Wunden der Zeit

Nochmalige Verneigung vor Harald Leupold-Löwenthal

Damals, am 17.November 2014, überkam mich unwiderstehliche Rührung, als die Erinnerung an diesen großen Lehrer mit mir davonfuhr. Zurückfuhr. Und heute, achteinhalb Jahre später, kommt noch etwas hinzu, ein tiefes Verständnis von Dank, und zudem ein erstmaliges tieferes Verständnis seiner Menschenliebe. HLL war in tiefer Seele ein Philanthrop, vielleicht ein wenig ähnlich Helmut Qualtinger. HLL ließ sich diese Liebe nicht wirklich anmerken. Er blieb nüchtern, doch durch und durch persönlich. Indem er sich niemals verstellte (das hätte er nie und nimmer nötig gehabt), ließ er Bekenntnisse sprechen, so wie vielleicht der heilige Augustinus. Ja, das war es. HLL war ein Spezialist in Sachen Bekenntnisse, und so wurde er mein Vorbild. Mein inniges Vorbild. Es erschüttert mich, diesen Umstand, diesen Wahrheitskern, in seinem vollen Gehalt erst jetzt, hier und jetzt, zu erkennen. Es erschüttert mich. Das ist der Nußknacker. Der göttliche Nußknacker, von dem der Herr Professor Beck in St.Josef zu Margarethen in seiner Ostersonntagspredigt sprechen zu müssen vermeinte. („Sie sahen das leere Grab  (- und die Ordnung der Tücher -), und sie glaubten“). Irgendwann kommt der entscheidende Moment, der wahre Moment, der wahre Wert. Dieser Wert der Menschenseele. Ein unermeßlicher. Die Totalität kommt zum Vorschein, in Annäherung. Das war das Credo von Leupold Löwenthal: Seine Ahnung von menschlicher Totalität. Das hatte er allen Anderen voraus. Würde ich mal so sagen. Klar, es folgten ihm ein paar herausragende Herren nach, Heitger, Arnold, Strotzka. Sie, die eindeutig nicht Mickrigen. Und AKWH, mein Professor, sowieso. Doch der war ein Mystiker, der es sich erlauben durfte, öffentlich zu weinen. Sosehr war er von Gott erschüttert. Das muß ich auch erst noch verdauen. Doch bei HLL kam Weinen nicht in Frage. Verständlich. Bei ihm kam ein Rauchritual zum Zug, freilich eines, bei dem ihm kein Indio folgte. Leider. Sie rauchten alle. Das machte sie alle, die Spezialisten der Couch, so sympathisch, auch wenn es ihnen Husten oder gar Schlimmeres eintrug. Leider. HLL war sich der Totalität des Menschen bewußt. Er hatte eine konkrete Ahnung. Er war kein Sehender, doch er war, wie gesagt, Pathetiker, eine griechische Dramengestalt. Ein Priester in Delphi. Halluzinogene Dämpfe in der Luft. Das hätte meinem Vater nicht gefallen. Damals jedenfalls nicht. Heute, da alle tot sind, ist ja sowieso alles anders. Alle sind tot, und ich wohne hier im Dschungel, im Paradies, wo es um Gott und seinen Heilsplan geht, wo es um die Totalität der Schöpfung geht und um Christusnachfolge. HLL werde ich nicht nachfolgen, doch ich werde immer wieder auf ihn zurückkommen. Er legte sein Evangelium dar, eines der Nächstenliebe. Er war kein Gott, kein Erleuchteter, doch er war ein Weiser, und noch dazu kein rührseliger. Das war Ehrensache. Er hatte Freud in sich intus (so wie AKWH, klarerweise) und brauchte deshalb nur seine Schatztruhe anzustupsen, und schon fielen ihm die passenden Goldtaler in die Hand. Das war wissenschaftliche Assoziation, und diese Lehrmethode war dermaßen anregend und inspirierend, daß das unschuldige Barometer von alleine ein Upgrade in existentialistischer Druckresistenz vornahm. HLL schuf die Blase. Der Quantenphysiker, der an verbiesterter Grenzziehung kein Interesse hegte. Er war couragierter Antifaschist unter gefährlichsten Umständen. Und er hatte eine goldene Hand (wie denn anders?), indem er diese unvergleichliche Italienerin an Land zog, Ida di Pietro Leupold Löwenthal. Das war Klasse durch und durch. Ein Lebensmanöver. Wir können nur nochmals (und unablässig) hinüberrufen: „Lieber Herr Dr.Leupold, das war wirklich ein starkes Stück! Mein Gott, diese Jahre damals! Die Wunde schmerzt, doch sie blutet nicht. Erinnert irgendwie an Golgotha. Sie wissen ja sowieso, wie ich es meine.“ Halleluja.

 

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  1. Der Wiederholungszwang

    Wir wissen nicht, was wir tun. Nein, wirklich nicht. Wir wissen nicht, was wir reden, noch weniger, warum wir gerade so reden. Und schlimmer: Wir fragen uns das alles gar nicht. Wir agieren nur fortwährend, wie streitlustige konditionierte Zangenwesen. Wie Aliens. Ridley Scott und Rüedi Giger haben das frühzeitig verstanden: Das Alien als ein Spiegelbild unserer selbst. Wir sind Triebtäter und Gezwungene. Wir sind wie Wildwüchse, ungezügeltes, ungehemmtes Wachsen und Sich selbst Verschlingen. Wir sind Gift und wissen nicht einmal, was Gift ist oder wozu es dient, so wenig wie Säure und atomare Verstrahlung. Wir sind pervertiert und stehen dazu. Der absolute Nihilismus, der sich Bahn bricht, sieht eine absolute Pervertierung von allem, und selbst diese Pervertierung wird noch geleugnet, weil Natur generell relativiert wird. Alles wird relativiert. Alles ist beliebig. Das ist die Hölle. Die letzten drei Päpste haben sich zur Genüge ausgelassen über die Zerstörung der Familie als der Kerneinheit einer funktionierenden Humanität. Die Relativierung des Lebens, wie sie der Ungeist im Haß gegen die Schöpfung betreibt. Das Böse brüllt. Es urraßt. Und es leugnet, daß es brüllt und urraßt. So wie hier in Peru. Die Lärmteufel leugnen, daß sie Lärm produzieren. Sie nennen es Arbeit. Und sie leugnen, daß sie Müll produzieren. Sie sagen, irgendwas muß ich ja mit der Plastikflasche, die ich da gerade genußvoll leergetrunken habe, tun. Oder soll ich sie einfach im Boot zurücklassen? Ich garantiere dir, der Bootsbesitzer wird sie, ohne daß du es siehst, genauso über Bord schmeißen. Und die anderen noch dazu.

