An einem Stock betritt Imre Kertész die Bar des Hotels Kempinski in Berlin, leichter Buckel, wache Augen. Hier kennt man ihn, hier verehrt man ihn, sofort eilt ein weiß livrierter Kellner herbei und rückt ihm den Sessel zurecht, in den sich Kertész langsam fallen lässt: "Doppelter Espresso, wie immer?" Es ist ein sonniger Herbsttag in Berlin.
Als Kertész vor 65 Jahren in Auschwitz-Birkenau ankam, er war 15, waren die neuen unterirdischen Gaskammern und die Krematorien schon in Betrieb. "In den Öfen wurden neue Roste eingesetzt, und die sechs Schornsteine wurden von oben bis unten inspiziert und ausgebessert" , heißt es in der Aussage eines Überlebenden der Sonderkommandos. Alles war bereit, die Ungarn konnten kommen. Die ungarischen Juden waren die letzte verbliebene größere Gemeinde in Europa. Innerhalb weniger Wochen, zwischen Mai und Juli 1944, wurden 438.000 ungarische Juden deportiert, drei Güterzüge mit 4000 Menschen täglich, selbst Auschwitz, die modernste aller Vernichtungsfabriken, kam damit an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Zusätzliche Verbrennungsgruben mussten angelegt werden, um die vergasten Körper zu beseitigen. Diese Hölle hat Kertész überlebt, ein Jahr später wurde er in Buchenwald befreit, wohin sie ihn aus Auschwitz verschleppt hatten.
Zurück in Budapest, fing Kertész an, für Zeitungen zu arbeiten, übersetzte Nietzsche und Freud und begann erst 1960 mit der Arbeit an seinem Roman eines Schicksallosen. Eine Arbeit, die dreizehn Jahre dauern sollte. Entstanden ist das vielleicht radikalste und wahrhaftigste Werk über den Holocaust. Jahrelang wurden seine Bücher verschmäht, weil die Menschen für die Wucht seiner Gedanken nicht reif waren – heute ist er ein gefeierter Autor. Sein aktueller Roman, an dem er täglich schreibt, handelt vom Tod.
Kertész, der 2002 den Literaturnobelpreis gewann, ist einer der letzten Überlebenden. Am 9. November wurde er 80 Jahre alt.
Standard: Herr Kertész, wir wollen nicht über Ihre Bücher sprechen.
Imre Kertész: Worüber dann?
Standard: Über Ihr Leben.
Kertész: Mein Leben? Was soll daran interessant sein?
Standard: Konzentrationslager, Kommunismus, Fall des Eisernen Vorhangs. Sie haben alles gesehen.
Kertész: Der deutsche Schriftsteller Hans Sahl schrieb: "Wir sind die Letzten. Fragt uns aus." Also: Fragen Sie!
Standard: Alles?
Kertész: Alles.
Standard: Sie waren 15, als Sie über Auschwitz nach Buchenwald deportiert wurden. Wussten Sie, wo sie hinkommen werden?
Kertész: Nein. Neunzig Prozent der ungarischen Juden hatten keine Ahnung von den Konzentrationslagern.
Standard: Wann haben Sie verstanden, was das für eine Art Lager war?
Kertész: Bei der Ankunft haben wir noch nichts verstanden. Auch die Erwachsenen nicht. Sie ahnten überhaupt nicht, was passieren würde. Nicht einmal bei der Selektion verstanden sie, was der Arzt mit ihnen machte. Erst danach, gegen Abend, wurde klar, dass die Schornsteine nicht zu einer Lederfabrik gehörten, wie wir alle dachten, und der süßliche Geruch in der Luft nicht von Leder stammte. Am ersten Abend war mir klar, dass in diesen Schornsteinen die Menschen verbrannten, mit denen ich im Zug gesessen hatte.
Standard: Um Ihr Buch "Dossier K." zu schreiben, haben Sie ständig am Lederarmband Ihrer Uhr gerieben, um sich an den Geruch im KZ zu erinnern.
Kertész: Ich wollte Erinnerungen auslösen. Das war ein bewusstes Ziel. Heute trage ich auch eine Lederjacke, schauen Sie, braun, Wildleder, aber deshalb denke ich nicht ständig an Buchenwald, wenn Sie das fragen wollten. Wollten Sie das fragen?
Standard: Ja. Wie überlebt man ein Konzentrationslager?
