bricht aus einer unterirdischen Höhle empor, aus meterhohem Schnee, barfuß, nackt. In dem Moment verstehe ich. Diese Leute hatten ihr Leben lang keinen Sex, oder wenn, dann als Zombies vor hundert Jahren. So schaut’s aus. Die Friedfertigen, die hundert Jahre im Berg leben, ganz allein, wie Kaiser Friedrich Barbarossa im Untersberg. Hundert oder tausend Jahre, was macht es schon für einen Unterschied?

 

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  1. Wintersonnenwende

    Zu einer Zeit, da die Bären, diese gemächlichen, eigensinnigen, im Geruch des Gemütlichen stehenden Gesellen im allergrößten Gottvertrauen, ohne Angst, einen etwaigen Erfrierungstod zu sterben, ihren alljährlichen Winterschlaf halten, eingeschneit, wie sie sich einschneien haben lassen, an einem Ort, den sie für gut befunden haben (sich einschneien lassen…), ziehen wir auf unseren jeweiligen Erdenteilen unsere Bahnen, bisweilen zwar nur unsere enggekreisten, heimeligen, furchtsam haus- und hofbedachten, doch wir sagen uns: Wenigstens ein bißchen unter Kontrolle. Meine vier Wände habe ich immerhin unter Kontrolle, mein Auto habe ich unter Kontrolle, meinen Kühlschrank habe ich unter Kontrolle und mein Bett auch, glücklicherweise, ja, mein Bett, auf das es mir zuvorderst ankommt, es auch. Zu einer Zeit, da Dunkelheit über der Nordhalbkugel lastet, auf 48° 14′ 54“ (Lage des Stephansdoms zu Wien, Emblem dieser Nation neben dem Großglockner) und in den USA sich polare Blizzards mit heftigen Minustemperaturen ankündigen, in dieser vorweihnachtlichen Zeit feiern die Natives der Schildkröteninsel ihr 21-Tage-Ritual der Tiefe der Nacht, der dunklen Nacht, die dunkler nicht mehr sein kann. Das Ritual vom 1. bis zum 21.Dezember ist ein Prozeß der Versenkung, die heiligste Zeit bei den Kiva- und Pueblo-Indios. Versenkung unter Fasten und Gebet, zu Ehren des Vaters aller Dinge, Wakan Tanka. Die 21 Tage sind eine Wanderung ins Stille, Wanderung in die Dunkelheit, die uns eine Ahnung vermittelt vom Verlöschen der Flamme, die in uns brennt. Das Dunkle könnte uns haltlos stimmen, spüren wir, wäre da nicht der Schein einer Kerze, der Schein der Ankunftskerzen, von denen wir bis zu vier zählen. Wir bekommen eine Ahnung – sie rieselt uns über den Rücken – von diesem jahrtausendealten Spruch „Das Licht kam in die Welt, doch die Dunkelheit wollte es nicht sehen (nicht anerkennen, formuliert es die Bibel)„. Das Licht kam in die Welt, in eine dunkle Welt. Warum in eine dunkle Welt? Weil eine Welt ohne Hoffnung. Die Hoffnungslosigkeit war die eigentliche Weltverfassung des Altertums. Ein Morden ohne Ende. Eine grauenerregende Welt der Barbarei. Eine durch und durch zynische, grausame Welt. Eine Welt ohne Zukunft. Was für ein Schrecken. Das heißt Dunkelheit. Diese Dunkelheit wollte das Licht nicht anerkennen. Es wollte es nicht sehen. Die Mächte der Dunkelheit trauen dem Licht nicht über den Weg. Die eigentliche Macht der Dunkelheit spricht aus sich heraus, ohne je ein Wort formulieren zu müssen. Sie sagt „Nein“. Sie sagt Nein zum Bewußtsein. Erlischt das Bewußtsein, erlischt das Licht. So das Wort der Dunkelheit. Die Dunkelheit steht nicht unter Argumentations- oder Rechtfertigungszwang. Sie kann es sich leisten, stumm zu bleiben. Sie spricht: „Ich war von Anfang an. Ich!“ Diese Rede macht uns Angst, denn wir verstehen, was hier spricht. Ja, wir verstehen, was hier spricht. Die Stimme der Dunkelheit, die vorgibt, ewiges Flüstern zu sein. Schrecklich genug in einer Welt, die keine Antworten geben will und noch dazu sich kalt und nochmals kalt gebärdet, wie kalte Hausmauern in imperialen Städten, in denen das einzelne Menschenleben nichts mehr zählt, sofern es überhaupt jemals gezählt hat. In imperialen Städten, in denen wir, die irre Werdenden, mit schreckengezeichnetem Gesicht die kalten Marmorplattenwände entlanggehen, vielleicht noch in der Kraft, den Stein mit unserer Hand zu befühlen, wissend, daß in hunderttausend Jahren all dies nicht mehr sein wird, auch nicht der kälteste Stein. Nicht mehr Stein auf Stein. So wie das Colliseum in Rom. Und so dämmern wir dahin, dämmern fort, Geschlagene allemal, und können nur ausrufen: „Wo ist Hoffnung, wo ist Licht? Wo ist die Macht, die dem Tod Einhalt gebietet? Endgültig Einhalt gebietet, dies noch vor meinem Tod. Erlebe ich das Kommen Christi? Sein Kommen, mit dem der Tod zu seinem endgültigen Ende kommt und seine Geißel von dieser Welt genommen wird? Und nicht nur von dieser Welt. Von diesem All! Von diesem unermeßlichen, schweigenden, in unhörbaren Sphärenklängen dahinvibrierenden Raum. Wann wird es wieder warm? Wann siegt die Sonne?“