    Alles wird relativiert. Alles ist beliebig. So sagen sie. Sie sagen, ich bin nicht einverstanden damit, daß ich eine Frau bin. Ich bin nicht einverstanden damit, daß ich ein Kind gebären muß. Ich und nicht die Männer. Ich bin nicht einverstanden damit, daß es aus meiner Vulva kommt. Ich verlange einen schmerzlosen Kaiserschnitt. Nein, ich verlange eine Leihmutter. Ich verlange Schmerzfreiheit. Ich kaufe mir ein Kind, so wie ich mir eine Ware kaufe. Ich verlange völlige Sexualfreiheit. Ob ich mit einer Gummipuppe vögle oder mich von einem Hund oder Pferd oder von einem Zwerg oder von einem Gefangenen auf Gefängnisurlaub bespringen lasse, steht in meiner Verfügung. Und erst recht steht gleichgeschlechtliche Liebe in meiner Verfügung. Und das Recht auf Abtreibung soundso, denn mein Körper gehört mir.

    Die Frage, die von Vertretern der Ethik eingeworfen wird, lautet konsequenterweise: Sie nehmen sich somit das Recht. Das sagen Sie ja hiermit. Doch mit welchem Recht nehmen Sie sich dieses Recht? Das ist doch Willkür! Und nun, was tun Sie, wenn sich Ihnen jemand in den Weg stellt und sagt, mit dieser Ihrer Willkür bin ich nicht einverstanden? „Afrika in Italien… Wir Schwarzen vergewaltigen am Lago Maggiore bei einer feuchtfröhlichen Massenparty die Italienerinnen, weil es in unserem Sinn und in unserer Macht steht.  Und ihr Deutschen habt kein Lebensrecht. Ihr sollt euch schämen, daß ihr als Deutsche geboren wurdet. Ihr Christen seid dekadente Schweine. Ihr habt nichts Besseres als das Geköpft Werden verdient.“ Was tun Sie dann?

    Ein guter Freund seit langem, ein erfahrener Psychiater, erklärte mir klipp und klar: „Guter Freund, wir sind in der Endzeit. Der Endkampf zwischen Gut und Böse steht bevor. Der Endkampf. Die Guten beziehen sich auf Christus, die Bösen auf sich selbst. Dann gibt es ein Brüllen. Und 8 Milliarden Totgeweihte, die sich gegenseitig massakrieren oder abgeschlachtet werden, wie die Kinder von Mariupol. Oder die verhungernden Kinder in Kenia oder Äthiopien. Und dann hat das willkürliche Plappern und Geifern und Zanken und Speien ein Ende. Und nach diesem Morden wird kein weiteres Morden mehr geschehen. Denn das Töten unter Insekten wird nicht Morden genannt.“

    Die Kirche verteidigt das Leben, insbesondere das Leben der Stimmlosen. In der Kirche – so erinnert der Papst in „Evangelii gaudium“ – gebe es ein Zeichen, das niemals fehlen dürfe: „die Option für die Letzten, für die, welche die Gesellschaft aussondert und wegwirft“. (EG 195) Es sei wichtig, die Aufmerksamkeit für die Schwächsten zu bevorzugen.

     

    Auf der Seite der Schwächsten und der Menschenrechte

    „Unter diesen Schwachen, deren sich die Kirche mit Vorliebe annehmen will, sind auch die ungeborenen Kinder“, betont Franziskus und fügt an: „sie sind die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungen fördert, die erreichen, dass niemand das verbieten kann. Um die Verteidigung des Lebens der Ungeborenen, die die Kirche unternimmt, leichthin ins Lächerliche zu ziehen, stellt man ihre Position häufig als etwas Ideologisches, Rückschrittliches, Konservatives dar. Und doch ist diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden. Sie setzt die Überzeugung voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen. Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen.“ (EG 213)

     

    Es ist nicht fortschrittlich, ein menschliches Leben zu vernichten

    Papst Franziskus findet klare Worte: „Gerade weil es eine Frage ist, die mit der inneren Kohärenz unserer Botschaft vom Wert der menschlichen Person zu tun hat, darf man nicht erwarten, dass die Kirche ihre Position zu dieser Frage ändert. Ich möchte diesbezüglich ganz ehrlich sein. Dies ist kein Argument, das mutmaßlichen Reformen oder ,Modernisierungen´ unterworfen ist. Es ist nicht fortschrittlich, sich einzubilden, die Probleme zu lösen, indem man ein menschliches Leben vernichtet. Doch es trifft auch zu, dass wir wenig getan haben, um die Frauen angemessen zu begleiten, die sich in sehr schweren Situationen befinden, wo der Schwangerschaftsabbruch ihnen als eine schnelle Lösung ihrer tiefen Ängste erscheint, besonders, wenn das Leben, das in ihnen wächst, als Folge einer Gewalt oder im Kontext extremer Armut entstanden ist. Wer hätte kein Verständnis für diese so schmerzlichen Situationen?“ (EG 214).

    Der Papst findet weitere deutliche Worte: Abtreibung „ist ein Verbrechen. Es heißt, einen aus dem Weg zu räumen, um einen anderen zu retten. Das ist das, was die Mafia tut.“ (Pressekonferenz auf dem Rückflug aus Mexiko, 17. Februar 2016). „Es ist, als würde man einen Auftragsmörder anheuern, um ein Problem zu lösen.“ (Generalaudienz, 10. Oktober 2018).