Kertész: Es gab die religiösen Juden, die sich auf das Schicksal verließen: Was Gott macht, ist immer richtig, dieser Glaube gab ihnen Kraft. Dann gab es die politischen Häftlinge, auch die hatten eine Art Hoffnung, dass ihr Kampf nicht umsonst war. In der hoffnungslosesten Situation waren jene, die an überhaupt nichts glaubten, die überhaupt keine Hoffnung hatten.
Standard: Und was hatten Sie?
Kertész: Weder Glauben noch Hoffnung.
Standard: Wie haben Sie dann überlebt?
Kertész: Ich habe gemacht, was man machen musste, ich habe mich dieser Todesmaschine angepasst. Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, weil Anpassung auch Kollaboration bedeutet. Wer sich im Lager anpasst, wer die Logik der Todesmaschine versteht und sich ihr beugt, kollaboriert mit dem Teufel – genau das habe ich getan. Aber das erzählt man nicht gerne.
Standard: Was heißt kollaborieren? Gab es eine Art Gebrauchsanweisung fürs Konzentrationslager?
Kertész: Eine Regel war: Nie der Erste sein, nie ganz vorn stehen! Aber jeden Tag gab es neue Regeln, je nach Situation. Einmal wollte mir ein Mann meine Schaufel stehlen, offenbar hatte er seine verloren. Er schlug mir wie wild auf die Hand, ich blutete stark, aber ich gab sie ihm nicht her. Eine Schaufel zu verlieren bedeutete sterben. Wenn du den Tod eines anderen hinnimmst, um dich selbst zu retten, dann kollaborierst du mit dem Teufel. Es gibt hunderte solcher Geschichten. Es sind untermenschliche Geschichten.
Standard: Hatten Sie je Rachegefühle?
Kertész: Auf wen? Auf die Geschichte? Auf Adolf Hitler? Auf die Lagerkommandanten? Und dann? Wie hätte diese Rache ausgesehen? Hätte ich jedem Einzelnen eine Ohrfeige verpassen müssen? Was bringt das? Das Leben ist nicht immer gerecht.
Standard: Simon Wiesenthal hat es getan. Er hat nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen sein Leben lang Nazis gejagt.
Kertész: Ja, ich weiß. Aber das ist nicht mein Fach. Nazis aufstöbern und ihnen auf den Kopf schlagen? Nein, das ist nicht mein Beruf. Das interessiert mich nicht.
Werden Sie nicht jeden Tag durch Ihre KZ-Tätowierung an diese Zeit erinnert?
Kertész: Ich hatte eine Nummer, eingenäht in meine Uniform, aber keine Tätowierung. Tätowiert wurde man nur in Auschwitz, nicht in Buchenwald, da müssen Sie besser recherchieren. Hören Sie, was ist so interessant daran, über so ekelhafte Themen zu sprechen? Mit jungen Leuten würde ich viel lieber über etwas Schönes sprechen. Über Kunst oder schöne Frauen.
Standard: Ist es unangenehm, darüber zu sprechen?
Kertész: Nicht unangenehm. Aber unfruchtbar. Schauen Sie, die Erlebnisse in Auschwitz sind so weit von unserem Zivilleben entfernt und so unglaublich, man kann sie sich nicht vorstellen. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie es war, als ich Kartoffelschalen in mich hineinstopfte. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, wie ich im "Großen Lager" in Buchenwald 1945 überlebt habe. Es herrschte Typhusepidemie, es gab diese großen Zirkuszelte, in denen die ungarischen Juden untergebracht wurden, die Namenlosen, die jederzeit damit rechnen mussten, niedergeschossen zu werden. Haben Sie schon von den "Musulmanen" gehört? So nannten die Nazis die Menschen im letzten Stadium, wo der Mensch nur noch dahinvegetiert und nur noch aus Haut und Knochen besteht. So wäre auch ich geendet, wenn ich nicht so viel Glück gehabt hätte und einige Zeit in ein sogenanntes Krankenhaus eingeliefert worden wäre. Aber all das kann man sich nicht vorstellen.
Standard: Man kann es rekonstruieren.
