Lernen unter Entbehrung

Hält nicht das Leben Überraschungen bereit? Sprechen wir über die angenehmen, wenngleich aufwühlenden. Ein Herr befaßt sich mit Ratten. Er möchte studieren, wie sie lernen. Ein anderer macht es mit Hunden. Wie verhalten sich Hunde auf bestimmte Klingelzeichen hin. Die, die die Ratten studieren, sind in der Überzahl. Menschen kann man nicht so einfach studieren, deshalb greifen sie auf Ratten zurück. Zwischen Mensch und Ratte besteht ja ohnehin kein allzu großer Unterschied. Ratten vermehren sich, Menschen vermehren sich. Ratten sind klug, Menschen sind klug. Beide stehlen, oder sagen wir besser: Der Mensch stiehlt und wird deshalb in Lateinamerika als Ratero tituliert, was nur rechtens ist. Stehlen ohne Gewissen. Das fasziniert die Forscher. Stehlen und Töten ohne Gewissen. Wie kommt der Mensch dazu? Wie kommt er überhaupt zur Gewalt? Wieso erfindet der Mensch Waffen? Warum ist dies sein erstes Ziel? Waffen. Waffen, so sagt der Waffenliebhaber, sprechen für sich. Sie ersparen dir eine Menge Argumente und Schlimmeres.

In Brasilien werden pro Stunde sieben Menschen ermordet. Brasilien brennt. Ein Blinder sieht, das führt in den Orkus. Der neue Präsident, welcher Couleur auch immer er sein mag, wird Waffen nicht verbieten können, ebenso wenig die amerikanischen Präsidenten. In den USA befinden sich 300 Millionen Schußwaffen in Privatbesitz, der jedoch höchst ungleichmäßig verteilt ist. 3% der Bevölkerung, somit 9 Millionen Personen, verfügen über 150 Millionen Schußwaffen, mit anderen Worten, von diesen „Waffennarren“ nennt ein jeder 16,6 Waffen sein eigen. Der Besitz von Waffen ist im 2.Zusatzartikel der Verfassung von 1791 verankert. Dieser (Second Amendment, verabschiedet am 15. Dezember 1791) garantiert den Besitz und das Tragen von Schusswaffen auf Bundesebene. Bundesstaaten, Bezirke und Gemeinden können nach dem 2010er-Urteil McDonald v. Chicago des Supreme Courts keine abweichenden Regelungen erlassen.

“A well regulated Militia, being necessary to the security of a free State, the right of the people to keep and bear Arms shall not be infringed.”

„Da eine gut organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“

79% der US-Amerikaner, somit das überwältigende Gros der Bevölkerung, besitzen keine Schußwaffen. Dennoch: In keinem Land der Erde werden mehr Massenmorde begangen als in den USA. Die Toten in Mexiko, Brasilien, Venezuela und Honduras sind allesamt der organisierten Kriminalität geschuldet.

Wo soll das hinführen?

Das Thema der brennenden Kontinente kommt in allen Diäten mit Kraftpflanzen. Gewalt in jedem Gewand. Sexuelle Gewalt, verbale Gewalt, tätliche Gewalt, Schläge, Schießereien, Kriege, Massenvernichtungswaffen. Tote Wale kommen in jeder Diät. Der vermüllte Planet ebenso. Irgendwann wird unser Planet im Plastik ersticken. Eine hundert Meter dicke Plastikwelt wird den gesamten Planeten bedecken. Das ist keine Übertreibung, so wie die Veranschaulichung der Untaten einzelner Konzerne wie etwa Coca Cola, einer der Hauptverursacher der Plastikvermüllung. Das alles betrachten zu müssen, macht Diäten dermaßen anspruchsvoll. Dieser Anblick stellt uns vor die Frage: „Welches Monstrum wütet hier?“ Ein Monstrum, das sich mit der Maske der Dummheit tarnt. Das Monstrum, das diesen Planeten mit Feuer schlagen will, gibt sich nicht wie der Joker in Batman redegewandt. Es gibt sich nicht einmal mordlüstern. Es gibt sich dumm. Es läßt dreijährige Kinder Plastikflaschen in den Amazonas werfen. Die Eltern greifen in keinster Weise ein. Diese Eltern wissen nicht, daß die Erde eine Kugel ist. Sie wissen nicht, was Schwerkraft ist. Wird ihr Sohn zu einem Mörder, ist ihnen dies egal. Dem Sohn sind die Eltern ebenso egal. Er sieht sie sowieso nie mehr wieder, sobald er von ihnen auszieht.

Die Diät ist etwas für Entschlossene, für Wagemutige, für Konsequente. Diäten sind der Königsweg, um im Vegetalismo zu lernen. Lernen von Pflanzen ist der Königsweg für Menschen des Waldes und solche, die in den Wald zurückkehren wollen, so wie Oskar Werner in Fahrenheit 451. Die Postapokalypse spielt auf offenem Meer, in der Wüste und in neu grünenden Wäldern. Die Postapokalypse baut auf ein paar zehntausend Menschen auf, wenn überhaupt. Die Postapokalypse baut dann wieder auf, wenn der Kannibalismus überwunden sein wird. Der Kannibalismus ist nie ausgestorben. Er hat nur nicht mehr System. Wie soll der Kannibalismus ausgestorben sein, wenn tote Föten von diversen industriellen Interessenten Tag für Tag ausgeschlachtet werden? Der Inzest ist demgegenüber ein schales Verbrechen. Schlimm genug, so wie in gewissen gerontokratischen Städten die Sodomie.

Eine Diät verwirrt. Sie würde noch mehr verwirren, wäre da nicht die Schutzhand des Geistes. Der Geist weiß, was uns fehlt. Er weiß es an erster Stelle. Die Wirkung des Pflanzengeistes ist pure Huld. Er geleitet uns durch die gurgelnden Untiefen und Klippen zwischen Skylla und Charybdis. Er zeigt sich uns in einer Weise, die selbst dem Begriffsstützigsten (und dazu zähle sehr wohl auch ich) wohltätige Ehre erweist. In der Hand des Pflanzengeistes sind wir allesamt Kinder. Und nunmehr, über kurz oder lang, merken wir, beginnen wir zu ahnen, ja, es könnte sein, daß wir hier und jetzt persönlich gemeint sind. Kann das sein? Können wir wirklich inmitten dieses Infernos persönlich gemeint sein? Je länger ich in Diät verharre, umso Erstaunlicheres tritt zutage. Bei Tag wie bei Nacht. Bei Nacht erst recht. Verstörende Träume. Stimmen, die einen rufen. Weinanfälle. Trauer. Wut. Das Panoptikum der Gefühle. Ich fühle mich so schrecklich allein, denkt der Diätant. Eines Tages greift er zu einem guten Buch, das bereits seit geraumer Zeit auf dem Tisch seiner Hütte liegt und erkennt: „Nein, ich bin es doch nicht!“

„Herr, lehre uns beten!“, baten die Jünger den Herrn. „Die rechte Weise zu beten…“ Einer meiner Kapitellsätze. Das alles wandert in der Diät durch das Feuer der Läuterung. Eine heroische Wanderung.

 
Mahatma Gandhi

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  1. Wie lerne ich Lernen?

    Es besteht kein Zweifel: das, was mich tagtäglich umtreibt, ist das Suchen nach Antworten zu Fragen, die mich von früh bis spät in Atem halten. Die Zentralfrage dabei vielleicht die Frage „Was fange ich mit mir an?“