     

    Abtreibung, ein menschliches Problem, kein religiöses

    Der Papst hat mehrfach betont, dass das Problem der Abtreibung „kein religiöses Problem ist: wir sind nicht aus religiösen Gründen gegen Abtreibung. Nein. Es ist ein allgemein menschliches Problem und eine Frage der Anthropologie.“ (Pressekonferenz auf dem Rückflug von Dublin, 26. August 2018). Er erklärt: „Abtreibung ist Mord. Abtreibung… : Das ist mehr als ein Problem, es ist Mord. Wer abtreibt, der tötet, um es klar zu sagen. Nehmen Sie ein beliebiges Buch über Embryologie für Medizinstudenten. In der dritten Woche nach der Empfängnis sind bereits alle Organe vorhanden, die DNA… es ist ein menschliches Leben. Dieses menschliche Leben muss respektiert werden, dieser Grundsatz ist so klar! (…) Wissenschaftlich gesehen ist es ein menschliches Leben. Ist es richtig, es beiseitezuschaffen, um ein Problem zu lösen? Und darum ist die Kirche bei diesem Thema so hart, denn wenn sie (Abtreibung) akzeptieren würde, wäre es so, als würde sie das tägliche Morden akzeptieren.“ (Pressekonferenz auf dem Rückflug von Bratislava, 15. September 2021)

     

    Die Kleinen, die von den Spartanern geworfen wurden

    „Als Kind, in der Schule, hat man uns die Geschichte der Spartaner gelehrt“, erinnert sich der Papst und fügt an: „Mich hat das, was die Lehrerin gesagt hat, immer betroffen gemacht: Wenn ein Kind – ein Junge oder ein Mädchen – mit Fehlbildungen geboren wurde, dann brachten sie es auf den Gipfel des Berges und warfen es hinunter, damit es diese Kleinen nicht gab. Wir Kinder sagten: »Was für eine Grausamkeit!« Brüder und Schwestern, wir tun dasselbe, mit noch mehr Grausamkeit, mit mehr Wissenschaft. Was nichts nützt, was nichts produziert, wird weggeworfen. Das ist die Wegwerfkultur, die Kleinen sind heute nicht gewollt.“ (Predigt in San Giovanni Rotondo, 17. März 2018).

     

    Jedes Leben verteidigen, immer

    Franziskus erinnert daran, dass auf der Seite des Lebens zu stehen nicht bedeutet, sich nur an seinem Anfang oder an seinem Ende um es zu kümmern, sondern es immer zu verteidigen:

    „Der Grad des Fortschritts einer Gesellschaft lässt sich gerade an der Fähigkeit messen, das Leben vor allem in seinen schwächsten Phasen zu schützen, mehr als an der Verbreitung technologischer Mittel. Wenn wir vom Menschen sprechen, dürfen wir nie all die Angriffe auf die Unantastbarkeit des Menschenlebens vergessen. Die Geißel der Abtreibung ist ein Angriff auf das Leben. Unsere Brüder auf den Booten in der Straße von Sizilien sterben zu lassen, ist ein Angriff auf das Leben. Tödliche Arbeitsunfälle, weil die Mindestsicherheitsstandards nicht eingehalten werden, sind ein Angriff auf das Leben. Der Tod aufgrund von Unterernährung ist ein Angriff auf das Leben. Terrorismus, Krieg, Gewalt sind ein Angriff auf das Leben: aber auch die Euthanasie. Das Leben zu lieben bedeutet immer, sich des anderen anzunehmen, sein Wohl zu wollen, seine transzendente Würde zu fördern und zu achten.“ (Ansprache an die Teilnehmer an einem Kongress der Vereinigung „Scienza e Vita“, 30. Mai 2015).

     

    Barmherzigkeit ist für alle da

    Der Papst unterstreicht das Drama, das Frauen erleben, und denjenigen, die ihm vorwerfen, er habe kein Erbarmen, antwortet er wie folgt:

    „Die Botschaft der Barmherzigkeit gilt allen, auch für die menschliche Person, die heranwächst. Sie gilt allen. Auch nach diesem Scheitern gibt es Barmherzigkeit, aber es ist eine schwierige Barmherzigkeit. Denn das Problem besteht nicht darin, Vergebung zu erteilen, sondern eine Frau zu begleiten, der bewusst geworden ist, dass sie abgetrieben hat. Das sind schreckliche Dramen. Einmal hörte ich einen Arzt über eine Theorie sprechen – ich erinnere mich nicht genau … –, dass eine Zelle des neu empfangenen Fötus zum Mark der Mutter gelangt und es da auch eine Erinnerung des Körpers gibt. Das ist eine Theorie, aber um zu sagen: eine Frau, wenn sie darüber nachdenkt, was sie getan hat … Ich sage dir die Wahrheit: Du musst im Beichtstuhl sein, und du musst dort Trost spenden, nichts bestrafen. Aus diesem Grund habe ich die Vollmacht allgemein erteilt, von der [Sünde der] Abtreibung aus Barmherzigkeit loszusprechen, denn oft – immer doch – müssen sie ihrem Kind begegnen. Und ich rate ihnen oft, wenn sie weinen und diese Angst haben: „Dein Kind ist im Himmel, sprich mit ihm, singe ihm das Schlaflied, das du nicht gesungen hast, das du ihm nicht hast singen können.“ Und dort findet sich ein Weg der Versöhnung zwischen der Mutter und ihrem Kind. Mit Gott ist sie schon geschehen: das ist Gottes Vergebung. Gott vergibt immer. Aber Barmherzigkeit ist auch, dass sie [die Frau] dies verarbeitet. Das Drama der Abtreibung. Um das wirklich zu verstehen, muss man in einem Beichtstuhl sein. Es ist schrecklich.“ (Pressekonferenz auf dem Rückflug von Panama, 28. Januar 2019)

     

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  2. Versöhnung

    Das Heil liegt bei den Frauen, meldet der alte Weisheitsspruch. Nichts wahrer als dies. Frauen sehen die Welt anders. Die Frauen der alten Kulturen. Ich sage nicht, der jetzigen, denn das ist keine Kultur. In unserer Gesellschaft gilt kein Wert, höchstens die Unwerte wie Gier, Geiz und Hass. Wir haben es heute mit einer Kultur des Todes zu tun, sagte der Herr aus Wadowice, Polen. Das sowieso. Doch in den alten Kulturen, in den übertragenen, den intakten, hatten die Frauen immer schon ein gewichtiges Wort mitzureden. Und ihr Verständnis von Krankheit und Heilung war ein etabliertes, zuweilen verschwiegenes, doch praktiziertes. Es ist erstaunlich, wieviel Hass den Frauen von Männerseite entgegenschlägt. Die Mehrzahl der Mörder sind Männer, ebenso der Suizidanten. Der Tod als vermeintlicher Ausweg angesichts scheinbar unbewältigbarer Problemlast. Auch das längere Lebensalter der Frauen gibt zu denken, ebenso wie die Liebesfähigkeit, die Leidenschaft. An den Frauen fällt mir auf, wie sie im Alltag ganz anders fuhrwerken. Sie handhaben eine andere Sprache. Diese andere Sprache, diese vermeintliche Unlogik, dieses Irrationale, verärgert so manch einen, denn die Frauen verweigern die Rechtfertigung ihrer selbst kategorisch. Sie wirken irgendwie unzugänglich, und das vielleicht aus gutem Grund. Es hat den Anschein, dass sie sich gerne jederzeit aus dem System, diesem lebensfeindlichen System, ausklinken möchten. Sie sprechen aber nicht darüber. Frauen sind die andere Hälfte der Welt, die gewaltlose andere Hälfte. Frauen leben gewissermaßen in ständiger Dunkelheit. Wenn sie resignieren, dann in einer Weise, die sich dem Arzt gänzlich entzieht. Ich kannte aus erster Hand zwei Frauen, die am Ende ihres Lebens der unrettbaren Umnachtung verfielen. Beide verzweifelten an ihrer eigenen Einsamkeit, an der Unerklärbarkeit der eigenen Existenz und der vermeintlichen Unerklärbarkeit des eigenen Leidens. Frauen leiden anders als Männer.