Kertész: Die Fakten sind das eine, das ist Historie, damit beschäftigen sich Wissenschafter. Man kann erwähnen, dass Polen besetzt und das Lager in Auschwitz errichtet wurde. Man kann die Anzahl an Toten erwähnen. Aber kann man sich das Leben des Lagerführers Rudolf Höß vorstellen? Der wie ein Beamter am Abend nach Hause ging zu Frau und Kind und Musik hörte, vielleicht Schubert, vielleicht Beethoven? Nein, das können wir uns nicht vorstellen, weil wir es mit unserem realen, heutigen Leben nicht in Verbindung bringen können. Es ist eine geschlossene Welt, und die Ereignisse, die sich darin abspielten, die waren so, so, so … Sie sehen, ich ringe nach Worten. Es gibt keine Adjektive für Auschwitz.
Standard: Sie haben doch ein ganzes Buch über den Holocaust geschrieben.
Kertész: Das ist was anderes. Privat kann ich darüber nichts sagen. Aber als Schriftsteller schon. Ich kann mir eine Kunstform ausdenken, eine Sprache, ich kann eine Figur kreieren, die statt mir was sagt. Auschwitz ist ein wunderbares Thema für einen Roman. Dass ich den Teufel des 20. Jahrhunderts gesehen habe, und erst noch von ganz Nahem, das ist für mich als Schriftsteller ein Gewinn. Weil ich etwas weiß, was niemand außer mir wissen kann. Und ich habe auch nicht über den Holocaust geschrieben, das ist falsch, sondern über die Schicksallosigkeit.
Standard: Sie haben etwas geschrieben, das niemand zuvor über Auschwitz geschrieben hat: Sie seien glücklich, in Auschwitz gewesen zu sein.
Kertész: Ich empfand die radikalsten Momente des Glücks in den Konzentrationslagern. Man kann sich nicht vorstellen, was es bedeutet, eine zehnminütige Pause einzulegen während der Arbeit. Sehr nahe am Tod zu stehen ist auch eine Form des Glücks.
Standard: Die Bücher anderer Autoren über diese Zeit, interessieren Sie die?
Kertész: Zum Teil. Paul Celans Todesfuge ist außerordentlich, die wunderbaren Essays von Jean Améry, Primo Levis Roman, Tadeusz Borowski sowieso. Doch der Rest ist meistens Kitsch: Eine glückliche jüdische Familie kommt ins KZ, einige überleben, andere nicht, am Ende werden sie von der Roten Armee gerettet – solche Bücher wurden in Ungarn ohne Ende publiziert. Das Lagerleben als Story. Das geht nicht.
Standard: Was ist mit den Filmen?
Kertész: Es gab einen polnischen Film, den ich kurz nach dem Krieg gesehen habe und danach nie wieder. Er zeigt das Schicksal der Frauen in Birkenau: ein grauer Morgen, die Sonne geht auf, die Frauen stehen sich gegenüber und beginnen mit ihren Oberkörpern zu schaukeln, hin und her und hin und her, um nicht vor Müdigkeit zusammenzubrechen. Diese Szene ist absolut glaubwürdig. Das kann nur einer gefilmt haben, der dort war.
Standard: Muss man dort gewesen sein, um einen guten Film über den Holocaust zu drehen?
Kertész: Nicht unbedingt. Aber man muss sich schon was ausdenken, um in die Nähe dessen zu gelangen, was ein Konzentrationslager ausmacht. Roberto Benigni hat das probiert, La vita è bella, ein Märchenfilm. Wunderbar.
Standard: Haben Sie den neuen Film von Tarantino gesehen?
Kertész: Von wem?
Standard: Quentin Tarantino, ein amerikanischer Regisseur. Der Film heißt "Inglorious Basterds" . Ein jüdisches Killerkommando schafft es in diesem Film, Adolf Hitler zu töten.
Kertész: Was?
Standard: Spielbergs "Schindler’s List" ?
Kertész: Schindler’s List? Der schlimmste Film von allen. Da ist alles scheißfalsch, ich kann das nicht anders sagen.
Standard: Was ist falsch daran?
Kertész: Der Ausgangspunkt ist falsch. Dieses positive Denken. Spielberg erzählt die Geschichte aus dem Blick eines Siegers. Am Ende laufen die Leute in einer Reihe und singen, als ob die Menschheit gesiegt hätte. Der Ausgangspunkt eines KZ-Filmes kann nur der Verlust sein, die Niederlage der europäischen Kulturzivilisation. Das ist die Wahrheit: Holocaust-Erlebnisse sind universelle Erlebnisse. Der Holocaust ist kein deutsch-jüdischer Krieg, wer das denkt, der kommt zu nichts. Der Holocaust ist ein universelles Versagen aller zivilisatorischen Werte, und lange Zeit dachte ich, wir hätten daraus etwas gelernt. Aber ich lag falsch.