    Die Sonne des Jenseits, in welchem sie nie untergeht, nennen sie es. („Dieses nämliche, welche Jenseits…“) Die Sonne, die über dem himmlischen Jerusalem leuchtet. Das Licht des Jenseits. Manche, so reden sie, hätten Angst vor diesem Licht. die Gerüche dieser Welt wären ihnen lieber. Sie hängen an dieser Welt und wollen nicht zu Gott. So reden sie. „Geh‘ ins Licht!“, kommandieren sie, so als wäre die himmlische Seele ein feiger Hund, dem sie befehlen könnten. „Laß‘ los!“, befehlen sie. „Laß locker! Du hast nichts zu fürchten.“ So als ob sie bestens Bescheid wissen, diese unanfechtbaren Sterbebegleiterinnen, die auf gescheiterten Ehen und gestohlenen Töchtern sitzen. Wahrlich, manche suhlen sich in ihrem Feingespür für die Urängste im letzten Moment, in der Todesstunde. Schwarze Witwen eben, die sich sehr wohl bereits mit der Vorstellung befaßt haben, wie es ist, wenn ein bereits kopfloses Spinnenmännchen in den Leib der Witwe ejakuliert, so wie sie sich auch mit den orgiastischen Extremitäten von Schweinsebern befaßt haben. Es ist nichts heilig. Die ultimative Wahrheit ist die Psychofolter, so wie Folter generell. Der Weisheit letzter Schluß, sagen sie überall. Das letzte, was zählt, ist der Schmerz. Zum Schmerz kann man „Ja“ oder „Nein“ sagen. Sehen wir, wie weit wir mit dieser Distinktion kommen. Und schon wird es lebendig in der Welt der Moral, genauer gesagt, in der Welt der Moraltheologie, und, wohlweislich, in deren Gegenwelten, den Knochenkammern der Inquisition. Und da verstehe ich sehr wohl jene, die sagen, mein Freitod ist meine ultimative Freiheit. So wie es im Katechismus und in dessen abgebildeter Gebetsformel in der Messe heißt: „…der sich aus freiem Willen dem Leiden unterwarf…“. Das sind Schmiedehämmer, die niemand auf die Dauer aushält. Folterhämmer auf bronzenen Riesenglocken, eingegossenen, verflüssigten Kanonen aus den Napoleonischen Kriegen. Nein, das Licht des Jenseits ist kein gewöhnliches Licht, so wie es, das Jenseits, auch kein Ort ist, weder räumlich noch zeitlich. Ich sitze da nur Denkfehlern auf, Denkfehlern, die Zwangsvorstellungen sind, Trauervorstellungen, weil ich mich alleine zurückgelassen finde, jetzt erst recht, wo ich mit Haut und Haaren spüren, es wurde absolut nichts zu Lebzeiten ausgeredet, absolut nichts. Und das ist doch wohl das eigentliche Riesendrama. Jawohl, ein Drama. Wie also es besser machen? Ja, wie?