    Doña Olivia Valera Lomas war neben Doña Maria Arévalo die prononcierteste Curandera der Shipibo-Conibo. Beide Frauen wirkten hochgradig bescheiden und in gewissem Sinne sogar unauffällig. Sie trugen stets Stammeskleidung, keinen Schmuck. Doña Olivia rannte wie ein altes, halbseniles Mütterchen zumeist barfuß herum, und Doña Maria trug einfachste Gummisandalen. Was diese Frauen dachten, war unergründlich. Sie sprachen mit den Gringos nicht, doch an ihren Aktionen war erkenntlich, dass sie uns, besonders die Männer, für hochgradig gefährdet hielten. Doña Olivia gab sich demgemäß auch nur mit Schülerinnen ab, praktisch nie mit Männern. Maria interagierte mit den Gringos ausschließlich in den Zeremonien. Das war ähnlich zu Maria Sabrina in México. Die Zeremonien waren der Kriegsschauplatz, der Ort, wo die Masken abfielen. Der Ort, wo die Geister der Medizin das Kommando übernahmen. Der Ort der Teufelsaustreibung. Es ist frappant, wie offen der Häuptling, Don Guillermo, darüber sprach. „Der Teufel muss aufgebrochen werden.“ Diese Formulierung gebrauchte er im Zusammenhang mit Diäten des öfteren und noch dazu ganz ungeniert. Und in la madre war die Textur der Medizin eindeutig darauf ausgerichtet. Das wurde innerhalb von Sekunden klar. Die Art und Weise, wie Doña Maria mit uns interagierte, sprach Bände. Sie schlich an uns vorbei, so als ob wir hochgradig Kontaminierte wären. Und das waren wir auch, ohne es zu merken. Schaudererregend. Wir haben, glücklicherweise, möchte ich fast sagen, keine Ahnung, wie schlimm es wirklich um uns steht. Also wirklich. Zeitweise sind wir höchst gefährdet. Es zeigt sich ja an den Suiziden. Das ist schreckenerregend und nicht appetitlich. Die Zahl der Suizidanten im Umkreis von Iquitos. Männer, die ins Paradies des Dschungels kamen und es nicht schwer fanden, sich selbst zu exekutieren. Franzosen in 4 Fällen, und Amerikaner mit Heroin. Die französischen Männer, soweit kolportiert, in Begleitung ihrer Frauen, feiern Zeremonien mit Indigenen und bringen sich am darauf folgenden Tag um, zwei hinterlassen Abschiedsbriefe. Die Krise, durch die sie in der Nacht unter Brüllen kriechen mußten, war nicht auflösbar, so meinten sie. Eine existentielle Entblößung der schlimmsten Art. Vollkommene Verzweiflung. Doch rechtfertigt eine solche zu erwartende Krise, diese Erschütterung, eine dermaßen verheerende Reaktion? Wer richtet? Die ausländischen Heroin-Toten in ihren Hotelzimmern jedoch stellen die Mehrheit. Die peruanische Polizei weiß, was sie an den Gringos verloren hat. „Komplexe Exzentriker, die keiner versteht“: das ist ihre Meinung. Und seit dieser Kanadier Sebastián Paul Woodroffe die honorierte Schamanin Doña Olivia vor bereits wieder fünf Jahren in ihrem Heimatdorf Victoria Garcia, Distrikt Yarinacocha, mit zwei Schüssen am helllichten Vormittag direkt vor ihrem Haus tötete, weil er wegen eines Betruges von 15.000,- Soles durch Olivias Sohn außer sich war, ist das Verdikt zu Ungunsten der Gringos gefällt. (Woodroffe, von Sinnen, ein Entrückter, wurde von den Shipibos standrechtlich gelyncht; stranguliert. Kinder schauten zu und filmten.) Hierzulande unterscheidet man auch nicht zwischen Kanadiern und Amerikanern. Europäer sind sowieso unbekannt, denn was ist für Analphabeten die Welt? Jedenfalls keine Kugel. Die peruanischen Frauen leiden unter der Zerstörungswut ihrer Landsleute. 12.000 Gefangene, allesamt Männer, in Perus größtem Gefängnis Lurigancho. Eine Stadt der Perversion. Die Banditen auf Limas Straßen allesamt Männer. Die Betreiber der Hölle auf Erden, – Männer. Die Industrie der Prostitution: Männer. Die der Waffen: hauptsachlich Männer. Die Kämpfenden in der Ukraine: allesamt Männer. Nur das Frauenboxen eine ekelhafte Irregularität. Und die katholische Kirche? Eine Institution, die den Sexus der Frauen, insbesondere dessen orgiastische Potenz, aus Angst verdammt. Und abgesehen davon eine Mörderinstitution, die tausende von gefolterten, verbrannten Frauen auf dem Gewissen hat und sich dafür nur weniger als halbherzig entschuldigt hat, weil die Erinnerung an die eigene Abgründigkeit, die einem solch überdimensionalen Verbrechen zu Grunde liegt, sie nur verschreckt und durch eine Falltür hindurchbrechen läßt. Das Allernächste, was in der Kirche, bei der ich mich ein bißchen auskenne, ansteht, ist die rückhaltlose Aufhebung des Zölibats, also der Ehelosigkeit der Priester. Dasselbe gilt natürlich auch für alle Nonnen, diesen von Brustkrebs zerstörten armen Frauen, die meinten, für eigenes eingebildetes Fehlverhalten aus der Vergangenheit büßen zu müssen. Die Selbstverurteilung. Die Selbstbestrafung. Das Schlimmste, was man sich selbst antun kann. Und daß Fremde einen verurteilen, wer von ihnen werfe den ersten Stein? Wir haben uns eingehender mit weisen Frauen zu unterhalten. Mit jenen, die wortfähig sind und die Selbstentblößung nicht scheuen. Mit jenen, die den Schöpfungsmythos glattweg ablehnen. Mit jenen, die dafür umso radikaler denken. Dort, wo dieses radikale Denken in Dunkelheit noch zu Worten findet, dort verstören solche Worte nur. Doch auf Verstörung folgt neue Zuordnung. So wie das unvergeßliche Wort, als eine Frau sich aufrang, zu gestehen: „Das, was ich gesehen habe in meinen Anbetungen im Bett, war nur schreckenerregend. Ich betete zu Gott, er möge mir diese Prüfung erlassen. Doch er erhörte mich nicht. Ich blieb geplagt. Wer will mir erklären, warum ich solches zu erleiden hatte? Die offene Hölle. Warum? Warum? Ich konnte nur ein Stoßgebet seufzen: „Michael, hilf!“ Du weißt ja, der Erzengel. Er, der Gegner Satans. Doch warum?“ So sprach diese eine Frau, die auch schon wieder 7 Jahre nicht mehr unter uns weilt. Doch ihr Wort, dieses eine, das zählt, währt.