Standard: Was kann man vom Holocaust lernen?
Kertész: Ein Bewusstsein. Niemals darf eine Gesellschaft, niemals darf die Politik wieder eine ähnliche Situation zulassen. Und wenn es Anzeichen dafür gibt, müssen Alarmsirenen heulen. Aber schauen Sie sich die Finanzkrise an. Eine Finanzkrise war auch der Ausgangspunkt der Machtübernahme Hitlers. Der Holocaust hat keine Wirkung mehr auf das Bewusstsein der europäischen Politiker, sonst wäre es jetzt nicht so weit gekommen.
Standard: Aber es wird doch – gerade von der Politik – einiges getan, um die Finanzkrise zu bewältigen. Außerdem ist eine neue Generation an der Macht, Merkel, Sarkozy, Obama sind nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Soll man denn bei allen zukünftigen Ereignissen den Holocaust mitdenken?
Kertész: Sollen? Man muss. Ich habe einmal geschrieben, dass Auschwitz jederzeit möglich ist, weil das, was Auschwitz ermöglicht hat, nicht verschwunden ist.
Standard: Nach Ihrer Befreiung kehrten Sie 1945 nach Ungarn zurück. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie wieder in einer Diktatur leben?
Kertész: Sehr schnell. Die totale kommunistische Diktatur kam 1948/1949. Schon damals kursierte der Witz: "Weißt du, was die heutige Situation von den Nazis unterscheidet?" – "Jetzt tragen alle einen gelben Stern, nicht nur die Juden."
Standard: Warum sind Sie nicht geflüchtet, 1956, als die Russen den ungarischen Volksaufstand brutal niederschlugen? Mehr als 200.000 Ungarn verließen das Land. Sie blieben.
Kertész: Ich war 27 Jahre alt, und ich habe mich entschieden zu schreiben. Ich hatte nur diese eine Sprache, die ungarische, und es war mir klar, dass ich keine neue Sprache finden werde, in der ich mich ausdrücken kann.
Standard: Sie haben ein freies Leben dem Schreiben unterworfen.
Kertész: Ja.
Standard: Das klingt heroisch.
Kertész: Was ist heroisch daran, dreizehn Jahre an einem Roman zu schreiben?
Standard: Haben Sie nie bereut, geblieben zu sein?
Kertész: Natürlich war ich unglücklich und depressiv, das Leben war schrecklich, ich lebte eingesperrt in einer 28 Quadratmeter großen Wohnung. Ungarn wurde die "fröhlichste Baracke des sozialistischen Lagers" genannt oder "Gulaschkommunismus" , beide Begriffe sind fürchterliche Verharmlosungen. In Wahrheit war es ein Gefängnis. János Kádár, der Generalsekretär, für viele eine Art Vaterfigur, war ein perfider Massenmörder, der auch nach 1956 viele Menschen hinrichten ließ. Die ganze ungarische Gesellschaft, mit Ausnahmen natürlich!, hat sich angepasst, ich habe das so bewusst und deutlich wahrgenommen, weil ich diese Anpassung schon in Auschwitz erlebt habe. Das endgültige Bild eines totalitären Systems konnte ich erst in Ungarn während des Kádár-Regimes erleben.
Standard: Wieso nahmen die Menschen das so verzerrt wahr?
Kertész: Die Diktatur erlöst den Menschen. Sie hebt das Individuum auf. Es ist eine ganz große Erleichterung, wenn einem das Denken abgenommen wird. So bleibt auch die persönliche Verantwortung auf der Strecke. Und ohne diese Verantwortung ist der Mensch Kind. Totalitarismus bedeutet eine infantilisierte Gesellschaft.
Standard: Für wen schreiben Sie?
Kertész: Für mich. Ich setze mich nicht hin und denke: Jetzt schreibe ich ein Buch, das attraktiv ist und erst noch dem Nobelpreis-Komitee gefällt. So geht das nicht. Ich mache Aufzeichnungen über Jahre, und auf einmal ertappe ich mich dabei, dass sie sich zu einem Roman verdichten.
Standard: Schreiben Sie heute noch?
Kertész: Jeden Tag.
Standard: 1983 waren Sie zum ersten Mal im Westen. Wie zeigte sich Ihnen der Kapitalismus?