    Diese Frage fällt in der Diät gewissermaßen mit der Tür ins Haus, sobald man die Medizin getrunken hat. Wie man die Medizin trinkt, bleibt einem letztendlich selbst vorbehalten. Oft sieht es ja keiner. Doch selbst wenn uns einer zuschaut, was kümmert es mich? Das ist beispielsweise beim Trinken von Ayahuasca bereits geheime Devise so manch Eines. Schlußendlich handelt es sich um Teufelszeug, „geiles Zeug“, „Gift“, „eine Erfindung des Teufels“, den Inbegriff der Ekelverursachung. Somit muß es doch statthaft sein, sich die Nase beim Trinken zuzuhalten oder den Schluck Medizin mit einem halben Liter nachgetrunkenen Wassers sofort zu verdünnen. Auf daß nur dieser ekelhafte Geschmack aus meinem Mund weicht! Gut, Ayahuasca ist eine Ausnahme. Die meisten Medizinen schmecken nicht ekelhaft, können jedoch sehr wohl massiv aversiv wirken. Ojé, Mapacho und auch Toé lassen manchen Todesmutigen sehr schnell zu Boden gehen, erst recht jene Ankömmlinge, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, zumal sie ursprünglich Anderes im Sinn hatten, nämlich ein diskretes erotisches Abenteuer in südlichen Breiten. Doch die Mehrzahl der Medizinen schmeckt nicht skandalös. Ein Kind, das zum ersten Mal einen kleinen Schluck Bier trinkt, verzieht auch das Gesicht, doch den Waschmaschinenreparateur kümmert es nicht. „Wenn du einmal erwachsen bist, wird es dir auch schmecken“, kommt sein unvergessener, auf immer bestehender Weisheitsspruch. Ein Spruch, der über den Tod hinaus Gültigkeit hat. Die meisten Medizinen schluckt man, dann springt man ins Wasser und danach geht es schon ins Bett, oder wonanders hin. Der Abort ist zuweilen ebenfalls eine bekömmliche Alternative. Doch die Mehrheit der Bäume wirkt schleichend oder doch zumindest minutenverzögert. Im Bett beginnt die Wirkung, die zumeist auch mit einer Bewußtseinsveränderung einhergeht. Die Bewußtseinsveränderung greift auch Platz bei unprätentiösen Medizinen, wie beispielsweise der Katzenkralle oder der „dickbusigen Mulattin“, Chuchuasha. Die Wirkung baut sich auf. Manch eine, um der klammheimlichen Furcht wegen des etwaig auf sie wartenden Unbekannten vorzubeugen, greift zu ihrem Sudoku-Heft. Eine andere zu Henry Millers „Sexus“. Der Schierlingsbecher ist bereits getrunken, somit hoffen wir, es wird nicht allzu grimmig. Wird es grimmig, kann mich der Herr H. einmal. Ich bin doch nicht lebensmüde! Und siehe da: Es wird nicht allzu grimmig. Nicht im ersten Anwurf. Dann kommt die Nacht, und seltsam, ich schlafe da elf Stunden, mir wird nicht zeitlang, ich höre den Hahn, die Affen, die Grillen und den Platzregen. Doch das Allerseltsamste: Fremdartige Träume wie nur was. Also aber! Was soll denn das? Wie komme ich zu der Ehre? Puh! Und erst recht diese Hitze. Am liebsten möchte ich mitten in der Nacht aufstehen und in den Bach springen! Ich tue es sogar, im funseligen Schein meiner batterieschwachen Taschenlampe. Das muß ich doch glattweg morgen regeln. Mit dieser Taschenlampe kann ich nicht die nächsten 14 Tage leben! Sagte ich 14 Tage? Ich muß doch lebensmüde sein! Auf was habe ich mich da eingelassen? 14 Tage? Und noch dazu laut versprochen? Ich blöde Gurke! Na gut. Wenn ich abbreche, dann ist das mein Bier. Ich lasse mir doch von niemandem dreinreden. Mit mir nicht! Ich bin mein eigener Herr. Sagte nicht Don Agustin: „Ich habe alleine gelernt, ohne Meister. Ich war viel zu stolz, um auch nur den kleinsten Ratschlag meines Meisters anzunehmen. Ich machte alles alleine, auch das Kochen. So war es am besten. Niemandem Rechenschaft schuldig sein. Ich habe alles mit mir selbst ausgemacht, von Anfang bis zum Ende. Ich habe niemandem auch nur irgend etwas erzählt und auch niemanden um Rat gefragt. Das kam nicht in Frage.“ So spricht ein Meister. Kann man sich eine Scheibe abschneiden. Es ist ohnehin mühselig genug. Dieses Nichtstun. Diese Enthaltsamkeit. Derjenige, der die Diät erfunden hat, gehört standrechtlich gevierteilt. Und ich, der ich auf diesen Lügenschmarren hereingefallen bin, gehöre rechts und links abgefotzt. Wie kann man sich nur diesen Unsinn antun? Kein Salz (das Schlimmste), kein Pfeffer, kein Senf (schlimme Strafe!), aber das Allerböseste: Man schickt mich in Einzelhaft. Welche Gemeinheit! War ich denn nicht schon ein Leben lang allein und habe darunter schmählich gelitten? Und jetzt erst recht! Was für ein Sadismus! Nun gut, ich fühle mich schwach, doch ich habe mein Bett. Was kann ich zum Zeitvertreib anstellen? Die Aufgaben, die sie mir angeregt haben, diese berühmte idiotische Schwächenliste, das lasse ich mal beiseite. Er kann mich kreuzweise! Ich lese jetzt mal spannende Lektüre, Charles Bukowski beispielsweise. Zum Glück habe ich außerdem in weiser Voraussicht mein Knobel-Schachbuch eingepackt. 1.000 knifflige Stellungen. Daneben lesen wir Anthony Bourdain, „Geständnisse eines Küchenchefs“. Denn Rest überbrücken wir mit erotischen Phantasien. Sobald ich wieder nach Hause zurückkehre, werde ich es knallen lassen. Ich habe da ein paar Herren im Visier. Ist mir egal, was sie von mir denken. Ich deklariere mich ungeniert. Das gehört zum neuen Frausein. Steht bereits in der Verfassung. Seltsam, das ich mich dermaßen mutig fühle! Alle Achtung! Die Nacht senkt sich herab und wir fühlen uns bereits seltsam schläfrig. Wir nesteln nach unserem Pyjama. Seltsam, ich befinde mich hier in den Tropen, aber mir ist kalt. Vorhin noch war mir siedend heiß, und jetzt bibbere ich. Ach wie gut, daß ich nicht auf meinen Lieblingspyjama vergessen habe. Wenn ich zurückkomme, werde ich mir bei „Otto“ sofort einen zweiten zulegen. In diese Pyjamas könnte ich mich glatt verlieben. Wenn schon keinen Mann, so doch wenigstens ein erotisch weicher Pyjama. Und außerdem haben sie guten Gummi-Zug. Nichts Nervtötenderes als eine Hose, die einem alle paar Augenblicke den Popo hinunterrutscht. Zum Glück hat die Decke Qualität und erst recht die Matratze. Die Leute hier lassen sich nicht lumpen. Immerhin. Gutpunkt für Herrn Pospišyl. Und seltsam: der Hunger ist weg. Also gut. Das Bett ist okay, die Polster auch. Aber wie ich die 14 Tage durchstehen soll, weiß der Hugo.

    Träume. Fremde Städte, fremde Menschen. Was tue ich da? Oh Gott, wie komme ich dazu, hier orgiastischen Gruppensex in allen Details mitverfolgen zu müssen? Ich höre es sogar schnalzen und stöhnen. Da sind Teufel unterwegs. Ich sehe es an ihren kalten Gesichtern. Die kalte Wolllust. Ekelhaft. Wieso erspart mir niemand diesen Scheiß? Ich wache auf. Es ist Nacht. Die Frösche quaken. Irgendein Vogel schreit. Gespenstisch. Der Vogel schreit ganz allein. Was hat er denn nur? Kein zweiter antwortet ihm. Ruft er? Nach wem ruft er? Ach du meine Güte! Was kratzt denn da an der Wand? Das klingt ja wie ein Ungetüm. Es schmatzt und zettert. Ach ja, Stachelschweine, hat Herr Pospišyl angekündigt. Spaßvögel. Immerhin hört man sie laut und deutlich quieken. Was aber mache ich mit einer Boa vor meiner Hüttentür, oder mit dem heimtückischen Skorpion, der über das Dach hereingetrippelt kommt? Nur ein falscher Tritt barfuß, und ich bin geliefert. Nein, ich setze keinen Tritt vor das Bett. Wo ist der verdammte Nachttopf? Ach ja, da, gleich unten. Das war eine gute Idee: Nachttopf in Griffweite. Bei dieser Affendüsternis sieht man ja nicht einmal die Hand vor den Augen! Also wirklich, das glaubt mir zuhause keiner. Gespensterkino im Dschungel. Ich alleine, des Nachts. Draußen der Jaguar und der Chullachaqui. Ich fasse es nicht, daß ich dazu imstande bin. Der Jaguar draußen und ich herinnen. Nicht schlecht! Doch was mache ich, wenn der Wurzelsepp bei geschlossener Tür hereinflutscht und mir das Moskitonetz in die Höhe hebt? Dieser mordlüsterne Blick in seinen Augen, und er denkt sich noch dazu nichts dabei, vollkommen nackt aufzutreten. Na gut, wenn es sein muß.

    Es dämmert um 5:25 Uhr. Meine Rolex lügt nicht. Sie funktioniert. Das Krokodilarmband wurde nicht von den Cucarachas heimlich angeknabbert. Ich gehe jetzt Baden. Die Uhr nehme ich mit. Ich weiß, irgendwo im Gebüsch lauert ein Peruaner, der auf die nächstbeste Gelegenheit wartet, um zuzulangen, doch ich mache ihm nicht die Freude. Alles unter Verschluß im Tresor im Dorf. Meine Uhr ist der einzige Luxus, den ich mir erlaube. Ist schon schlimm genug, daß ich auf mein Handy verzichten muß, aber ich werde es überleben. Sie haben kein Netz hier. Welche Schnapsidee! Gut, die erste Nacht habe ich überstanden, das ist das Wichtigste.