    Der Mensch denkt, Gott lenkt. Also bete ich. Abends, nachts. Untertags praktisch nie. Untertags denke ich und knoble, löse Rätsel und schreibe. Damit weiß ich mich auch nicht allein. Untertags geht mir alles leichter von der Hand (fast alles), denn sobald ich mir vergegenwärtige, es gibt da jemanden, der schaut mir über die Schulter oder er schwebt gar über mir, fühle ich mich auch schon berührt. Das genügt ja. Der große Regisseur, der vielleicht träumt und dabei auch mich, uns, träumt. Sei’s d’rum. Die Schöpfung ein Traum, was denn noch mehr? So werde ich halt geträumt, im Dunst des Unerklärlichen. Das Sein ist nicht erklärbar. Nähme ich die Position des Zynikers ein, dem alles nur krude Erklärbarkeit von faktisch Vorhandenem bedeutet, wäre ich bereits verloren. Zu meinen, alles wäre erklärbar, ist unser Untergang. Der Untergang der Menschheit, doziert Juan Matús, der Yaqui-Nagual. Ein Donnerschlag, den ich jetzt aber verstehe. Ich verstand ihn schon 1979, aber heute verstehe ich ihn mit den Fasern meines Körpers, da ich spüre, wie mich etwas permanent durchdringt. Die Unendlichkeit, die alles durchwirkt. Die Größe erdrückt mich. Sie räumt mich weg. Das ist meine Angst: die Größe von allem; die Wucht; das Schweigen. Und die Menschen, die verzweifeln. Wien, eine offene Gruft, rief mein Freund Josef damals aus, 1977. Er wußte, wovon er sprach. Die Totenglocken läuten pausenlos. Es ist zum Erschrecken. Mein Schrecken führt mich zurück. Die Panik läßt mich im Galopp denken, erst recht erinnern. Irgendwie beruhigend, denke ich in dieser Panik, genau betrachtet hat mein Erinnern System. Ja, es gab wertvolle Menschen in meinem Leben. Noch mehr als das: Es gab die Liebe meines Lebens, und es gibt sie immer noch. Mit einem Mal sehe ich jene bestimmte Frau wieder und erinnere mich an jedes Detail. Mein Gott, was war das damals für ein Jahr! Ein Mythos verwirklichte sich, und eine meiner hellsichtigen Gesprächspartnerinnen rief jüngst mitten in Ayahuasca ein Wort in die Stille des dunklen Tempels: „Tromsö!“, und dies Wort erschütterte mich, denn es rief mir alles zurück. Das Mitternachtsbüchsenlicht. Die Rentiere, die Lappen, die Norwegerin. Das ist die Barmherzigkeit der Medizin. Sie weiß, was wahre Liebe ist. Liebe, die mich zittern läßt, die mich erschüttert und beben läßt. Wohin nur, wohin? Wohin bist Du gegangen? Bist Du noch am Leben? Du Licht! Erinnere ich mich nicht an deinen Aufschrei, an dein Weinen, da Du wußtest, unsere Liebe lebt nur gestundete Zeit? Und gestern kam die Erinnerung zurück, gerade mit dem Gedenken an die verstorbenen Eltern, die mich Tag für Tag bestürmen, sie, die beiden, in ihrem Licht der Ewigkeit. Sie wissen jetzt mehr als ich. Das raubt mir den Atem. Wie eigentümlich: Je mehr ich mich ihnen annähere in ihrer neuen, ewigen Heimstatt, dem himmlischen Jerusalem, desto mehr bricht mir wie unter einem gefrorenen Ozean, dem Polarmeer, das Eis weg. Es beginnt zu knirschen. Und wieder höre ich meinen Studienkollegen Josef aus Völkermarkt dozieren: „Ja, Wolfgang, hab‘ den Schauder deiner Erkenntnis gespürt. Es ist wirklich alles anders!“ Damals, in der Siebensterngasse. Wien der Vergangenheit, wo bist du hin? Überall nur mehr Tote. Welch ein Schreck, welch unfaßbare Trauer. Das ewige Licht leuchte ihnen. Und uns die Liebe, doch mehr noch, einstweilen, der Dank. Solange wir noch danken, weil erinnern können. Amen.

     

  2. About hope

     