Kertész: Das Goethe-Institut hat mich eingeladen. Ich war in München, es war ein heißer Sommertag, und während der Besprechung fing es an zu regnen, zu stürmen, zu hageln. Als man mich zur Tür begleitete, erklärte man mir, welche Straßenbahn ich nehmen sollte, um ins Hotel zu gelangen. Doch ich bestellte ein Taxi. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Deutsche Mark in der Hand. Echtes Geld! Der ungarische Forint war ja kein Geld. Als wir ankamen, gab ich dem Fahrer Trinkgeld, eine Mark, worauf er sich bedankte. Da gab ich ihm noch eine Mark, worauf er sich erneut bedankte. Das war meine erste Erfahrung mit dem Kapitalismus. Ein Taxifahrer.
Standard: Sie fühlten sich zu Hause?
Kertész: Sofort.
Standard: Wie verbrachten Sie Ihren ersten Tag in der "Freiheit" ?
Kertész: Ich ging essen in ein kleines Restaurant, sämtliche Tische waren besetzt, und ich setzte mich an einen Tisch mit jungen Leuten, deren Haare farbig waren und in alle Himmelsrichtungen standen.
Standard: Sie setzten sich neben Punks.
Kertész: Punks. Etwas verängstigt bestellte ich meine Suppe, es gab ja keine Punks in Ungarn, ich hatte noch nie solche Frisuren gesehen. Als meine Suppe kam, sagte der eine zum anderen: "Reich dem Herrn das Salz." Ganz höflich. Ich muss immer wieder an diese Szene denken. Später ging ich in den Buchladen eines großen Warenhauses und verbrachte dort mehrere Stunden. So viele Bücher hatte ich noch nie gesehen, ich war überwältigt und konnte mich nicht entscheiden.
Standard: Die Menge hat Sie erschreckt. Der Überfluss.
Kertész: Erschreckt? Von mir werden Sie keine Kapitalismuskritik hören, niemals. Ich habe vierzig Jahre in kommunistischer Gefangenschaft gelebt und lebe viel besser in der kapitalistischen Wirtschaft, weil sie frei ist. Frei bis zum Tod. Das Problem war nicht der Überfluss.
Standard: Sie sind trotz des vielen Leids, das Sie erlebt haben, immer Optimist geblieben.
Kertész: Wenn Sie das sagen.
Wenn Sie zurückblicken, worauf sind Sie stolz?
Kertész: Dass ich in einer verheerenden und dekreativen Gesellschaft etwas hervorgebracht habe, darauf bin ich stolz, das erfüllt mich mit Hoffnung. Gegen diese unbarmherzige, schlimme, reale, unförmige Welt konnte ich mit meiner Welt antreten, in der ich mich auskenne, in der ich sagen kann, warum das so ist und nicht so. In der realen Welt gibt es keine Orientierung.
Standard: Haben Sie Angst vor dem Tod?
Kertész: Ja. Aber ich hole meine Furcht an die Oberfläche und schreibe darüber. Wovor ich Angst habe, ist, dass der Tod so plötzlich kommt, ohne Trost und Zeichen. Dieser Gedanke macht mich wütend, vielleicht will ich noch ein Buch schreiben, aber der Tod kommt und bringt mich weg. Der Komponist Béla Bartók hat an seinem Todesbett gesagt: "Ich gehe, und mein Koffer ist noch voll."
Standard: Auch Ihr Koffer ist noch voll?
Kertész: Mehr als voll.
(Mit Dank an die Tageszeitung "Der Standard". W.H.)
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Vor der Wand
Wir stehen als ganzes vor der Wand, der einen Wand. Als ganzes. Als ganzer Menschenkörper. Wenn die Wand sich auf uns zubewegt, dann wird uns die Illusion, in der wir ohne Unterlaß verharren, abfallen, und wir werden erkennen und bekennen. Die Wand braucht nur einen Schritt auf uns zugehen, und alles wird sich als nichtig erweisen.
Selbst jene, die staatlich legitimiert morden, werden es im selben Moment verstehen wie wir alle anderen auch. Dann wird das Morden ein Ende haben. Erst dann.
Wir stehen vor dem entscheidenden Jahr, einem Jahr, das uns zum letzten Mal eine selbstergötzende Zahlenspielerei in der Form von „12.12.12“ erlaubt, sofern es überhaupt dazu kommen sollte.
In 2012 brechen alle Dämme, alle, wie von höherer Hand. Kein einziger Damm wird halten. In 2012 kulminiert alles, so auch der menschliche Wahn.