  2. Ungeheuerlich

    In einer Diät stellen sich die Krisen in Wellen ein, üblicherweise am ersten und zweiten Tag, an denen man sofort an der Sinnhaftigkeit des eigenen Entschlusses zweifelt, sowie am siebten Tag. Die Anfechtungen handhaben eine Sprache der Verharmlosung, so wie die Sprecher der Abendnachrichten, die in 20 oder 25 Minuten die wichtigsten Nachrichten des Tages durchzupeitschen haben. Der Sendezeit ist zudem bereits Zensur vorausgegangen. Die Programmleiter entscheiden, was wichtig ist und was nicht.

    Das geschieht in einer Diät nicht. Im Fortgang eines Diättages mischt sich Unwesentliches zu Wesentlichem. Das Unwesentliche, so könnte man sagen, dominiert anfangs. Es dient der Zerstreuung, denn der Anspruch der Diät, der man sich freiwillig unterzogen hat, ist massiv herausfordernd. Wir spüren, wir lassen uns hinterfragen. Sobald wir dann beginnen, uns selbst aktiv zu hinterfragen, wird es grimmig, und wir befinden uns im Handumdrehen in einem höchst persönlichen Kampf. Sobald nach einigen Tagen innere Ruhe und Ernsthaftigkeit, gepaart mit Lethargie und Trauer, einkehren, erkennt der oder die Lernende die Ernsthaftigkeit der Situation, die Ernsthaftigkeit der Lebenssituation allgemein. Das Heranschweben dieser vordem zurück- oder abgewiesenen Themen führt zu einer Form des stillen, jedoch hartnäckigen Schreckens, der die eigentliche Herausforderung bildet, denn diesem ist auch nicht durch Mapacho Rauchen beizukommen. Vielleicht helfen Spaziergänge im Wald.

    Der ideale Ort für eine Diät ist die Abgeschiedenheit, so z.B. eine für eine oder zwei Wochen gemietete Almhütte. Die erste Zeitstrecke für den Unerfahrenen darf unbedenklich eine Woche, sieben Tage, sein. Fortgeschrittene steigern auf 14 Tage. Standkräftige, die wissen, was sie ganz und gar nicht wollen und die bereit sind, ins Unbekannte aufzubrechen, wagen sich über 21 Tage. 21 Tage Diät brauchen gutes Umfeld und gute Medizin. Die 3-Wochen-Diät ist eine Reise in Neuland und eine nennenswerte, unübersehbare Jahresmarke. Während dieser Zeit verweichlicht sich das Weltgefüge und längere Trancezustände können Platz greifen. Seltsamerweise spürt man ständig Schweiß auf seinem Körper, sogar während kühlerer Brisen oder leichtem Regen. Wer geübt ist, den eigenen Geruch wahrzunehmen, wird merken, auch dieser ist verändert. Es gibt Diätmeister, die verbieten Zahnpaste und Gurgelwasser. Man putzt sich in der Diät die Zähne mit Sand, sagen sie, und wäscht sich auch nicht mit Seife. In Otorongo praktiziere ich es nicht so streng. Im Grunde finde ich solche Details lächerlich. Die eingenommene Medizin wird dadurch nicht geschädigt. Es gibt außerordentliche Menschen, die während einer Langzeitdiät in Europa arbeiten. Sie sind mit dem Auto unterwegs. Das nur zur Relativierung. Die Diät fordert etwas Anderes: Ehrlichkeit. Die Ehrlichkeit gegenüber allem, was man denkt und empfindet, und das ist bereits sehr viel. Der Diätant weiß untrüglich, wie wichtig es ist, sich von den Quellen der Unreinheit (hauptsächlich Fernsehen und Sensationsnachrichten sowie Zerstreuung) fernzuhalten. In der Diät spricht man wenig, zuweilen, wenn sie alleine im Dschungel durchgeführt wird, gar nichts. Selbstgespräche, das ja, und phantasierte Gespräche, die im Übermaß. Über die phantasierten Gespräche mischen sich die Geister ein. In der Regel ist es immer nur einer, und nicht notwendigerwise nur der Genius der diätierten Pflanze. Es gibt Pflanzengeister, die aus der hinteren Reihe kommentieren, wie z.B. der Herr des Waldes (Yushin), der Herr der Dunkelheit (Mapacho) und die Königin selbst (Mutter Ayahuasca). Diese drei machen der Diätantin zweitweilig ihre diskrete Aufwartung. Das Auftreten der Pflanzengeister geschieht in der Regel unübertreffbar elegant, in einer Weise, die wir über Strecken gar nicht wahrnehmen. Die Diskretion des Geistes besteht natürlich maßgeblich in seiner Wandlungsfähigkeit. Er hat es nicht nötig, plump oder konfrontativ aufzutreten. Er weiß bereits von Anfang an, wer sich da in seinem Reich niedergelassen hat, während wir noch blind, verwirrt und wütend herumtorkeln. Doch das Absinken der Muskelspannung durch den Salzentzug geschieht unaufhaltsam und bringt sogar das kranke Denken nach und nach zum Erliegen. Deshalb zettert der Teufel in uns, denn er weiß, seiner Mordbereitschaft wird die Grundlage entzogen. Das Phlegma der Pflanze in uns gewinnt Oberhand, und damit das Staunen über die eigene ungekannte Gelassenheit.

    In der Regel ist die Diät eine Art Trippeltanz: Ein Schritt zurück, zwei Schritte vor. Zwei Schritte zurück, drei Schritte vor. Drei Schritte zurück, drei Schritte vor. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück. Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Noch ein Schritt zurück, vier Schritte vor. Dann schlafen. Schlafen zu jeder Zeit. So kann es auch geschehen, daß einer sagt, heute trinke ich nur Wasser. Der Boquichico-Fisch ist doch trivial. Jeden Tag dasselbe. Und er hält es durch, während die Traumstimmen geradezu rufen. Stimmen rufen, noch Minuten nach dem Aufwachen. Dann sitzt man traumversunken am Bach, bereits um halb Sechs, noch bevor die Affen rufen. Über den Palmen hängt Nebel. Wo haben sich nur die Wasserschildkröten versteckt? Die Baukare starten mit ihrer Geschäftigkeit. Ich blicke hoch: In der Kastanie hängen mindestens fünfzig Nester. Was für Friede. So muß es am Anfang gewesen sein.

     

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  3. Ahnung und Schau

    Medizinpflanzen zeitigen unterschiedliches Gewirke. Das ist so gewollt und vorgesehen. Gleichwohl möchte ich nicht von einer Hierarche unter den Pflanzen sprechen, ja nicht einmal in Bezug auf die Königin, la madre, Ayahuasca. Manche Indiostämme verwenden Ayahuasca gar nicht, weil es nicht zu ihrem Lebenskreis zählt. Dasselbe gilt für San Pedro, den Kaktus.

    Die Medizinpflanzen sind für sich, jede einzelne, ernsthaft diätiert, für jeden Lernenden eine Eröffnung. Ab einer bestimmten Zeitstrecke werden die Lerninhalte immer anspruchsvoller. In erster Linie zählt dazu die Einsicht in die eigene Unhaltbarkeit. Wir könnten auch sagen, in die eigene Ignoranz, die unbeschreiblich gewaltig ist. Dies ist eine Zeitstrecke, wo alle Gesichter des Lebens sich in Fratzen verwandeln und die Stimmen der Vergangenheit mit unaufhaltsamer Gewalt wieder hochsteigen. Die Einholung durch die Vergangenheit ist zeitweise begleitet von der ernüchternden Erkenntnis, daß die Menschen unserer Kindheit und Jugend bereits tot sind. Die Arbeitsweise des Heiligen Geistes ist eine heilsfördernde, die sich mit dem Wirken der Pflanzengeister, Engeln, anreichert. In der Anfangszeit der Diät, sagen wir: in den ersten drei Wochen, ist unsere Aufmerksamkeit noch nicht genügend geschärft, um die verschiedenen Antriebe eines Diättages zu differenzieren. Wir nehmen alles hin, weil sowieso alles ansprechend genug ist, und uns zeitweise mitten beim morgendlichen Zähneputzen eine Erkenntnisflut oder eine punktuelle, messerscharfe Erkenntnis überfällt. Alles geradewegs dazu angetan, uns den Atem zu rauben. Wir können dann nicht anders als uns schnellstmöglich wieder in unsere Hütte zu verziehen. Doch der Geist überfordert uns nicht. Ganz und gar nicht. Was streckenweise wie Überforderung und Unauflösbarkeit des Knotens aussieht, ist nur die Neuartigkeit des Gedankens, und die aufkeimende Ahnung über die unermeßliche Komplexität, sagen wir auch: Unerklärlichkeit des Seins. In der Phase der einsetzenden Schwäche driftet man von höherem Gesetz wegen unweigerlich in die Zone der Traurigkeit. Das Schicksal der Menschheit geht einem zu Herzen. Es ist besser, in einer Diät keine Nachrichten zu lesen. Diäten sind metaphysische Studien, Grundsatzstudien. Nicht alltäglicher Krimskrams und Marktschreierei. Der Ansturm des Tornados ist bereits heftig genug. Zeitweilig stehen wir in Gefahr, in die Höhe gesaugt zu werden. Wenn es soweit ist, fragen wir uns auch das erste Mal, was ist diese Urgewalt? Und noch eines, was viel, viel schwerer wiegt: Bin exakt ich von dieser Übermacht gemeint? Kann das sein?