    Eine Szene aus „Die zwei Päpste“: Antony Hopkins (Josef Ratzinger) zu Jonathan Pryce (Jorge Mario Bergoglio) in abendlicher, vertrauter Stunde auf Castell Gandolfo. Beide schon etwas müde. Ratzinger, verträumt, doch munter, zu seinem argentinischen Kollegen: „Wissen Sie, was das Schwierigste ist? IHM zuzuhören…. Gott zuzuhören.“ Dem kann ich als kleiner Laie nur zustimmen. Ich könnte auch sagen, Zuhören überhaupt ist eines vom Schwersten, erst recht dem Geist Zuhören, seien es nun Pflanzengeister, der Heilige Geist (eine Person) oder Christus. Persönlich würde ich sagen, Christus zuzuhören verlangt mir am meisten ab, denn ich werfe ihm auch am meisten vor, vor allem seine vordergründig noble Abwesenheit, die allen Katastrophen freien Lauf lässt, bei gleichzeitiger kathedratischer Weismache (Sonntags), er säße in unserem Herzen. Ich bin zwar nicht streitsüchtig oder streitlüstern, doch selbstvoreingenommen und über gewisse Strecken – wie ich mir einbilde, aus gutem Grund, also berechtigterweise – hinweg stur. Das erschwert die Kommunikation, die sowieso das Schwierigste ist, was uns Menschen auferlegt wurde. Die Kommunikation mit den himmlischen Autoritäten (und dazu zähle ich auch, aus gutem Grund, die Pflanzengeister) verlangt mir Nervenstärke, Ehrlichkeit und Bescheidenheit ab, mithin Qualitäten, die an der sicher gewähnten Substanz zehren. Unter „Sicher gewähnte Substanz“ ist natürlich alles zu subsummieren, was meinem falschen Selbst, meinem Ego, gut und lieb ist. Mein Ego lebt von Hunger und Durst. Wenn es gegen das betönerte schwere Gatter wie ein Zuchteber wuchtet, sogar von Gier und Haß. Gier und Haß lassen sich in einer Umblende dessen, was mich affektiv vorantreibt, wie in einer Aufblende, blendender Helle, sehr wohl erkennen. Haß und Gier stehen bei mir verdutzenderweise mit momentan aufwallender Todesbereitschaft in Verbindung, so wie bei einem kurz vor der Hinrichtung Stehenden (sagen wir: Claus von Stauffenberg, ohne Augenbinde) oder einem zu Unrecht Verurteilten, so wie jene armen Indios Nordamerikas, die zur allgemeinen Belustigung in Gruppen gehängt wurden. (Die First People selbst kannten – das sagt doch alles! – die Praxis des Erhängens nicht). Neben die Todesbereitschaft gesellt sich jedoch auch Mut zu unzensurierter Lernbereitschaft, ein Motiv, das mir seit Generationen, all den Toten, vererbt wurde, insbesondere über die beiden Weltkriege, und dann über all jene Menschen meiner Biographie, die sich selbst umbrachten. Diesen Menschen gilt sowieso – und galt immer schon – mein größter Respekt. Mit manchen dieser Unvergessenen rede ich insgeheim heute noch, so wie mit Karl Firmberger, beispielsweise, der sich 1970 selbst richtete, an einem Sonntag, als seine Familie in der Kirche war. Die Suizidanten sind für mich die eigentlichen Personen mit Referenzqualität, so wie für César Hildebrandt, den integersten (und vielleicht auch intelligentesten) peruanischen Journalisten. Vor 18 Jahren schrieb er in seiner Kolumne „Im Rachen des Wolfes“ zum ersten Mal öffentlich von dem, was ihm an diesen Menschen imponiert, nämlich „das Recht, nicht zu sein“, das sie sich herausnehmen. Das Recht der ein Leben lang Entrechteten. Denn nichts Anderes sind wir doch: Entrechtete. Zerrissene, Zerbombte, Entweste. Und als solcher frage ich mich wie ein täglicher Bettler: „Was, in Gottes Namen, kann mir heute, hier und jetzt, wirklich helfen? Was, außer dem völlig nutzlosen und unverantwortlichen Gedanken an endgültige Flucht, verleiht mir substantielle Standhaftigkeit inmitten dieses aufziehenden Sturmes, dieses Weltensturmes? Wie, um es mit den Worten einer mexikanischen Curandera, Hermelinda da Costa Flores, einer unübertrefflich bescheidenen Volksschullehrerin im Zivilberuf, zu formulieren, halte ich dem Dämon, der mich ständig attackiert, stand? Adäquat und in jenem mir zugänglichen, also erreichbaren Maße stand? Durch Bescheidenheit, sagt sie, und symbolisiert es in einer Geste, indem sie von der Brust hinunter zu ihrem Nabel fährt, vor. „Friß nicht! Bescheide Dich! Lebe maßvoll! Es genügen ein paar Nüsse. Es genügt eine Banane. Es genügt eine Schale Reis.“ Ich sehe es immer noch direkt vor mir. Wie also gelange ich in den Stand, Mutter Ayahuascas Wort gewissenhaft (gewissenhaft!) anzuhören? Die Antwort zeigt sich unaufdringlich sofort: Eine liebevoll, mir durch und durch gewogene Stimme („Ja doch!“, hätte der beste aller Freunde laut ausgerufen), erklärt mir klar und deutlich: „Du weißt doch, ER ist immer anwesend. Immer.