     

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  3. Fürchte den Anderen wie dich selbst

    In memoriam Erwin Ringel (+28.7.1994)

    Die Österreicherinnen und Österreicher erziehen ihre Kinder zu Neurotikern – überhaupt sei dieses Land die Brutstätte der Neurose schlechthin, schrieb Ringel 1984 im Buch „Die österreichische Seele“. Denn die drei wichtigsten Erziehungsziele hierzulande würden lauten: Gehorsam, Höflichkeit, Sparsamkeit.

    Von da kommt die Bereitschaft des Österreichers zu devotem Dienen – mehr noch – zu vorauseilendem Gehorsam. Das heißt, Befehle – noch ehe sie ausgesprochen – zu erahnen und zu erfüllen. Das Wort Glücklichsein scheint gar nicht auf. Kinder werden eingeschränkt, eingeengt, dürfen keine Eigenexistenz führen, sind Werkzeuge, mit denen die Eltern ihre eigenen Ziele erreichen wollen.

    Ringel prangerte neben der physischen stets auch die psychische Gewalt an. Wenn ein Kind geschlagen, beleidigt, nicht wertgeschätzt und gleichzeitig in seiner Entfaltung eingeschränkt wird, entwickelt es Aggressionen gegen die Eltern, so der Psychiater. Da es diese den Erziehungsberechtigten gegenüber aber nicht ausleben darf, richte das Kind die Aggression gegen sich selbst sowie gegen andere, meist Schwächere. Gleichzeitig fühle sich der Heranwachsende schuldig für seine unterdrückte Wut – die Neurose ist geboren.

     

    – Der Psychiater und Analytiker Erwin RINGEL

    APA / Barbara Gindl

     

    Jede Aggression gegen andere ist nach Ringel immer eine Schädigung der eigenen Person. „Der Neurotiker ist immer auf der Suche nach Möglichkeiten, zwei Fliegen mit einem Schlag zu treffen. Einerseits die anderen anzugreifen und andererseits sich selber zu vernichten.“ Der Alkoholiker etwa trinke, um seine Emotionen freisetzen zu können, aber auch um sich selber zu zerstören.

    Der Hang zur Verdrängung sei ein Charakteristikum Österreichs, in den Worten Ringels: „Das heißt, die Dinge nicht wirklich bis zum Ende auszutragen, den Dialog – sofern es ihn überhaupt gibt – vorzeitig abzuwürgen und dann mit den ungelösten Problemen als einem zu großen Gepäck am Buckel herumzulaufen.“

    Ringels Auftreten damals, in den 70er und 80er-Jahren, an der Klinik in Wien geschah nach einem festgelegten Ritual: Er wurde auf einem Rollstuhl von seinem Assistenten Gerald Sonneck, der später sein Nachfolger werden sollte, hereingeschoben. Wie alle vortragenden Ärzte trug er einen weißen Arbeitsmantel. Das, so meinten sie, wäre dem geschichtsträchtigen Ort, eben der Wiener Klinik, dem AKH, geschuldet. Selbst Frankl, der Besucher aus den USA, der mit der Institution nur mehr ehrenhalber etwas zu tun hatte, trat in Weiß auf. Ringel sprach ohne Papier. Das Handhaben mit Papieren wäre zu mühevoll gewesen. Sein Vortrag war freie Darstellung von Themen seiner Leidenschaft. Er zog spontan querbeet durch alle Felder, die ihm relevant erschienen. Es war greifbar, daß er ständig mit bestimmten Themen schwanger ging, Themen des Tages oder der Woche. Das eine Mal, als ich bei ihm war, genügte mir, außerdem trug ich, eingestandenermaßen, noch ein Ressentiment gegen die Psychotherapie an der Klinik in mir. Er hatte kurz zuvor seinen Sohn verloren, und das betraf mich tief. Ein Schock! Das ist zu persönlich. Er kämpft um Fassung. Da hast du nichts weiter verloren, dachte ich. Und ich trug diese mit Angst verbundene, eingefleischte Abneigung gegen Weiß mit mir herum, so wie schon vom Realgymnasium. Der Geruch von Krankenbetten und Chloroform und Nazi-Ärzten. Von den damaligen Hörern waren mehrere Zaungäste, die später wieder wegblieben, wie ich mir einbildete. Ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Hummlern auf Selbstfindungskurs, die sich einmal den Ringel „geben“ wollten. Wie ist er so in seinem Uni-Vortrag? Natürlich anders als in der Provinz. Was ist sein Fachinteresse? Damals eine Herzensangelegenheit, die Gegenüberstellung von Freud und Adler. Das fiel in meine Gasse, denn es war perspektivenreich und inspirierte eigene Überlegungen. Heute, mit der Medizin des Dschungels, habe ich dazu, so wie zu allem, was Wissen ist, einen anderen Zugang. Damals waren es Grabenkonstellationen, scheinbare Konfrontationsgegebenheiten. Konfrontationen machen fürwahr mein Leben aus, so wie offenbar auch bereits damals bei Erwin Ringel. Diese eine Vorlesung war prägend. Ich wußte absolut nichts von diesem Schicksalsschlag. Der Spezialist für Selbstmordprävention hat den Tod des eigenen Sohnes zu beklagen. Mehrere Kommilitonen tuschelten. Während er sprach, rannen ihm die Tränen über das Gesicht. Er schluchzte nicht. Er schrie nur auf, beinahe. Seine Stimme war raumfüllend, so wie jene Erich Heintels, des Philosophen, im Auditorium Maximum, der zu Beginn stets das Mikrophon demonstrativ zur Seite schob, so als wäre es ein Störgegenstand. Damals war es nur ein kleiner Saal in der Abteilung für Psychosomatik. Naturgemäß war ich frappiert. Eigentlich mehr: tief betroffen. Daß er überhaupt jetzt auftreten kann, fragte ich mich. Daß er sich dies abverlangt! Es war wie die Stimme eines Überlebenden nach einem Bombenschlag. Was ich damals nicht wußte, war die unbewußte, die massive Wirkung auf mich. Von da weg nahm mein Leben nochmals eine andere Richtung. In mir veränderte sich etwas, und es war nicht das Interesse für ein akademisches Fach. Es war eine veränderte Lebensperspektive. Es war das Tabu des Todes in aller Breite. Das Tabu jenseits jeder Sprache und jeder Sozial- wie Institutionskonvention. Ringel wirkte wie ein Felsen vor Saint Maló. Eine gigantische Atlantik-Welle prallt mit Wucht auf ihn und zerteilt sich in Gischt. Elementare Erosion. Das genügte. Ich sah ihn nie mehr wieder, von Angesicht zu Angesicht. Erst jetzt, 100 Jahre später, heute, brachte ihn mir la madre wieder zurück und ich träumte ausgedehnt von ihm, wirklich ausgedehnt. Und sie brachte mir Aussagen, die jeden Kommentar erübrigen. 