    In der Diät treten die Elemente in visionären Bildern gewaltig auf. Wir sehen Schiffsunglücke. Wir befassen uns mit dem Phänomen der Tiefsee. Wir befassen uns mit der bis heute ungeklärten Frage, wie kam das Wasser auf die Erde? Eine zentrale Frage. Eine gewaltige Frage. Keiner hat je eine glaubwürdige, nachvollziehbare Antwort gefunden. Wir sehen Feuersbrünste. Wir sehen dahinrasendes Feuer. Wir sehen trockene, aufplatzende Erde. Wir fragen uns, was ist der Erdkern? In der Diät beginnt man sich gewaltig zu ärgern über beinahe jede Wissenschaft und deren überhebliches Auftreten, auf alles und jedes bereits eine Antwort gefunden zu haben. Dazu gehören die meisten Wissenschaften, mit Ausnahme der Mathematik. Die Mathematik ist das Steckenpferd der Metaphysik. Ein Disstertant schrieb seine Doktorarbeit über die M-Theorie, die vereinigte Theorie der Mathematik, in Diät in Otorongo. Unter freiem Himmel, halb im Schatten, mit Kopftuch. Doch der Ärger vergeht wieder. Andere Gefühle treten auf. Scham, zum Beispiel. Reue. Mit der Reue wenden wir uns in der Regel eines Tages, eines Morgens Gott zu. Wir erinnern uns, daß er auch noch da ist. Dies ist ein Schritt der Erkenntnis. Ein wesentlicher, möchte ich sagen. Wir erinnern uns, daß Gott auch noch da ist, und das jeden Moment. Deshalb ergreift uns folgerichtig eine Form des Entsetzens. Wie kann ich ihn nur dermaßen hartnäckig vergessen? Warum vergesse ich ihn in meinen stundenlangen Monologen? Und so zieht der Gedanke des Gebets in uns ein. Wir sehen Menschen, die uns mit gutem Beispiel vorangehen wollten. Und wir hören das, was sie uns in Worten mitgeben wollten.

    Eine Diät verläuft prinzipiell nach individueller Gewichtung, nach individuellem Charakter. Nicht jeder schreibt ein Buch in der Diät. Manche wandern. Manche beobachten stundenlang die Tierwelt. Manche rauchen in der Hängematte ihre Mapachopfeife. Manche schlafen bei Tag und wachen nachts wie Uhus. Manche weinen, manche schlagen sich auf den Kopf, manche führen Selbstgepräche. Manche fragen sich, was kostet es mich, ein Fanatiker zu werden? Sie stoßen auf die Falltüre der Macht. Sie sagen sich, wenn ich schon einen dermaßen hohen Preis der Selbstkasteiung bezahle, darf ich doch eine ansprechende Gegenleistung erwarten. Ich will – das ist das Mindeste – ein Superschamane werden. Andere, Damen, gehen zuweilen ohnehin bereits mit der Überzeugung schwanger, sie seien Superhexen. Niemand habe ihnen mehr etwas zu sagen. Das einzige, was sie jetzt anstreben, ist, mit dem Teufel zu schlafen, oder mit einem Wassermann, einem Bufeo. Tatsächlich. Superhexen sollten deswegen zu Superhexen in die Lehre gehen, nicht in ein franziskanisches Kloster. Die Auswahl der „Begleitperson“, dies nebenbei bemerkt, ist sowieso eine delikate, und sollte mit allem Bedacht getroffen werden. Eine Reihe von unausräumbaren Kriterien ist dafür maßgebend, auch wenn sogar die Kriterienliste – wem wollte ich es verwehren? – eine individuelle bleiben darf. Und jene, die keinem Menschen über den Weg trauen (keinem!), die entschließen sich sowieso kurzerhand, es auf eigene Faust zu versuchen. Deren Beispiele sind gar nicht so wenige. Die Wütenden und die zutiefst Traurigen, die Enttäuschten. Sie probieren es auf eigene Faust.

    Diät ist tägliches Kämpfen, allerdings ist es ein Streiten mit Mäusen. Was wie Kampf anmutet, ist nur die Aufforderung zur Ernsthaftigkeit. Nach längerem Für und Wider kehrt schließlich, wie aus heiterem Himmel, Friede ein. Bisweilen (Wunder über Wunder) ist der Friede mit einem Sonnenmorgen nach stürmischer Nacht gekoppelt. Wir erleben den Frieden als Geschenk. Und mit ihm wird alles leichter, unverlierbar. Eine Mäuseschritt vorwärts.

  4. Konsequentes Nicht-Tun

    Wer diese äußerst wohltuende, hilfreiche Entscheidung trifft, sich für eine Diät in den Dschungel zurückzuziehen, gewinnt eine unlimitierte Zeitstrecke wahren Friedens, trotz aller inneren Kämpfe. Ist die Krise der ersten drei Wochen einmal überwunden, ergreift stille Euphorie vom Diätzögling Besitz. Funken-, streifen- und flußstellenweise erblickt man Einfallsstellen mystischen Lichts. Man eilt zu ihnen hin wie zu einer Dusche, aus der sich goldenes Manna ergießt, Labsal für Geist und Körper. Das unerwartete Sichten des mystischen Lichts, zuweilen durchaus bei Tag, ist ein mächtiger Steinblock im hurtig dahinsprudelnden Flußbett. Zeitweise bewegt man sich im Flußbett hüpfend, von Block zu Block dahintanzend. Die Anwendung von Tanzschritten ist ein untrügliches Zeichen wiederkehrender Lebenslust. Die Traurigkeit, die einen beim Erkennen des bisherigen resignativen Verdämmerns überkommt, wirkt für das behende Hüpfen in abenteuerlichem Flußgelände unterstützend. Traurigkeit ist in der Regel Stille, und Stille die Eingangstür zur Konzentration. Zuweilen merken wir gar nicht, wie sehr wir konzentriert sind. Doch die Erinnerung ist zielgerichtet. Da unser Verstand bereits hinlänglich geschärft ist, verstehen wir, aha, ich bin mir selbst bereits auf der Spur. Ich bin hier in der Furt der Zielgerichtetheit eines Verstehenszusammenhanges, eines Sinnzusammenhanges. Wir stehen an der Schwelle, die Frucht der eigenen Gedankenarbeit nicht mehr wie aus Zwang zynisch zu bagatellisieren. Diese Frucht wird zu einer Plattform, zu einem Trittstein. Eben einem Granitstein im Bett des Urubamba. So bewegen wir uns hüpfend und springend auf trockenem Grund vorwärts, während rechts und links von uns das wild aufschäumende Wasser dahinschießt. Wir erlangen Geistesgegenwart, so wie ein erfahrener Feuerwehrhauptmann in Kalifornien. Er sieht auf einen Blick die Abartigkeit dieser Feuersbrunst. Er sieht, hier ist etwas ganz und gar nicht gesetzhaft, nein, hier geschieht mutwilliger, heimtückischer Mord. Hier wird mit verborgenen Waffen gearbeitet. Was können wir dagegen tun? Der Feind ist heimtückisch und übermächtig. Trotz seiner Übermacht ist er heimtückisch. So verhält sich doch nur der in Lüge lebende Teufel. Der eigentliche Feind. Was kann ich, der kleine, 35 Jahre lang mit dem Feuer kämpfende Feuerwehrhauptmann, dagegen tun? Ich kann nur beten. Es sind bereits 1.100 Menschen ermordet worden. Wir haben Temperaturen von 2.000 Grad Fahrenheit. Stahl beginnt zu schmelden, Aluminium sowieso. Überall Autoleichen. Menschen in denselben Autos zu Asche verkohlt. Glücklich der, der dem Inferno entkommt. Die Gattin am Beifahrersitz betet ohne Unterlaß. „Oh my God, oh my God!“