“ Sobald ich dieses Wort in mich einsinken lasse, werde ich still und halte inne. Dieses Wort läßt mich schaudern. „Sosehr hast du schon wieder gerast! Sosehr, so weit bist du schon wieder in die Irre gegangen! So weit hast du schon wieder auf IHN vergessen!“ Und wie der Dämon in mir sogleich zu zettern beginnt: „Hör nicht auf diesen Blödsinn! Alles nur Illusion!“ Im selben Maße, wie diese Stimme wie ein sabbernder Großgrundbesitzer und Großmogul zu sabbern anhebt, macht sich eine Stimme, die nur von einem Engel stammen kann, hörbar: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar und sie kann niemals unterdrückt werden!“ Somit auch die Wahrheit über mich selbst. Die Wahrheit, wie es sich mit mir verhält, konkret, faktisch und mit einem Rattenschwanz von Konsequenzen behaftet. Was also will der Vater im Himmel von mir? Was will er mir sagen? Diese beiden pathetischen Fragen veranschaulichen mir ohne jede Schwierigkeit, wie es um mich und, irgendwie dürfte ich sagen, nicht nur um mich bestellt ist. Diese beiden Fragen reißen mir jedewede Maske von meinem Gesicht, ja, sie enthüllen mir ohne Schwierigkeit, doch mit allergrößter Schande eine eingefleischte, häßliche Fratze der Wolllust, der Gier und der haßvollen Verfallenheit, einer krankhaften Täuschung, die mich, ohne daß ich dessen über weite Strecken gewahr werde, Tag und Nacht zerfrißt. Die Zerfressenheit der Gottesferne. Die Zerfressenheit der Abwendung. Die Wut des räudigen Rebellen. Dieser Umstand ärgerte beispielsweise Pater Pio maßlos. Ihn, der sosehr an das Sakramant der Buße glaubte. Mit der Buße sind wir also auf wundersame Weise beim Glauben. Woran glauben? An die Vergebung. Das liegt doch auf der Hand! Das war die Botschaft von Schwester Faustina Kowalska. Die göttliche Vergebung. Dieser Aspekt, der kosmische Größe darstellt (so wie die Wiedergeburt für Buddhisten), hat alle Päpste massiv aus ihren Schuhen gehoben. Der jetzige, der Argentinier, ihn brennt es unter den Nägeln. Man sollte sich diesen Aspekt seiner Lebenspraxis in offener Wertschätzung zu Gemüte führen: Ein Mann in Weiß eilt zu einem Beichtstuhl mitten im Petersdom, kniet dort nieder und spricht zu dem Mann hinter dem Gitterfenster. Und die komplett Verdatterten, die Zeuge dieses Aktes werden, können nicht anders als ihre Handwaffe zu zücken, „um dieses Bild festzuhalten“. Das Schwierigste: Ihm zuzuhören. Das sind nicht „die Spirits“, von denen der allgegenwärtige Blödsinn quasselt, und kein „Engel Mechatron“, der für die Erde zuständig ist und von dem ich, der Grottenolm, eine Morsenachricht „hereinbekomme“. Was Gott zu uns, jedem von uns, sagt, ist das Allerpersönlichste. Es ist heilig. Was hingegen Mutter Ayahuasca mir sagt, qualifiziere ich nicht mehr als heilig, doch als äußerst wichtig. Somit darf ich es divulgieren. Sie stellt Fragen: „Willst du diese Stechfliege vor dir erschlagen? Wirst du sie erschlagen? Du willst sie erschlagen, doch sie ist ein Tábano, wie du sogleich sehen wirst. Sie überlebt deinen Schlag und fliegt torkelnd zum Fenster hinaus. Es macht dir nichts aus, sie zu töten, doch dieses Mal kommt der Tod nicht von deiner Hand, so wie auch nicht bei all den Pferdebremsen über der Wasseroberfläche der Colpa, die um dich herumschwirren und deine Mordlust prüfen. Sie wollen wissen, ob sie das Mordfeuer in dir entfachen können. Denn du bist kein Rentier im wintertauenden Hohen Norden, das dem Rasen und damit in Galopp verfällt. Sieh doch nur, deine beiden Söhne, die dir für diese Stunde der unwiederbringlichen Gemeinsamkeit aus tiefster Seele danken, sie fühlen mit dir, denn die Bremsen machen keinen Unterschied. Das Kind weiß nur noch nicht um deinen kalten Haß gegen diese Insekten, doch es weiß, daß es ihn lernen wird. Du siehst, dies sind die kleinen Themen, um die niemand herumkommt, auch nicht Herr Gyatso oder Herr Juan Matús. Herr Ratzinger hat sich über die offenen Schuhbänder von Herrn Bergoglio mokiert. Er konnte und wollte nicht verstehen, wie man in ausgelatschten schwarzen Schuhen mit offenen Schuhbändern herumlaufen kann, bei ihm, oben, an der Felsenspitze von Castell Gandolfo. Ist es nicht so? Perfektion sitzt im Detail, willst du mir sagen, oder? Da gebe ich dir recht. Nun bitte, da du doch gerade deinen Kanal für mich aufgetan hast (ich sehe ihr heilig hämisches Grinsen direkt vor mir), sei doch perfekt! Versuch es! Sollte dir doch gelingen, oder? („Odrrrr“, schwyzerische Phonetik). Und bitte, halte deinen Ärger in Grenzen! Du weißt, wovon ich spreche! Sei doch nicht dieser unsäglich kleine Hosenfurz, der sich über alles und jedes aufregt. Das nimmt kein gutes Ende! Wissen wir doch, oder?“ So redet eine Mutter.