    „Ich habe meinen Sohn verloren. Wer wird mein Erbe weiterführen? Und nie werde ich darüber sprechen können. Mein Sohn ist verschwunden, und nur ich und meine Frau wissen, was wir in ihm verloren haben.

     

    Eine Hauptaufgabe des menschlichen Lebens ist, eine positive Einstellung zu sich selbst zu finden.

     

    In einer echten Gemeinschaft wird aus vielen Ich ein Wir.

     

    Arbeitswut ist nur der Versuch, den eigenen Problemen auszuweichen. (Heute gemünzt auf die US-verunstalteten Doppeljob-Sklaven)

     

    Nur wer sich selbst erkennt, wird reif für die Begegnungen mit Anderen.

     

    Das letzte Wort spricht nicht der Mensch.

     

    Die Verirrungen des Menschen sind zuweilen grenzenlos. Der Mensch findet nicht mehr aus diesem Labyrinth, obwohl es eine Folge seiner Reaktivität in allen Facetten darstellt. Er scheitert am Schweigen und Unverständnis.

     

    Die menschlichen Verschränkungen sind unermeßlich komplex, da sie unbewußte Sprache darstellen. Nur das Hochheben dieser Rede kann uns retten.

     

    Was in uns wütet, ist schreckenerregend.

     

    In jedem steckt eine einmalige Chance, die niemand stellvertretend für ihn ergreifen kann.

     

    Das wirksamste Mittel für das Reifwerden der Persönlichkeit heißt: vertiefte Selbsterkenntnis.

     

    Es ist seltsam und schreckenerregend, daß ein dermaßen sensibles, zerbrechliches und mit sich selbst überworfenes Wesen wie der Mensch zu den Grenzen der eigenen Sterblichkeit voranschreiten darf und kann und trotzdem nur eine Kerze im Angesicht von Sonnen darstellt. Dieser Vergleich stammt wohlgemerkt nicht von mir. (Déjà-vu)

     

    Es wird niemals alles gesagt sein, und dennoch muß der Mensch sterben. Das allein ist bereits ein Gewicht, das Menschen zusammenbrechen und Hand an sich legen läßt.

     

    Österreich ist durch und durch verängstigt. Hätten wir nicht die wunderbare Natur und dieses gewisse österreichische Gemüt, wäre es zum Weinen. Und die Angst des Österreichers rührt her von dieser rigiden autoritären Erziehung, die freies Denken und Fühlen nicht erlaubt. An diesem Verbrechen ist die Kirche ebenso beteiligt. Doch gleichzeitig ist unser Land gesegnet von eigenwilligen Menschen. Unsere Verschrobenheit führt uns bisweilen zu Schätzen der Einsicht. Man braucht nur die Bewohner Wiens und einige ihrer Proponenten hernehmen. Helmut Qualtinger beispielsweise oder, viel früher, den lieben Augustin. Jawohl! Da gibt es unzählige Beispiele. Man muß sich nur mit all diesen Leuten ehrlich befassen.

     

    Sie fragen mich, wie ich als Psychiater das alles aushalte? Diese Frage ist zwar nicht wesentlich, wird aber den Vertretern meines Schlages gerne gestellt. Um ehrlich zu sein, ich weiß es selber nicht, zumal ich nicht rauche und auch nicht trinke. Und mit meinem Glauben will ich Sie nicht belästigen.“

     

    „Herr Professor, warum sitzen Sie im Rollstuhl?“ „Gott hat es so gewollt. Ganz einfach.“ Amen.

     