    Ich weiß, die Lage ist verdammt ernst. Ich sehe es. Kein Zweifel. Wir haben Mord. Überall Massen, die sich in Bewegung setzen. Alles und jeder auf der Flucht. Neuerlicher massiver Ebola-Ausbruch im Kongo. Das Meer kocht. Pottwale mit Plastikmüll in ihren Mägen. Radioaktive Verstrahlung. Verstrahlung überhaupt. Nikola Tesla, der aus seinem Grab aufersteht, so wie Leonardo da Vinci, der Erfinder von Folterinstrumenten und Flugapparaten. Ich sehe, ein überirdischer Chronometer hat vom Jahresrythmus auf Tagesrythmus umgeschaltet. Monate und Wochen hat er offensichtlich aus Dringlichkeitsgründen übersprungen. Verdammt, es wird ernst. Wir müssen durch Paradise unbeschadet hindurch. Fort aus dem Paradies. Das Paradies: eine Hölle. Zur Hölle verunstaltet. Von Mordlüsternen. Wie halte ich diese Schau durch? Ich bete. Das Gebet eine Waffe gegen das Böse. Hallo. Wer sprach so? Ach ja: die kleine Theresa von Lisieux. Gott, ich finde heute Nacht keinen Schlaf, doch ich kann absolut nichts dagegen tun. Nichts hilft. Nicht einmal bei Dunkelheit in den Bach Springen. Es muß langsam schon Mitternacht sein. Um Mitternacht raucht man nicht Mapacho. Das ist lächerlich. Was kann ich tun? Ich kann nackt im Camp herumwandern. Das ja. Mal was anderes. Die Arbeiter schnarchen. Sie haben garantiert nicht meine Sorgen. Wie beruhigend. Ich muß schmunzeln. Gut. Das Herumwandern beruhigt, noch dazu haben wir lieblichen Mond. Mein Gott, wie romantisch. Ich, die Abgemagerte, splitternackt. Die Arbeiter da drüben wissen nichts von mir. Das kann ich keinem zuhause erzählen. Doch kaum setz ich mich auf die Bank, kommen die Gelsen, diese Luder. Hier ist doch nicht alles perfekt. Also gut: Spring ich nochmals hinein, denn – wer hätte das gedacht? – ich schwitze schon wieder. Dann gehe ich barfuß und ohne Abtrocknen zurück in mein Hüttlein. Das ist doch interessant. Was man nicht alles zum ersten Mal in seinem Leben machen kann. Und immerhin hab ich schon eine Menge Sachen getrieben, zuhause, in Moskau, im Milieu. Doch die Leichen sollen jetzt bitte einmal eine Ruhe geben. Ich widme mich jetzt Beschaulicherem … Wir kommen bei unserer Hütte an. Ja, was wollte ich eigentlich?

  5. Klippen

    Geübte Diätanten wissen um ihre Gefährdung während der sogenannten Diätpausen. Sie haben eine Diät erfolgreich, das heißt, in der versprochenen Zeit abgelegt. Nun ist Erholung angesagt. Erholung mit Maß, ohne Übertreibung. Kein Alkohol, kein Schweinefleisch, Sex mit Maß und Ziel. Der Diätant verspürt körperlichen Schmerz beim Anblick von Gewalt und Agitation. Dieser Umstand ist verfänglich, weshalb ich heute auf ihn eingehen möchte:

    Die Diät ist ein Reinigungs- und gleichzeitig ein Selbstbefreiungsversuch, bei dem Pflanzengeister und die himmlische Instanz dem Menschen beistehen. Reinigung und Befreiung sind beinahe Synonyme. Der Versuch hebt an und dauert Jahre. Es hat seine berechtigte Bewandtnis, wenn in der Tradition von fünf Jahren Diät die Rede war. Fünf Jahre Reinigung, wir können auch sagen: Klärung des Bewußtseins. Wer einmal ernsthaft in die ersten Wochen der Enthaltsamkeit eingetaucht ist, beginnt das Ausmaß der bevorstehenden Arbeit zu ahnen. Noch mehr erkennt er jedoch die eigene Gefährdung beim Herauskommen aus der Diät, wenn die ersten Tage wieder zuhause verbracht werden. Mit Schrecken. Das soziale Gewebe, hochgradig krank, hochgradig konfliktuös, scheinbar hoffnungslos verknotet, zum Untergang verurteilt. Probleme über Probleme, Probleme, die menschliche Kraft übersteigen. Verdammung, Fatalismus blicken einen unentwegt, auf Schritt und Tritt, an. So scheint es. „Wie nur, um Himmels Willen, soll diese Verworfenheit nochmals gerade gebogen werden? Die Titanic wird niemand bergen. Laßt sie doch am Meeresgrund ruhen. Es lohnt nicht der Mühe.“ Ich sehe überall Verhängnis. Tod, Zerstörung, Wahnsinn, Verzweiflung. Ich sehe grenzenlose Ignoranz. Überall Armut. Geistige Armut, materielle Armut. Verbrechen allüberall.

    Dies sind die unmittelbaren Momente der Prüfung, wie sie bereits nach wenigen Stunden über die lernende Person hereinbrechen. Die Momente selbst sind zuweilen unvorhersehbar, weil sie sich weder ankündigen noch in jenem Gewand auftreten, in dem wir sie nur allzu gerne zu „behandeln“ versuchen wollten. Wir werden glattweg überrumpelt, zumeist und mit Vorliebe in den Träumen, dem klassischen Feld entzogener Kontrolle. Fremdartige Träume voller Sadismus. Sadistische, in Zeitlupe angestellte Tötungsakte ohne Vorwarnung. Schwer atmend retten wir uns ins Erwachen. Nach Stunden beginnen wir uns zu erinnern, was in unserem Leben unserem Auge an Gewalt angetan wurde. Eine neuartige, cinematographische Gewalt. Eine gewollte Gewalt. Gewollter Mord. Es spielt keine Rolle, ob ein Monstrum tötet oder ein bestialischer Mensch. Es bleibt Mord. Darum geht es. Das Schlachten von Menschen, die in den letzten Momenten ihres Lebens in rettungslose Panik verfallen. Das alles mit Akribie und Lust am teuflischen Detail in Szene gesetzt. Kein Gott kommt ihnen zu Hilfe. Das ist die Botschaft, die sich durch diese filmischen Machwerke zieht. Wir sind bereits außerhalb der Diät, doch die eigentliche Qual setzt, wie wir zu unserem Entsetzen feststellen müssen, erst jetzt ein. Ich sehe mich gezwungen, schnell zu handeln, denn sonst verzweifle ich endgültig. Das sage ich mit Entschiedenheit. Ich brauche somit eine Tagesagenda. Eine Agenda, die auf Details und Unwägbarkeiten kategorisch eingeht. Jeder Diätant, der den Vorsatz gefaßt hat, ein besserer Mensch zu werden – koste es, was es wolle -, wird in Windeseile eine Liste der „Tu dies nicht!“-Vorsätze erstellen. Kein Fernsehen. Zeitung nur sieben Minuten, so wie der Papst. Kein Internetsurfen. Nicht Lügen. Keine Gewaltphantasien. Keine Faulheit. Herumgelegen sind wir in der Diät. Jetzt hingegen heißt es handeln. Meine 12 Stunden Schlaf pro Tag kann ich immer noch einlösen. Das ist ja kein Widerspruch. Nur keine Sorge.

    Die lernwillige Person entwickelt einen Modus, wie sich durch den Tag bewegen? Immer höflich sein. Jeden grüßen. „Bitte“ und „Danke“ sagen. Zuhören. Aussprechen lassen. Aufschreiben. Ehrlich sein. Nicht übertreiben. Die Frohe Botschaft lesen. Über Jesus nachdenken und zu ihm sprechen. Gelingen die Vorsätze mehrheitlich, kommt vermehrtes Erinnern und schließlich eine höchst bekömmliche Phase gesteigerter Konzentration auf. Wir spüren, wie uns seit langem ersehnte Ruhe überkommt. Wir trinken unseren Morgentee oder, als Österreicher, den Morgenkaffee. Wir fassen einen vormals für unmöglich gehaltenen Entschluß: Jetzt ein Monat Vegetarier. Oder: Jetzt einen Monat lang keinen Zucker. Oder: Für jeden Menschen, an den ich denke, ein Gebet. Und siehe: Ich staune. Was ich nicht alles neu bewerkstelligen kann! Warum kam ich nicht schon früher auf diese Idee? Antwort: Ja, weil ich die ganze Zeit über in der Kloake herumpaddelte. Deshalb: Lauge und Seife griffbereit, vielleicht auch, um die Staubmilben aus der Haut auszubrennen. Letzte Andenken an die Wochen in der Diäthütte, wo die Fledermäuse direkt über meinem Bett im Blätterdach herumhingen. Ach, welch einzigartige Zeit. Es stimmt mich wehmütig. Ich werde das wiederholen. Das schwöre ich. Ich bin mir das schuldig. Und koste es meinen Jahresurlaub. Diese Erholung! Ja, diese Erholung! Ach Gott, diese Natur! Am Busen der Natur! Mama! Mama, wo bist du nur?