    Schon ziemlich arg, das alles.

  3. Gute Freunde soll niemand trennen

    Inmitten des heißen Sommerwindes, der den Flußpegel immer noch absenkt (mittlerweile sind es sechs Meter; das wird noch eine gute Woche andauern), geraten die Menschen hierzulande, so wie wir allesamt schwitzen, inmitten der Menschenansammlungen, wie beispielsweise in den ablegebereiten Pongueros am hoch frequentierten Puerto Láo, etwas leichter außer sich, und es läßt sich unvoreingenommen beobachten, wie Nervosität inmitten von Hitze sich gebärdet. Zuvorderst ist es das Nachgeben an die Begierde des Durstes, und daneben, auch, wie immer, des Hungers, denn Durst und Gier nach Abkühlung in der Kehle sind ununterdrückbar, so wie die Aussicht auf Grillhuhn mit Reis, das Kinder hierzulande sogar noch in ihren Träumen verzehren. Die Plastikflaschen wechseln im Dutzend den Besitzer, und was sich danach entwickelt, ist, wir kennen es alle, das globale Desaster schlechthin, das allgemeine Wegwerfen. Unverhohlen zeigt sich das Gesicht des Bösen, das Böse, wie es die armen Kreaturen, die von nichts wissen wollen, in seinen Krallen gefangen hält. Der Müll ist der sichtbare Beweis des Endes der Menschheit, denn diese Vermüllung des Planeten ist nicht mehr rückgängig zu machen, so wie die Ausrottung der Arten (zuvorderst der Tiere). Der Teufel stürzt sich mit höllischer Vehemenz auf die Schöpfung, um aus ihr den Garaus zu machen, und dabei ist ihm jedes Mittel recht, auch jenes der Vermüllung. An der allgemeinen Vermüllung (besonders in den ausgebeuteten Ländern) zeigt sich das Prinzip des Nihilismus, das nur einen einzigen, übergroßen Schuldzettel moralischen Versagens der sogenannten führenden Staaten („G7, G20“; welch ein Hohn!) darstellt. Der Nihilismus ist die Waffe des Bösen. Karol Wojtyła hat dazu unter anderem in seiner Autobiographie „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“ ausführlich Stellung bezogen. Eine Passage erscheint mir in diesem Buch zentral: „Das Urvergehen will die Vaterschaft abschaffen, indem sie den Glanz zerstört, der die geschaffene Welt durchdringt; sie versucht dies, indem sie die Wahrheit, die die Liebe ist, in Frage stellt und nur noch das Bewußtsein Herr/Knecht hinterläßt. Damit aber scheint der Herr stolz auf seine Macht über die Welt und den Menschen zu sein; als Folge davon fühlt sich der Mensch, der sich einen Verdammten wähnt, zum Kampf gegen Gott, den Tyrannen, herausgefordert.“ Den Glanz, der die geschaffene Welt durchdringt, zerstören. Das ist es, was passiert. Eine Mutter fordert ihr 10 Monate altes Kleinkind auf, die Plastikflasche über Bord zu werfen. Das geschieht jeden Tag dutzende, wenn nicht hunderte Male am Rio Amazonas. Jedes Kind fängt an zu quängeln, sobald es sich der Nutzlosigkeit der leergetrunkenen Plastikflasche in seinen Händen bewußt wird. Der Kampf in ihm, sich dieses anorganischen Objektes in seinen Händen auf die einfachste vorstellbare Weise zu entledigen – so, daß es sofort außer Sicht gerät -, läßt sich direkt mitverfolgen. Die Spannung, das Vergehen, das in mir brennt, durchzuführen, nimmt auch die Erwachsenen gefangen, auch die gebildeten wie Krankenschwestern und Lehrerinnen oder Gemeindeamtbedienstete. Das Böse, das hier in nicht zu überbietender Larmoyanz tobt, breitete