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  4. Die Fingerschnipperin

    Da war eine Dame, sie war nicht von hier. Eine Karibeña, eine Mulattin. Nun, ich sollte meinen Mund nicht zu voll nehmen, denn eigentlich kann ich doch ganz und gar nicht mit Bestimmtheit sagen, sie wäre nicht von hier gewesen. Ich weiß von ihr so gut wie gar nichts, doch von ihrer Wirkung auf mich ein bißchen mehr. Diese ihre Wirkung war und ist segensreich, hilfreich und gesund, und vor allem (ebenso gesundheitsförderlich): sie bringt mich zum Schmunzeln. Sie lehrt mich mit Geduld und dem sprichwörtlichen langen Atem. Sie flüstert mir des Nachts etwas höchst Hilfreiches ins Ohr: „Das wird sich noch zeigen“, sagt sie. „Diese Falle der Selbstverdammung wird sich auflösen, und du wirst dich ärgern, so lange dumm gewesen zu sein. Doch ärgere dich nicht, mein Lieber, und nimm es nicht persönlich. Du persönlich warst nicht dumm. Du warst nur verängstigt und natürlich allein. Ein Einzelkämpfer. Der typische sture Bock aus dem Mostviertel. Der Mostblutzer.“ Und in der Tat, so wie ich den Vormittag arbeitslustig angehe, purzeln die Kegel von alleine, und ich durchschaue den Betrug der Ideologie, der ich die längte Zeit aufgesessen bin. Es gab niemals einen Grund zur Selbstverdammung. Es war alles von höherer Macht bestimmt. Du lebst nur zwei Mal, ein Mal bei Tag und ein Mal bei Nacht. Und du kannst keine deiner Handlungen zurücknehmen, so wie keines deiner Worte. Alles geschieht von höherem Gesetz. Unter der Macht des höheren Gesetzes gibt es keine Fehler. Vor der Macht des Todes und der Ewigkeit gibt es keine Fehler. Es gibt nur Einzigartigkeit, und in gewissem Sinne das Hadern mit allen Formen der Absurdität, so wie zum Beispiel das Rasen im Kreis in der Formel Eins, und das Explodieren der Flugzeuge und Raumschiffe in der Luft oder das Verunfallen der Hochgeschwindigkeitszüge. Oder das Versinken der Ozeandampfer und sonstiger Boote. Das alles geschieht in Sekunden, und alle Zeugen, die dessen ungewollt ansichtig werden, sind geschockt. Die Dame also, die Karibeña, die solches spricht, hatte wirklich Humor. Sie war durch und durch gutmütig. Nicht bissig und rechthaberisch, und vor allem, sie kannte mich sehr sehr gut. Und was noch schwerer wog: ich ließ es zu, daß sie mich erkannte. Das wog schwer. Ich hatte Vertrauen zu ihr und ließ es zu, daß sie mich erkannte, oder, wie ich mir dachte, sie mich schon immer zu kennen schien. Ganz anders als meine Mutter, die Todesängste ausstand, weil sie mich gebären mußte, sie aber nicht wußte, wie das vonstatten gehen sollte. Diese Trennung von mir, ihrer Leibesfrucht. Die Karibeña hatte allerdings einen Vorteil, den der Jenseitigkeit, den der Unsterblichkeit, und mit diesem Vorteil stachelte sie mich an, oder sagen wir besser: zog sie mich an. Sie zog mich mit dem fundamentalen Wissen, das ich von ihr hatte, endgültig auf ihre Seite, somit auf die andere, die metaphysische Seite. Ihr ganzes Wesen war trostspendend. Und damit stoppte plötzlich, als mir zu dämmern begann, in welcher Liga hier gespielt wurde, mein Hadern. Das Hadern, die zwanghafte Selbstrechtfertigung, das Schimpfen und das ewige besserwisserische Kommentieren. Mit dem Auftreten der Karibeña kam Frieden in mein Haus, und dafür werde ich ihr geradewegs dankbar sein, jeden Tag und jede Stunde, wo ich zurechnungsfähig bin. Meine Lehrmeisterin – sie ist nicht die einzige – zeigt Engelsgeduld. Sie ist die Meisterin der Relativitätstheorie. Sie sagt: „Wir bleiben am Ball. Nur mit der Ruhe. Eins nach dem anderen. Verzicht ist eine hohe Tugend. Schau nur, wie dich der Verzicht in die Höhe bringt. Verzicht. Da gibt es mehr als was du dir ausmalst. Du weißt schon, was ich meine. Hysterie zum Beispiel. Ein kleines Kernübel, wollen wir sagen. Von ihr kommen Schusselei, Oberflächlichkeit und Denkunwilligkeit. Du darfst weiterhin deine Schachprobleme lösen. Doch das meiste, wie du bereits hinlänglich eingesehen hast, lernst du aus deinen Fehlern, aus deinen Launen, aus deinen Befindlichkeiten. Also nimm dir ein Beispiel am Professor und überwinde deine Trägheit, auch wenn es dir quälend erscheint. Qual ist etwas Exquisites. Das hast du von meiner Schwester (sie meint natürlich la madre) bereits hinlänglich gelernt, und sie zeigt es dir ja jede Nacht aufs Neue vor. Da wirst du irgendwann nicht mehr von Entscheidungsnotstand faseln können. Es ist ja nicht schwer: Sag Ja zu dir und sag Ja zu allen Anderen. Sie alle sind Geschöpfe des Geistes. Und sie alle werden sterben. Also, was haderst du noch? Was tändelst du noch? Stell dich nicht dumm. Du hast alle Zeit der Welt, doch vergeude sie nicht! Haben wir uns verstanden?“

    Es ist eigenartig: So verhält es sich wirklich. Und das ist bereits der Segen.