     

  6. Versuchung und Nagelprobe

     

    Einer der Umstände, vor die sich eine Person, die eine oder mehrere Diäten erfolgreich abgelegt hat, im weiteren praktischen Leben zum eigenen Erstaunen gestellt sieht, sind Situationen, in denen man meint, alles hätte sich gegen einen verschworen oder liefe in geballter Häufigkeit gegen die eigenen Schutzmauern an, so wie die Wogen einer Tsunami in einem mit Stahlplatten verstärkten Hafenbecken in einer engen japanischen Bucht. Stahlplattenabsicherung. Schwerste Stahlverstrebungen am Ufer. Das ist unsere Existenz. Und dann die Todeswogen, ausgelöst von höherem Gesetz, weit draußen, weit draußen, weit außerhalb eigener Sicht. Ein Erdbeben kündigt das Unheil an, doch dann, eine halbe Stunde lang, nichts. Trügerische Ruhe. Und dann die Fluten, die alles wegspülen, in diesem hochindustrialisierten, dicht bebauten Gebiet. Ob Schiff oder zahllose Autos ist einerlei. Selbst Häuser treiben davon, gehen im Weggetrieben-Werden bereits zu Bruch. Alte Leute, zu schwach und zu langsam, um die Böschung hinter dem Haus zu erklimmen, verschwinden im gurgelnden Schlund, der mit unwiderstehlicher Macht alles in sich reißt und auf Nimmerwiedersehen verschluckt.

    So mutet uns, den Diätentflohenen, die Welt an: Ein einziges, unabänderliches Verhängnis. Tod hinter jeder Hausecke. Vier Passagiere im ersten Morgenboot, die sich als brutale, bewaffnete Banditen erweisen und die jeden, der nicht ihren Wünschen sofort nachkommt, mit der Waffe auf den Hinterkopf oder ans Kiefer schlagen. Überall Aufruhr, sogar am Arc de Triomphe in Paris. Fehlt nur mehr ein von Horden gestürmter Buckingham Palace. Bettler, zahllos in ihrer Zahl. Nichtstuer, Fremde, betrachten einen aus der Gruppe mit undechiffrierbarem, kalten Blick. Fünf Türken treten einen pensionierten Wiener neben dessen schreckensstarrer Gattin zu Tode, in Wien Favoriten, mitten in dessen Stadt. Wie, um Gottes Willen, sich vor diesen Horrormeldungen schützen? Etwa gar nicht mehr Nachrichten lesen? Wo bleibt dann meine Verantwortung? Was ist überhaupt meine Verantwortung, wenn alles in Flammen aufzulodern droht? Das ist es ja, was mich geradezu verstört: Diese Drohungen allerorten und allzumal, bei Tag wie bei Nacht. Die Zustände sind dermaßen verschärft, ich halte den Atem an. 50.000 Ermordete in Mexiko, in einem einzigen Jahr, in Brasilien sogar 61.000. Ich kann doch davor nicht die Augen verschließen! Was, lieber Gott, hat mich die Diät gelehrt, was denn, das diesem Terror der teuflischen Willkür standhält? Und nicht nur das! Habe ich irgend eine Macht gefunden, die diesen Zuständen ein Ende bereiten könnte? Wo bleibt der eine und wahre Despot im Namen der Gerechtigkeit, der Allmächtige, der all diesem Brandschatzen, diesem Völkermord, diesem teuflisch grinsenden Zerstören, diesem verleugneten, geleugneten Morden, diesem hochtechnologisierten, in Raten geschehenden Morden ein Ende bereitet? Wo bleibt der Despot, der alle Menschen dieses Planeten in muskellose Puppen verwandeln könnte, so wie der Dämon in „Twin Peaks“ mit Windom Earl, dem Allmachtsphantasierenden ehemaligen FBI-Agenten und Kollegen von Agent Cooper alias Kyle Mc Laghlan, der sich mit schwarzer Magie abgibt? In Strohpuppen, damit ein für alle mal mit diesem unüberbietbaren Irrsinn Ruhe ist! Wo bleibt die Gerechtigkeit? Wo bleibt das Gericht? Das fragt sich jeder, sogar der Papst, vielleicht sogar beide Päpste. Das himmlische Gericht. Doch nein, hier wird scheinbar ein zynisches Spiel gespielt, und das nicht nur mit dem Menschen, jener Kreatur, die verantwortlich ist für den Genocid der Arten schlechthin. Der Mensch, diese durch und durch gepeinigte Kreatur, oder die Bestie, die ihn besetzt hält und durch den Menschen wirkt, bringt alles um, was ihn an Größe übertrifft, somit alle Säugetiere. Von den Säugetieren bleiben Mäuse, Ratten und Fledermäuse übrig. Und dann eben alles, was noch kleiner ist, vor allem die Bakterien an den kochenden Schwefelschloten des Atlantischen Rückens, in 4.000 Metern Tiefe. Mit einem Handstrich. Soweit haben wir es gebracht. Sogar die Echsen werden dran glauben, und die Quastenflosser, die ältesten Kreaturen. Alles, was höher entwickelt ist. Das ist der gellende Ruf des puren, nicht zu übertreffenden Wahnsinns: Zurück in die weltweite Amorphität. Ein von Plastik meterhoch vermüllter Planet interessiert uns nicht mehr. Gibt es keine Menschen mehr, gibt es niemanden, der sich über den Sauhaufen, den wir zurücklassen, beschweren wird. Das Erwachen der Kinder wird schrecklich sein.

    Ich kann doch nur auf ein Wunder hoffen. Was soll ich Anderes sagen? Ich lerne vielleicht in der Diät zu beten. Wieviele Heilige starben unter den Nazis in den Gaskammern und unter dem Schafott? Diese Leute gingen betend in den Tod. Sie legten Zeugnis ab. Ein Zeugnis des Glaubens und der Hoffnung. Uns, den Liebenden, bleibt das Beben. Diese massive Zeitverkürzung. Es raubt mir den Atem. Ich sehe, ich wähne mich allein. War es denn in der Diät nicht anders? Genügt bereits das Heraustreten aus dem Dschungel, um mich verloren zu fühlen inmitten von Lärm, Streit und Spucken? Nein. Es ist die Prüfung. Ich werde in einem fort geprüft, ohne Unterlaß, und merke es nicht einmal. Der Fleischwolf, durch den ich da ein paar Mal pro Tag gedreht werde, ist ganz schön gefinkelt. Aber ich scheine unbelehrbar zu sein. Schon wieder hänge ich an meinen Gewohnheiten. Natürlich weiß ich das, doch ich handhabe da eine passable Ausrede: Die Aufgaben sind viel zu viele. Lieber Gott, ich leide an Arbeitsüberlastung. Dieser Wahnsinnige Elon Musk, der Typ von Tesla, mutet seinem Personal 80-Stunden-Wochen zu! So ein Depp! So ein Menschenausbeuter! So ein Sklaventreiber! Und ich weiß bei mir auch nicht, wo beginnen. Ich habe 100 Feinde, wenn nicht mehr! Lieber Gott, wie soll ich mit 200 Feinden zurande kommen? Und dem Müll? Aber bitte, sag mir endlich einmal eins: Wie komme ich mit meiner Dummheit zurecht? Mit meiner Einsamkeit? Wo, bitte, finde ich eine Frau, einen Mann, mit dem ich über alles reden kann? Ich bin übervoll, aber keinen interessiert es auch nur die Bohne! Was sind denn das, bitte, für Zustände? Ich bin doch kein Ekel! Wieso machen alle einen weiten Bogen um mich? Erklär mir das bitte einmal. Und wenn wir schon bei Dir sind: Bitte red klar und deutlich und versteck dich nicht dauernd hinter deinem Vorhang. Und schick schon gar nicht diesen Herrn Jesus oder andere Diplomaten vor, schon gar nicht die Schwarzgeier, diese Kindergrapscher. Die kommen mir sowieso nicht ins Haus! Tut mir leid! Also bitte, lieber Gott, ich höre! Heute ist Sonntag. Ich hätte gerne Zuspruch aus weisem Munde. Weise und liebevoll. Ich bin nämlich in einer Krise. Das will ich nur gesagt haben.