sich wie die Pest im Nu aus, auch an unserem Badeplatz Colpa, einem idyllisch sich dahinziehenden Bach mit köstlich klarem Wasser. Der jetzige Bürgermeister Clever Ruiz Ruiz, der Erste unter Seinesgleichen, der vernünftig und positiv konstruktiv zu denken und zu handeln versucht, hat sich seit einer Wahlveranstaltung meiner Gattin (Gegenpartei) in löblichem Realitätsschub entschlossen, diese Krankheit aktiv anzugehen. Am Bach hat er kunstvoll bemalte Schilder errichtet, auf denen deutlich zu lesen steht: „Wir fordern von Dir nicht, daß du das Dorf säuberst. Wir bitten dich nur, es nicht zu verschmutzen.“ Es vergingen nur wenige Wochen, und die Teufel in Menschengestalt, junge Burschen, bewarfen diese Holzschilder mit weichem Lehm, verunstalteten dergestalt die Schrift. Niemand fühlt sich bemüßigt, die Verschmutzung der Hinweistafeln rückgängig zu machen. Die Menschen stört der Müll nicht. Für sie ist es nicht einmal Müll. Es ist ein Unbill in der Kontinuität ihrer vermeintlichen gottähnlichen Freiheit. Sie lassen es einfach fallen. Ich habe am Ufer des Ríos an Gibachos Hafen am Ende meiner Straße vor 14 Jahren eine komplette Büroeinrichtung im Wasser gefunden, als ich dort einen vormittägigen Badeversuch unternahm: Schreibtische, Drucker, Schreibmaschinen. Für den hiesigen Menschen (nirgendwo in den armen Ländern wird es anders sein) zählt nur der Konsum. Die Reste des Konsums sind ihm, dem von der Krankheit Befallenen, nur lästig, lästiger als eine Stechfliege. Er läßt es in die Fluß-Strömung oder an Ort und Stelle, dort wo er steht, einfach so fallen. Der ultimative Ausdruck nicht zu überbietender Freiheit, und die armen Gringos mögen doch bitte ihr dreckiges Maul halten, denn ich bin hier zuhause. Ein paar Meter unterhalb von Puerto El Huequito, dem Tourismushafen, der mittlerweile zu einer Ruine verfällt, steht auf 10 Quadratmetern auf einer Mauer oberhalb groß und deutlich: „Verschmutze den Fluß nicht!“ Ich habe seit 15 Jahren keinen einzigen Einheimischen auch nur einen verstohlenen Blick nach dort oben werfen gesehen. Sie ignorieren die Mauerschrift weltmeisterlich. Ignoranz als Ursünde. Letztens habe ich 5 Plastiksäcke Müll vom Badeplatz abtransportiert, aufgelesen im Zurückkehren, einfach so, ohne daß es mir schwer fiel. Die Einheimischen betrachteten mich wie einen Verrückten mit unverhohlener Häme. Häme. Ich sah, hier regiert dämonische Besetzung. Und das ist das Ende. Ich spreche nicht von den Slums, nicht von Afrika, nicht vom Indischen Ozean, nicht von Indonesien und nicht von den Philippinen. Ich spreche von unserem Paradies. Ich spreche vom Dämon, dem das Paradies ein massives Hindernis ist. Ich spreche nicht von Gorleben und den Schnellen Brütern, und nicht vom Industrieschlamm rund um die Aluminiumschmelzen. Ich spreche nur von den Verbrechern Coca Cola und den Styroporherstellern. Doch selbst Glasflaschen liegen massenweise im Gebüsch. Wein und Rum. Ich betrachte die Krankheit, ohne mich sonderlich aufzuregen. Ich sehe eine globale Krankheit und frage mich, was kann ich dagegen tun, ohne Amok zu laufen. Es ist ja nicht nur der Müll. Es ist überhaupt alles. Nicht nur die Kirche brennt, nein, ganz und gar nicht. Unser Planet brennt und in unseren Gehirnen geschieht eine radioaktive Kernschmelze.