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  5. „Verwundet?“ „I wo!“

    Vielleicht mangelt es mir nur gelegentlich an Kraft, die eigenen Vorsätze beizubehalten. An Durchhaltevermögen. Oder an Ernst. (Minipornographen haben dieses Problem, sagt man). Juan Matús, und in seinem Gefolge Carlos Castaneda, vermelden ja, der Weg beginnt mit einer Tat der Kraft, und diese Aktion wird sodann beibehalten, Tag für Tag. Das ist die Disziplin des Nachfolgers. Wie ein Autist. Der lässt sich auch durch nichts und wieder nichts von seiner Routine abbringen. Löblich solches. Der zu seiner Reise aufbrechende Mensch hat sein Marschgepäck geschnürt und seiner Heimat (die sie ja nie wirklich war) Lebewohl gesagt. Er weiss, das jetzt ist ein Marsch ohne Wiederkehr. Mal sehen, wohin mich Schusters Rappen trägt. Zeit war es ohnedies. Höchste Zeit. Aber wollen wir nicht übertreiben. Solches kann ich mir sowieso nicht leisten. Sagen wir, ich bin reif für diese Spezialexpedition, die ich niemandem auf die Nase binden werde. Das geht nur mich etwas an. Mich und meinen Tod. Das wohl allemal. Ich brauche keine Dreinreder, keine Zyniker und Verharmloser, und erst recht keine miesen Zweifler mit rülpsender oder bissiger Stimme. Verlautbare ich nichts, brauche ich auch niemandem dessen Schnauze verbieten. Ich schleiche mich davon, auf Nimmerwiedersehen. Keiner wird wissen, wo mein Grab liegt. Eines ohne Kreuz und Namen, wohlgemerkt. Das bisschen Triumph behalte ich mir vor. Ich brauche keine Zeugen. Nur einen sehr guten Freund, der mich eingräbt, so wie wir es ausgemacht haben. Von Verbrennen halte ich nichts. Zu energieaufwändig. Ich bin also fort. So wie manche Besucher aus grauer Yushintaita-Vorzeit. Ich meine solche, die ohne Verabschiedung abzischen („Ich habe genug gesehen. Jetzt mache ich Urlaub in Iquitos. Nicht in solch primitiven Umständen wie hier. Mit Warmwasserdusche und Toilette mit Spülung“. „Ich bin weg. Ich brauche mir doch nicht drohen zu lassen, ich werde verhext, wenn ich mich wegen der mangelnden Stärke von Ayahuasca, wie es hier ausgeschenkt wird, nochmals beschwere. Wer ist er denn?“), oder solche, die es mit meinem unvergessenen Philosophieprofessor Hans-Dieter Klein halten, der einmal nuschelnd, mit geheimnisvoll leiser, bedeutungsschwangerer Stimme meinte, Flucht sei zuweilen eine gute Methode, dem Tod durch Menschenhand zu entkommen. In Otorongo gab es auch vereinzelt Fliehende. Aus dem vermeintlichen KZ Fliehende. Solche, die die Liebe, nach der sie sich heimlich sehnten, in dieser frostigen, verstandesgeleiteten Kälte partout nicht finden konnten. Und zu allem Überdruss werden hier Würmer serviert, Holzmaden, darüber hinaus Alligatoren und Ajunis, diese putzigen Nagetiere, denen die Jagdhunde unbezähmbar den Garaus gemacht haben. Ich bin hier am falschen Platz, das ist klar wie Klossbrühe. Also fort.

    Doch fort ist nicht endgültig fort. Die Vergangenheit holt mich überall ein, wenn sie nur will. Wie die Vergangenheit funktioniert, das verstehe erst einmal einer. Ich mühe mich an der Vergangenheit ab. Dafür werde ich bezahlt. Meine Vergangenheit verleiht mir eine Existenzberechtigung. Ich bin immer schon da. Ich werde mir nie langweilig. Da gibt es immer noch Interessantes auszubaldowern. Ist ja toll, mit wem man zuweilen im Bett landet. Details erspare ich mir. Aber es ist schon interessant. So habe ich mir mein Sexualleben zwar nicht vorgestellt, aber gut, auch Bartel muss zuschauen, von wo er den Most holen wird, wenn er danach gerufen wird oder der Hafer soweit sticht, dass es nicht mehr ignoriert werden kann. „Ich hätte bitte gerne eine Kompanie“, raunzte mir einmal eine mehrfache Mutter zu. „Eine Kompanie für eine Nacht. Ist ein solcher Wunsch verwerflich? Ich frage Sie!“ Der Punkt ist, es blieb nicht bei dieser einzigen Frau. Auch andere leisteten mir gegenüber diesen Offenbarungseid. Verwunderlich. Weder die betreffenden Damen noch ich, der verständnisvolle Zuhörer, empfanden Scham. Dabei war ich doch immer einer, den weibliche Schamlosigkeit massiv genierte, und die männliche stiess mich sowie immer sofort ab, weil primitiv und degoutant. Die Vergangenheit holt mich bei jeder Gelegenheit ein, und das führt zu willkommener Prozessverlangsamung und notwendigen Übersprungshandlungen, wie es Konrad Lorenz definierte, die äusserlich in keinem Kausalzusammenhang zu stehen scheinen, wie mein Nasen- oder Ohrenbohren, mein Zehenrubbeln und -Riechen, oder die notorischen Selbstgespräche, für die sogar Peter Handke (er bei weitem nicht der einzige) berühmt war. Alles Symptome von Triebspannung, nannte es Freud. Gut. Wie er meint. Was also heute tun mit diesen Szenen? Der Nagual empfiehlt klipp und klar die Rekapitulation, den Fegeatem. Ich habe diesen wohlmeinenden Rat zuerst einmal verharmlost, weil ich dessen Dringlichkeit nicht erkennen wollte. Ich hatte jahrelang eine unantastbar hohe Meinung von mir. Warum das so war, brauchte ich ebensowenig zu erforschen. Alles Sympome manischer Selbstvoreingenommenheit. Doch nach 15 Jahren diskreter Selbstzerfleischung bröckelte der Putz. Nach einer Zeit der nachweislichen Friedens- und Stillearbeit mit jenen Menschen, die ausserhalb jeden Urteils standen. Der stete Tropfen höhlte auch mich, und eines Tages gab ich, da es mich, wie ich mit Erleichterung feststellte, nur einen Mäusefurz kostete, klein bei. Das war ein Moment der Stärke und nicht überbordender, nicht mehr zu tolerierender Scham. Es war eine – nennen wir es einmals so – Phase, in der keinerlei Rechtfertigungszwang mehr verspürbar war, keinerlei aktive wie passive Schuldzuweisung. Eine Phase, sicherlich von La Madre geleitet, in der Staunen hervortrat, und Trauer. Trauer im ersten Anhieb. Und dann Reue. Und dann Schmerz. Und dann Dank. Dank, dass ich das alles überlebt hatte. Und dann nochmals Staunen. Und dann, wie immer nachts, im Bett, eine Ausweitung, wiederum getragen vom Gebet und dem Dank an La Madre. Ein erstes Verstehen, wie in einem Privatissimum höchster Qualität, wo es um Pioniervorantrieb geht, Pontonerrichtung und Schneisenschlagung. Wie bei Julius Robert Oppenheimer, um einmal in eine passende Kurve zu ziehen. Infantilität ist weg. Ich werde in die Infanterie eingezogen. Meine Marschtauglichkeit werde ich mit verhaltener Freude unter Beweis stellen. Ich habe keine Schnecken an meiner Seite, nur junge, reiselustige Menschen, Blitzgneisser. Täusch dich nur ja nicht in ihnen. Sie haben dich längst durchschaut. Na und? Also gib bitte keine Schiessbudenfigur ab. Sei ihnen ein Vorbild. Früh genug wirst du einen Abtritt machen. Und woran sollen sie sich dann halten? Einfache Antwort: an das, woran auch du dich gehalten hast (und vor dir all die vergangenen Generationen). Und das war ja gar nicht so wenig, oder?

     

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