     

  7. Was entbehre ich?

     

    Entbehrung in der Diät (und auch danach; ja, sehr wohl, auch danach) ist, so erkennt man mit der Zeit, nach wiederholten Anläufen, nicht das, was man befürchtet hat. Man befürchtet ja die Krise. Irgendwann, so sagt man sich, wird mir der Boquichico-Fisch zum Hals heraushängen, und den Platano, der ja sowieso nur nach Pappe, also nach Papier und somit nach gar nichts schmeckt, den setze ich sowieso bei der erstbesten Gelegenheit ab. Zur Not werde ich Reis anfordern. Immer noch besser als trockenes Papier. Das ist eine der ersten Krisen. Doch dann kehrt man wieder zum Fisch zurück und findet Gefallen am Verzehren des Fischkopfes, der nach Phosphor, Feuer und Asche riecht und schmeckt. Wenigstens etwas. Sobald diese erste Krise überwunden ist, zieht neben der Befriedigung, erst mal nicht, wie es ja vielleicht doch zu befürchten stand, wahnsinnig geworden zu sein unter diesen Bedingungen (Dschungel, Teufelsmedizin, Abgeschiedenheit, sadistischer Diätmeister), über kurz oder lang das Bedürfnis nach Struktur ein. Man kümmert sich um die Sauberkeit der Hütte und um die Sauberkeit der eigenen Gedanken. Die Diätierenden beginnen mir ihren Aufzeichnungen. Schreibmaterial haben sie vorsorglich eingepackt. Die Finger sind zwar mittlerweile aus Schreibabstinenz etwas starr und meine Wortwahl darüber hinaus ungelenk, doch das legt sich bald. Manche beginnen mit dem Singen oder dem Musizieren. Sie haben in weiser Voraussicht eine Gitarre mitgebracht, in Schutzhülle selbstverständlich. In einer der Folgewellen von, erstaunlicherweise, kontinuierlichen Erkenntnisschüben, die zuerst nur wie unbequeme Ahnungen aussehen, wird die Diät-Person mit der eigenen Undiszipliniertheit konfrontiert. Einer Undiszipliniertheit, die sich hinter vermeintlicher körperlicher Schwäche oder gar altbekannter Gedankenschwäche – nennen wir sie etwas unverfänglicher „Begriffsstutzigkeit“ – tarnt. Wir weisen unser Unverständnis, unser Nicht-Hinsehen-Wollen ab mit vorgeschobener Müdigkeit und übermenschlichem Leidensdruck. All diese Gründe sind rechtens, sagen wir uns, doch letztendlich wollen wir uns nur um die Aufgabe, die sich uns klar präsentiert wie ein goldener Sonnenstrahl, drücken. Aus Faulheit und Trägheit, wie es die meiste Zeit unsere Art ist. Eine Art, die alles entschuldigt. Doch diese Argumente, die wir anführen, um etwas nicht angehen zu müssen, was auf seine Bearbeitung und Erledigung wartet, sind nur eines der vielen Gesichter der Lüge, die sich in uns in langen Jahren eingenistet und erschreckenderweise sogar zu einem Labyrinth ausgewachsen hat. Doch schließlich, irgendwann, fällt in der Diät – Gott sei Dank, der Medizin sei Dank – dann doch eine maßgebliche Frontlinie zwanghafter, überdrehter Selbstverteidigung, und wir finden zur Stille. Sobald Stille einkehrt, finden wir die Stärke, unsere Trauer anzublicken und uns einzugestehen, wie sehr wir traurig sind. Daran besteht kein Zweifel. Leider. Doch die Trauer, die sich als Unvollkommenheit oder gar Minderwertigkeit ausgibt, legt sich erstaunlicherweise bald wieder. Ein stark wirkender Gedanke, der tatsächlich wie ein Lichtstrahl unsere Vergrummeltheit aufhellt, kommt uns dabei zu Hilfe: „Achte doch einmal darauf, was gerade jetzt passiert. Du bist ganz allein. Du bist in einem geschützten, heiligen Raum, mitten im Dschungel. Niemand feindet Dich an. Züchte dir keine fremden Flausen. Niemand weiß, was du hier gerade tust oder wo du gerade bist. Was du tust, ist ein außerordentliches Privileg! Halte dir das bitte gerechterweise vor Augen!“ Dies ist tatsächlich ein wichtiger Moment. Wir erkennen mit Schaudern, daß wir die meist Zeit mit Fremdbesetzungen schwanger gehen. Diese Fremdbesetzungen gehören zum technischen Inventar unseres andauernden Monologs, unseres Ein-Personen-Theaterstücks. Ein schwachbrüstiges Dramolett, das sich ständig aufzublähen versucht und uns sogar zu Mordphantasien verleiten will. Irgendwann wird es absurd, und wir lassen Luft ab. Wir blasen ab. Wir gehen ins Wasser, in den Bach. Das ist der Moment, wo wir ein für alle Mal unser Tagesprogramm restrukturieren. Wir wissen, in der Mittags- und frühen Nachmittagshitze kann nicht viel Konstruktives gelingen, doch am Morgen schon. Am Morgen, am Vormittag, in der Nacht und am Abend. Jene Tageszeiten, wo uns nicht der Schweiß in Strömen von Kopf und Armen rinnt. Vor allem aber in den ersten Morgenstunden, ab etwa Vier. Das ist der Moment, wo wir mit Beleuchtungsinstallationen in unserem Bett beginnen; Kerzen oder batteriegespickten Taschenlampen, die an der Oberstrebe unseres Gitterbettes hängen. Manche bauen sich (oder lassen anfertigen) ein Schreibpult für das Bett, so wie der Frühstückstisch in amerikanischen Hotels, wenn die Paare zur Abwechslung mal im Bett Frühstücken wollen. Für die Arbeiter eine nette, willkommene Bastel-Abwechslung. Das Holz wird sogar gebeizt, das Werksstück mit breitem Grinsen übergeben. Die Diätantin realisiert endgültig: „Ja, ich bin hier zuhause. Ich brauche mich um nichts kümmern. Was will ich mehr? Die Arbeiter bekommen auf jeden Fall gehörige Propina, wenn ich abreise. Wenn diese peruanischen, hart arbeitenden Männer sich schon dermaßen um mich kümmern, was soll ich mich dann noch zu allem Überdruß selbst andauernd verdammen? Wer gibt mir das Recht, mich selbst andauernd zu verdammen? Das ist doch alles lächerlich! Zum Glück weiß niemand davon, und ich muß auch niemandem erzählen. Wenn die wüßten, was in mir vorgeht! Luxussorgen einer Gringa, kann ich da nur sagen.“ Gut. Später erzählt frau. Dort, wo sich – endlich – unbeschränktes Vertrauen manifestiert hat.

    An jenem Tag, wo man beginnt, mit Minimalkost auszukommen, erlebt der/die Diätierende ungekannte körperliche und gedankliche Leichtigkeit. Alte Mürre fällt ab. Zynismus. Inneres Schreiertum. Man wandert im Camp herum und findet bei jedem Schritt und an jeder Gebäudeecke Ideen, so wie herabfallende Baumsamen. Im Laufe des Jahres gibt es kurze Zeitspannen, oft nur eine Stunde, in der es von Palmen nieselt. Nieselt. Hunderte, wenn nicht gar tausende von Samen rieseln herab. Wir eilen in die Hütte zurück, um den Fotoapparat zu holen. Eine Filmsequenz. Ein andermal finden wir Inspiration am Klo. Und später beginnen wir zu wandern. Das Wandern bleibt nicht aus. Sandalen, Badehose, Leiberl, vielleicht ein Babytuch am Kopf gegen den ins Gesicht herabrinnenden Schweiß. Im Gehen Glück über Glück. An einem anderen Tag, als wären wir die gesamte Zeit über blind gewesen, realisieren wir: Im Tempel ist es zur Mittagszeit immer noch komplett kühl. „Ach du meine Güte! Da drinnen brauche ich sogar ein langärmeliges Hemd und eine lange Hose. Nichts besser als das. Ich verbringe ab heute den Tag über in der Kirche. Wer hätte das gedacht? Bitte, hätte ich das gedacht? Das kann ich zur Not auch in Wien praktizieren. In irgend eine Kirche einkehren. Jetzt wenigstens weiß ich, was ich da drinnen tun kann. Knien jedenfalls nicht. Aber Horchen! Wirklich interessant, mit wie wenig der Mensch in der Not auskommt! Sagte ich gerade Not? Lächerlich! Wo ist meine Not? Ich schäme mich vielleicht, das wohl, aber der Herr H. hat mir doch gerade vorgestern erklärt, in Ayahuasca schämt sich jeder. Also bitte. Ich sitze auf einem Plastikstuhl im Tempel, mit überkreuzten Beinen, den Kopf auf die Hand aufgestützt. Ich danke dir, Meisterin der Medizin, daß du mich Frieden finden läßt. Lang hat’s gedauert, doch jetzt, bilde ich mir ein, bin ich angekommen.“