2011 war das Jahr der Vorbereitung, einer kritischen, bisweilen auch schmerzhaften. 2012 wird es endgültig ernst, schlagartig. Man wird sich hinsetzen und die Hände in den Schoß legen können. In Hiroshima tat das damals, an jenem 15.August 1945, nur eine einzige, eine Nonne. Sie überlebte, als Zeichen.
Niemand wollte reden
Hans Stadelbauer (1910 -1982) zum Gedenken
“Es ist verwunderlich, daβ Kinder nach einer Katastrophe so unschuldig aufwachsen können. Als hätte es die Katastrophe nie gegeben. Ja, im ganzen alltäglichen Leben hat es den Anschein, als hätte es den Zusammenbruch damals nicht gegeben. Heute sieht man keine Ruine mehr. Alles ist wiederaufgebaut. Die Unverdrossenheit des Menschen ist erstaunlich. Wie die Ameisen. Sogar die Toten, die damals starben, sind vergessen, erst recht jene, die an der Front waren und nicht mehr heimkamen. Wie die Amerikaner als erste diesen Landstrich von Italien her überflogen und die Panzerschmiede in Herzograd bombardiert haben, haben sich sowieso alle bereits auf den Zusammenbruch vorbereitet. Alle haben insgeheim geschaut, wie sie davonkommen könnten. Wie die Amerikaner dann bei hellichtem Tag mit ihren Tieffliegern kamen, sind alle gelaufen, und die Amis haben ein Hasenschiessen gestartet auf Kind und Kegel, piff piff piff paff. Und dann ging ein Schrei durchs Land, “Die Russen kommen!” Und die Frauen sind durch die Gegend gerannt wie kopflose Hühner. Der Russe ist ein edler Soldat. In der wildesten Schlacht verliert er nicht die Ehre, so armselig er ist. Die Russen sind alle gegangen. Der Stalin hat sie alle umgebracht. Ich bin den Russen gegenübergestanden, ganz vorne, bei Charkow. Es kommt der Moment der Wahrheit, er oder ich. Du weiβt nicht, was du tust. Du hältst nur drauf. Nach einer Woche kommst du wieder zu dir, wenn du dich zum erstan Mal wieder wäschst und die Stiefel zum ersten Mal wieder abnimmst und du mit den barfüssigen Zehen im Gras stehst. Du schaust an deinem Körper hinunter, alles heil. Du muβt dir vorstellen, wir hatten wassergekühlte MG’s. Die Russen sind wie Lemminge den Abhang heruntergestürmt. Hinter ihnen gab es Schüsse. Der NKWD. Stalin hat mitten in der Schlacht seine eigenen Leute umgebracht. Wir haben draufgehalten. Kein einziger ist bis zu unserem Stand vorgedrungen. Ein einziger Gürtel, der lange, hatte 400 Patronen. Wir haben alles verschossen. Doch in Charkow gab es keinen Auftrag für uns. Wir sind wie die Hasen geflüchtet. Ein Scharfschütze hat mich erwischt. Bauchschuβ. Ich lag 14 Tage im Delirium, bin im Hinterland im Lazarett wachgeworden. Ich hab den, der mir das Leben rettete, nie kennengelernt. Sie haben mich mit der Eisenbahn nach Hause geschickt. Genesungsurlaub. Dann, als ich wieder halbwegs auf den Beinen war, sagten sie, bewachen Sie die Kriegsgefangenen im Arbeitslager Herzograd. Ich war selbst wie ein Halbtoter, hatte aber ein Gewehr in der Hand. Ein anderer hat mir eine Zigarette in den Mund geschoben und angezündet. “So wirst Du schneller gesund. Wirst sehen.” So hab ich zu rauchen begonnen, bis heute. Mein gröβtes Laster. Mein Tod. Dann muβte ich zurück, die Front