    Der Einzige, mit dem ich darüber sprechen wollte, war Hubert, der treue Freund, der heuer Ende Feber verstarb. Es ist schon lange her, 2004, im Oktober. Ich besuchte ihn in Reichenau an der Rax, seinem Rückzugsort, seinem Paradies, in der Rudolfsvilla, unangekündigt. Ich war mir sicher, ihn lebendig anzutreffen. Höchst seltsam, diese meine damalige Sicherheit. Es war wir die Erfüllung eines höheren Befehls. Ich mußte auf ihn warten. Es war noch hell, als er von einem Spaziergang zurückkam, und zu meiner gelinden Überraschung lud er mich ein, die Wanderung nochmals fortzusetzen. Es dämmerte und wurde schnell kalt und nebelig. Wir gingen nichtssagende Wege entlang, still. Ich hinterfragte seinen Vorschlag nicht. Ihn abzulehen wäre mir unmöglich in den Sinn gekommen. Als wir zurückgekehrt waren, bot er mir im abgedunkelten Wohnzimmer zwei belegte Brote an, das war alles, was er vorrätig hatte. Hubert lebte arm wie eine Kirchenmaus. Als ich fertig gegessen hatte, legte er eine Schallplatte auf, eine Aufnahme mit seiner Gattin, seiner Ex, einer Sängerin an der Volksoper, und dann griff er wie in einem Ritus zu seiner roten Marlboro und zündete sich die erste Zigarette genußvoll an. Sein Abendritual. Er hörte seiner Dame geruhsam zu. Eine Arie, nicht mehr. Dann eine Aufnahme von Karl Böhm. Ich beobachtete sein Zuhören. Er wußte, ich beobachte ihn, doch das genoß er geradezu. Er wußte, ich frage mich, wie er das Gespräch starten werde, und daß es zugleich angebracht ist, nunmehr, da auch mir eine chilenische Hexe, die ihn wie in einem Akt selbstverständlicher Barmherzigkeit wie einen Vater betreuen hätte wollen, abhanden gekommen war, finale Worte zu äußern, für den Fall des Nicht mehr Wiedersehens. Es waren Sekunden, wo er völlig sich fallen ließ, innerlich, und körperlich. Er rauchte die erste Zigarette maniriert zu Ende und zündete sich nach etwa einer Minute die zweite an, sichtlich ohne Zittern. Die Spannung war weg, wie zu erwarten. Ich saß auf einem Divan mit schwerer Satindecke, orientalisch. „Der Divan ist normalerweise mein Bett“, eröffnete er wie in einer Seitenbemerkung. „Es wäre mir eine Ehre, wenn du ihn heute Abend benutzt, als mein weitgereister Ehrengast. Die Decke ist orientalisch. Die Bettwäsche nicht, jedoch frisch. Nur keine Sorge, nichts riecht hier von mir. Ich schlafe in der Küche, auf der Bank. Als Priester weiß ich, wie man schlafen kann, ohne sich auf schmaler Bettstatt herumzuwälzen. Mal sehen, was aus dieser Nacht heraus kommt. Die Erfüllung eines Mythos darf das Mindeste sein. Und dann widmen wir uns dem Weltenbrand.“ Das war das Vermächtnis meines Freundes, Oktober 2004. 16,5 Jahre vor seinem Tod. Bereits 2006 hatte ich immer wieder das Gefühl, der beste aller Seelenmenschen hätte sich davon gemacht. Hartnäckig. Es kamen massive Beschäftigungen in Ayahuasca. Erinnerungen, die mich niederschlugen. Kein Telefonabheben zuhause. Einmal noch fuhr ich zur Rudolfsvilla. Ich läutete überall am Klingelbrett. Die Villa wirkte wie ausgestorben. Mich durchfuhr eine unirdische, schwer auszuhaltende Anmutung, die sich erst auflöste, als ich in meinem Bett in Otorongo aufwachte. Es war ein Klartraum unüberbietbarer Direktheit. Da wußte ich endgültig, was er mir bedeutete, und ich konnte nicht anders als Weinen. Dann war Ruhe, bis letztes Jahr. Im Jänner ging ich durch das Virus, so wie die ganze Familie, 12 Tage lang, immer in der Annahme, es wäre der dritte Déngué-Prozeß. Standardgemäße Behandlung mit Rattengift und Kreolin. Wasserlachen unter mir. Eine einzige Nacht mit Fieber, 40°, Frauengesichter wie aus der Wiener Psychiatrie. Hubert schrieb derweilen in sein Notizheft: „Herbst: Peru!“

    „Wolfgang, meine Memoiren tragen den Titel: „Ins Leben geworfen“. Vorwort bitte von Ratzinger. Ich hoffe, er findet die Zeit. Ich selbst warte derweilen auf den Vorhang.“ 

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