     

  8. Anfechtungen

     

    Mit einer erfolgreich abgelegten Diät ist man noch lange nicht am rettenden Ufer. Die eigentlichen Anfechtungen beginnen erst jetzt. Während der Diät hängt man wie ein eingesperrter Affe oder ein ruhiggestellter Patient der Psychiatrie im Gitterbett oder im Käfig. Der- oder diejenige, der/die die Diät erfolgreich ablegt, hat bereits zur Genüge verschiedene Felder erhöhten Problemgehaltes erspäht und manche von ihnen im guten Glauben zu beackern begonnen. Vielleicht wurde ein volles Feld beackert, selbst wenn ich dies persönlich eher anzweifle, denn die Ungeheuerlichkeit des Aspektreichtums eines Problemfeldes ist für gewöhnlich atemberaubend und kann sogar momenthaft zu Mutlosigkeit und Resignation führen. Irgendwann später rafft man sich jedoch wieder von Platz greifender Apathie hoch und macht in etwa dort weiter, wo man aufgehört hat. Doch keine Rede davon, man/frau hätte alle Felder beackert. Wie denn auch, bitte? Ich würde dies sogar bei den klassischen indianischen Diäten von einem Jahr anzweifeln, nicht nur wegen der Andersgepoltheit der Indios, sondern schlichtweg aus begrenztem Kraftvermögen. Doch darüber hinaus, wie das eigentliche medizinische Lernen (und darauf kommt es schlußendlich an) unter direkter Geistführung verläuft, kann und will ich nicht kommentieren, denn medizinisches Lernen ist immer auch religiöses Lernen. Tatsache ist: mit der Diät ist überhaupt nichts zu Ende. Keineswegs. Die Prüfungen beginnen erst.

    Klar, die Prüfungen beginnen bereits vielgestaltig während der Diät in Form von Krisen. In den Krisen trennt sich die Spreu vom Weizen. Die einen brechen ab, die anderen kämpfen sich durch und machen weiter. Die Gründe, warum Frauen (ich habe nur Frauen – ein paar zumindest – erlebt) abbrechen, werden von diesen selbst klar formuliert: „Niemand kam jeden Tag zu mir, um ausführlich mit mir zu sprechen; niemand kam, um mir die Hand zu halten; die sexuelle Abstinenz ist sadistisch; alle Erklärungen zur Diät sind nur Lüge; ich habe außer der eigenen immensen Langeweile nichts gespürt; ich vertrödle hier nur meine Zeit; mit Christus kann ich mich auch zuhause beschäftigen; Ihre kirchliche Ausrichtung ist – seien Sie mir bitte nicht böse – ein Skandal. Sie verteidigen Kindesmißbrauch. In der Diät werde ich wahnsinnig. Es ist unverantwortlich, eine Frau alleine in diese spartanischen Hütte außerhalb des Camps einzusperren. Ich weiß jetzt, wozu mir immer der Mut gefehlt hat: ich wollte eigentlich immer schon Geheimprostituierte werden. Ich weiß, ich habe Talent dazu. Ich will meine eigene Herrin sein. Ich weiß, was Männer wollen, und ich kann es ihnen besorgen. Sie hingegen, Herr H., sind kein Mann. Was also soll ich bei Ihnen? Bitte seien Sie mir nicht böse, aber so denke ich. Und somit seien Sie mir nicht böse, wenn ich noch heute abreise.“

    Männer, die zwar vorgeben, in Diät zu verweilen, doch es gar nicht sind, reden anders: „Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Herr Poşpyžil, also habe ich es mir selbst besorgt. Doch die Hütte finde ich nicht so schlecht. Ich werde weiter in ihr schlafen. Können Sie mir im Dorf ein paar nette Jungs bsorgen?“ „Herr H., haben Sie etwas dagegen, wenn ich mein Freundin aus Iquitos bei mir in der Diäthütte einquartiere? Ich zahle auch den Tagsatz für Einheimische für sie. Keine Sorge.“ „Schätzchen, ich werde drei Monate weg sein. Du brauchst mir nicht Reis nachzubringen. Ich habe schon vorgesorgt. Bevor ich zu dir zurückkehre, werde ich mich noch eine Woche aufpäppeln, damit ich wieder zu Kräften komme, ehe ich bei dir im Bett lande.“

    Neben den klassischen Anfechtungen stellen Gedanken an Allmacht die nennenswerteste Falltüre einer Diät dar. Zur Allmacht gehören auf der einen Seite Rachephantasien, auf der anderen Reichtumsphantasien. Anstatt den Gründen für das Sich-Einnisten dieser Phantasien beharrlich nachzuspüren, gibt sich der Diätant zügellos diesen Phantasien hin und erliegt ihnen schlußendlich. Dies ist ein kritischer Moment, denn die diätierende Person erlebt mit Fortschreiten der Tage und Wochen das unverfälschte Feuer eigener Leidenschaft. Leidenschaften treten in Diäten unweigerlich klar, ja sogar überklar und vermeintlich aufgebläht, zutage, und wirken auf die Person bisweilen sogar verstörend. Dies ist Teil des Lernprozesses. Man lernt zu verstehen, daß es so sein muß. Da diesen Wallungen das handgreifliche Wut-, Haß- und Zornobjekt fehlt, verschwinden sie in der Regel jedoch auch wieder, wie ein Hauch, wie ein Windhauch, der durch die Diäthütte weht. Doch bei jenen, die sich diesen Phantasien zügellos hingeben und – mores morae – nicht mehr herausfinden, gräbt sich eine Schnittwunde ein, an der sie bald heimlich zu lecken beginnen. Das eigene Blut bestärkt sie in ihrem Vorsatz, ihr Vorhaben auf schwarzmagische Weise, durch abgründiges, zügelloses Wunschdenken, umzusetzen. Dies ist der bedauernswerte Moment des ersten Anheimfallens des Lernenden an das Tier. Die Versuchung durch das Tier ist kategorisches Momentum in einer anspruchsvollen Diät von Fortgeschrittenen. Jene, die dieser Versuchung erliegen, haben später ausnahmslos schweres Leben vor sich. Alleine in Tamshiyacu gibt es dafür ein gutes Dutzend Beispiele, wenn nicht mehr. Jene Diätanten, die sich dem Tier hingeben, manipulieren ihre Diät. Sie gehorchen den angeregten, weil eingeflüsterten Diätmanipulationen. Sie beginnen sich von geheimgehaltenen, differenten Quellen – allesamt unappetitlichen – zu ernähren. Sie entwickeln eine Phantasie, wie es ist, mit einer Teufelin, und sei es nur eine Chullachaqua, zu schlafen. In diesem Zustand der progressiven Geistesverwirrung beginnen die dergestalt verleiteten Peruaner zu flüstern. Sie meinen, die Handhabe von geheimen Zauberformeln, die sie nur zu flüstern brauchen, verhelfe ihnen, den vom Leben Benachteiligten, zur Erfüllung all ihrer nur rechtmäßigen Wünsche. Einsetzende Skrupellosigkeit prägt schlußendlich ihr Gesicht. Kooperateure des Dämons führen eine Doppelexistenz. Im ausgereiften Zustand wissen sie nicht einmal mehr um ihr Umtreiben, denn sie kennen kein Bedauern. Sie huren herum, treiben Inzest, stehlen und betrügen. Schlußendlich schaffen sie sich einen Nimbus als Hechizeros, schwarzmagische Auftragsmörder. Einen entsprechenden Auftrag beziffern sie unverblümt mit 10.000,- Dollar. Der Politiker aus Lima bezahlt. Das Verfängnis ist bodenlos. Nur die Allerwenigsten entkommen ihm, dann vielleicht, wenn ihnen Gott eine entsprechende gläubige Frau zur Seite gestellt hat. Doch manche Hechizeros bringen in ihrem Wahn auch ihre eigene Frau um, so wie Doktor Faustus. Goethe kannte etwas von diesem Schwarzen Loch des Todes.

    Die eigentlichen Krisen einer Diät sind persönliche. Sie werden von der Medizin getriggert. Dosis für Dosis. Krisen sind Aktivitätsschübe, die in die richtigen Bahnen gelenkt werden wollen. Dies sind jene Momente, wo manche weinen, manche an der Mapachopfeife nuckeln, und manche zu beten beginnen. Sie falten sogar die Hände. Für einen Moment sehen sie Licht. Für einen Moment hören sie eine Stimme: „Nur Mut!“

     

     

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