verteidigen, in Ungarn. Dort haben sie mich wieder erwischt. Linkes Knie. Tut verdammt weh, und dieses Leiden wirst du ein Leben lang nicht mehr los. In St.Pölten lag ich im Lazarett. Dort haben mich die Russen ausgehoben. Ich hatte eine Packung Selbergedrehte bei mir, aus Zeitungspapier, die gab ich ihnen. Das hat mir das Leben gerettet, wieder. Sie haben mich gefragt, mit dem Dolmetscher, … also wer sagt, diese Russen waren blöd, der lügt! Sie waren nur arm wie Kirchenmäuse. Sie fragten mich, woher komme ich. Ich zählte alles auf, alle meine Einsätze. Der Kommandant fragt mich, wieviel von uns hast du auf dem Gewissen, und ich hab Tränen bekommen, nicht aus Angst, wer weiβ, wovon, und ich sagte ihm, Herr Kommandant, Sie können mich umbringen, aber beim besten Willen, ich kann mich nicht erinnern. Aber es müssen viele gewesen sein. Dann muβte ich ihm auf der Karte zeigen, von woher ich komme, St.Valentin, Rubring an der Enns. “Was gibt es dort?”, fragte er mich, ich sagte: “KZ Mauthausen und die Panzerschmiede und viel Eisenbahn.” Und er beriet sich mit seinem Adjutanten. Dann schrie er in die Gegend, und alle haben ihre Sachen gepackt, in Eile, und zu mir sagte er “Stoj!” Eine Woche später kam ein Struppiwagen und nahm mich Huckepack, ab gings durchs Mostviertel nach Hause. Sie haben mich vor der Haustür abgeladen. Meine Verlobte, wie sie mich Krüppel sah, hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ausgerufen, “Dad, das gibt’s ja nicht!” und ist bewuβtlos zusammengebrochen. Sie hat mich immer “Pappi” genannt, auf Englisch, abgekürzt. So war Maria. Eine Daunhoferin. Eine, die so wie ihre Schwestern leicht fleinen konnte. Die Russen haben mich auf die Beine kommen lassen, und dann haben sie mir eine Mistgabel in die Hand gedrückt und mich zum Vorräteaufpasser bestimmt. Ich habe erfahren, der St.Pöltner Kommandant hatte es so bestimmt. Sie haben wieder einen Dolmetscher kommen lassen, und der übersetzte mir, Du hast Nachtwache, jeden Tag. Du stichst jeden nieder, der sich am Schuppen zuwerke macht, egal ob Russe oder Nazi, egal ob bewaffnet oder nicht. Das hab ich gemacht. Und weiβt Du was? Ich hab das noch gemacht, wie wir unseren Hof hatten und verheiratet waren. “Was hast denn, Dad?”, fragt mich die Mitz, mitten in der Nacht, mitten in der schönsten Stunde. Ich springe auf, wie ich bin, schnappe mir das nächste Holzzscheit und renne den Rotzbuben nach, werfe das Scheit und schrei ihnen nach, “Das nächste Mal kriegt ihr die Mistgabel ins Kreuz!” [“Ja, so war der Dad”, wirft Maria ein. “Als Nackerpatzel!”]. Und damit hatten wir unsere Ruh’.
…
Meine Frau ist letztes Jahr gestorben, am helllichten Tag, am Nachmittag, wie wir vom Einkaufen zurückkamen. Im Vorhaus läβt sie die Tasche fallen, greift sich ans Herz, schaut in den Himmel und ruft “Jetzt sterb’ ich!” Und tot lag sie da. 62 ist sie geworden. Eine herzensgute Frau, aber im Krieg hätte sie nichts verloren gehabt.
Was soll ich dir sagen? Kannst Du es mir erklären? Ich schäme mich nicht meiner Tränen! Schön, das wir jetzt beisammen sitzen, einen Moment. Wer weiβ, wann es das nächste Mal sein wird.”
(Hans Stadelbauer, Rubring, 1979 und 1980, wenige Jahre vor seinem Tod)
"Er nimmt mich zu sich…"
Ben Crenshaw, eine US-Golf-Legende, spielte somit zwei Ehrenrunden im Masters von Augusta. Die Zuschauer verabschiedeten ihn mit standing ovations. Sein ehemaliger Caddy, ein von der Krankheit gezeichneter Schwarzer, weinte, so wie die jugendlich wirkende Gattin und die drei bildhübschen Girlies. Ben Crenshaw zieht sich definitiv vom Golf zurück. Er spielt nicht bis zum bitteren Ende, auch nicht auf der Senior-Tour, wo Lee Trevino eine Zeit lang der Star war. In den Staaten ist es verboten, vom Tod zu sprechen, erst recht vom eigenen. Jemand, der seine Resignation ankündigt und damit das ungeschriebene Gebot der ewigen Jugend bricht, wird gemieden und gemobt. Und eines Tages sind sie endgültig weg, das ganze Gegenteil des in der Öffentlichkeit gestorbenen Polen Wojtyla, den doch nicht wenige für eine Unperson hielten, war er doch, wie man allerseits ohne einen Hauch von Zweifel wußte, "stockkonservativ". Über Wojtylas Ende schrieb dessen Sekretär Dziwicz, ein berührendes Geständnis. Wir wissen leider viel zu wenig – wenn überhaupt etwas – von den letzten Momenten unserer Mitmenschen, und das ist ein echtes Manko, ein Manko der Erziehung. Wir werden vom Tod unserer Nächsten geschockt wie von einem Guß Blausäure. Das Natürlichste auf Gottes Erdboben wird uns als die größte Schande, das größte Übel verkauft. Jemanden zu "killen": Jederzeit! Kein Problem! Doch selbst zu sterben? Ein Verbrechen! Der, der uns das einbrockt, ist doch wohl der größte Verbrecher. Oder etwa nicht, Herr Nachbar? Deshalb konsultiere ich neuerdings jenen Arzt, der mir von einer möglichen Lebenszeit von bis zu 150 Jahren vorschwärmte. Lesen Sie sein Interview in der "Repùblica".
Genau das ist das Tabu in dieser bis in die Grundfesten hinein dekadenten, verlogenen, faschistischen Spaßgesellschaft, die jeden Spassverderber postwendend lyncht: Diese Leugnung, daß es mit uns früher zu Ende gehen kann, "als uns lieb ist". Dieses "Lieb-Sein" spricht doch eine klare Sprache. Es zeigt unser Dilemma. Denn die faschistische Ideologie will uns einreden, wir seien technomorphe Gebilde. Wir müßten nur danach trachten, unsere Hardware instand zu halten und rechtzeitig und regelmäßig servicieren zu lassen. Und gleichzeitig führen sie uns vor, daß die Allgemeinheit nur allzu leicht auf uns verzichten kann. "Nichts schlimmer", so flüstern sie uns ein, "wenn man auf dich vergißt." Doch das ist ja die Lüge. Diese Lüge fruchtet ja nur deshalb, weil wir ihr Glauben schenken. Kein häßlicheres Geschäft als jenes mit dem Tod. Fünf Meter neben mir sitzt eine Meute von Kindern, die "Play-Station" spielen. Todesschwadrone. Ruede Kommentare auf Russisch und Englisch. Der Tod ist das Hauptgeschäft, das ist doch offensichtlich. In allen Bereichen, auf allen Niveaus. Ist das nicht pervers?
Der heutige Sonntag ist im Rahmen des Kirchenjahres der "göttlichen Barmherzigkeit" gewidmet. So das Dekret des Polen, ein Jahr vor seinem Tod. Das ist für mich außerordentlich relevant. Das Gegengewicht zu dem, was hier auf Erden vor sich geht. Unser Erwachen, so meine ich, wird, um es sorgfältig zu formulieren, "gewaltig" sein. Das Ende des Mordens. Das Ende der Show. Wenn wir "hinweggerafft" werden. Nicht so wie Thomas Byles, ein 42-jähriger Priester. Byles befand sich 1912 auf der Reise zu seinem Bruder in New York. Während der Überfahrt feierte er mit Passagieren der zweiten und dritten Klasse die Messe, auch am Morgen der Havarie. Als das Schiff zu sinken begann, weigerte er sich nach Angaben von Überlebenden, ein Rettungsboot zu besteigen, sondern blieb für Gebet und Beichte bei den übrigen Passagieren und ging mit ihnen unter.
Es kann uns ohne Vorwarnung treffen, oder die Vorwarnung ist ein Säuseln in der Luft, vielleicht eine Vogelstimme. Manche hören die Stimme. Sie wissen, jetzt ist es Zeit. Vielleicht bleibt bei allen die Zeit stehen, und sie finden bereits eine Ewigkeit, um den letzten Schritt zu tun. Vielleicht wird es so sein. Bereits eine Ewigkeit für den letzten Schritt. "Es wird die pure Ekstase sein, wie nichts in meinem bisherigen Leben", sagte schon vor Jahren Altmeister Agustin. Ich sehe heute, er meinte tatsächlich "Ekstase", und nicht "Exstase". Er sprach vom Schritt, nicht von der Lust.
Schreiten. Ohne Drang. Durch die Zeit, die gewesene, und dann, an der Schwelle…
Nun gut, es kommt immer anders als man denkt. Der Mensch denkt, Gott lenkt. So sei es.