Selbstüberwindung

Mit dem Denken und erst recht mit dem Reden fängt alles nachweislich an. Der Dampfkessel der Gefühle brodelt ja sowieso ständig von alleine. Also Reden aus praktischer Sicht. Irgendwann kommt der Tag, an dem mich nun doch ein Ruck ergreift und ein Ausruf sich meiner Kehle entringt: „Jetzt ist genug! Genug dieser stinkenden Luft, genug dieser giftigen Worte!“ Aus gutem Grund! Denn wie lang soll diese ängstliche Vorsicht, dieses schwache kranke Phantasieren, das doch niemandem weiterhilft, noch andauern? Und siehe: da kommt eine Nacht, in der Besonderes geschieht. Eine neue, lang ersehnte Form von Innigkeit. Geballter Mut, mich dem Unbekannten, von dem ich vordergründig ja gar nicht sagen kann, wie es sich gestalten könnte, zu stellen. Mut ergreift mich. „Jetzt will ich es wissen!“, flüstert eine leise Stimme unbeirrt. „Genug der falschen Einflüsterer. Genug der heimlichen Manipulatoren. Nutze diese Gefechtspause, um endgültig zu desertieren. Du hast mit dem Krieg nichts mehr zu tun, mit dieser täglichen Giftspeierei, mit diesen angedrohten transkontinentalen Sprengköpfen.“ Und so wandere ich auf neuen Wegen, versuche mich in neuer Bescheidenheit, achte auf die Menschen ringsum. In jenem Moment mitten in dunkler Nacht, noch vor Mitternacht, als ich mich unruhig hin und her wälze, überkommt mich eine ahnungsvolle Vision, das Echo einer Freundin aus der Schwyz, aus Burgdorf im Emmental, genau genommen, wie sie mir telefonisch mit heiserer Stimme a la Florinda Grau einen Wahrheitssatz herüberrreicht: „… all diese Schicksale…“, sagt sie, und meint natürlich die unzähligen Menschen, über 10 Millionen, hier in Lima. Sie meint die Armen, die Bettler in den Armenbezirken (der meine ist auch einer von Armen; San Martin de Porres), wie sie verdreckt oder im Drogenrausch besinnungslos in der Kloake liegen, oder die Alten unter den Brücken, die Vereinsamten, alleine Verlorenene (allesamt Männer, soweit ich es absehe), und die unzähligen Beinamputierten auf ihren armseligen Rollstühlen, sie alle Opfer der Diabetes, was hierzulande eine Volkskrankheit darstellt. Sie meint nicht den Papst in Fatima und auch nicht die 2 Millionen Jugendlichen, die ihm das Geleit geben. Sie meint nicht all diese idealistisch gesinnten Personen, die die Zukunft Europas bilden sollen, und die allesamt die Kommunion, den Leib Christi, empfangen. Frau Janine meint das immerzu Bedenkenswerte, den unsichtbaren Feind, der uns ständig bedroht, das Böse, wie es uns ansatzlos überfallen möchte und wir vor lauter Staunen über solcherlei Dreistigkeit vergessen, uns zeitgerecht, augenblicklich, zu schützen, sodaß nicht der eigene Ungeist neu aufschießt und mit uns lefzentriefend, ein brutzelnder Lötkolben, der alle Sicherungen durchbrennt, durchgeht, quasi als täglicher, nur allzu gewohnter, uns wie immer hilflos stimmender, kleiner Amoklauf. „Lieber Herr H.“, höre ich es freundlich heiser durchs Telefon, „mit dem Vertrauen ist es wirklich so eine Sache, und mit dem mich-verletzt-Fühlen auch. Zu was oder wem kann ich denn heute noch Vertrauen fassen? Etwa zu meiner eigenen ratlosen Verzagtheit? Meiner notorischen Verwundetheit? Meiner Mutlosigkeit? Ich weiß, was falsch läuft, doch ich finde nach wie vor kein Rezept, wie es besser machen!“ Da ist guter Rat teuer. Solches Seelenbekenntnis wiegt schwer. Doch Dank sei dieser Burgdorferin, dass sie so offen spricht. Da ist Vertrauen im Busch. Das wiegt Gold. Das, besehe ich’s recht, ist Neuland. Wir haben hier Herzoffenheit, also sei vorsichtig! Vorsicht ist keine Untugend von Zaudernden oder Begriffsstutzigen. Behalte sie bei, ohne in mutloses Mimosentum zurückzufallen. Resigniere nicht, nur weil du nicht auf Schritt und Tritt Bestätigung durch Zusage erfährst. Vorsicht ohne Lohn, das nennt man Bedächtigkeit. Hat dich solches Gewächs nicht als Jugendlichen maßlos geärgert? Zum Staunen, gell!? All die bedächtigen Altvorderen, du hast sie in ihrem grummelnd zur Schau gestellten bedächtigen Getue gehaßt. Und heute? Ja, heute fällt mir Bedächtigkeit um ein Gramm leichter. Vielleicht rettet mich dieses eine Gramm. Es ist ohnehin zum Schämen. So höre ich es aus meinem Schädel, jeden Tag. Da kann ich machen, was ich will. Diese ständige kraftlose Begriffsstutzigkeit, die du mit Dummheit verwechselst: erfordert solches wirklich Scham? Nimm dich ernst, aber nicht wichtig. Ist hier tatsächlich Schande angebracht? Bist du ein Versager? Was also willst du denn wirklich? Du kannst nichts erzwingen. Das könnten wir uns nachhaltig vor Augen halten, Herr Siebenzwerg. Nur Mut!

2 Millionen Jugendliche empfingen also vor wenigen Tagen in Lissabon die Kommunion. Weit über tausend Priester waren im Einsatz. Es gab keinen Zwischenfall. Die Choreographie der Massen funktionierte. Unser unbezahlbarer Argentinier war zu Tränen gerührt. Unzählige Herzen flogen ihm zu, Kinder, Mitgestaltete und Behinderte wollten ihn unter Schluchzen berühren oder umarmen. Solche Szenen gab es fürwahr noch nie. Ein Meer von Menschen in Fatima. Das war eindeutig nicht Krieg. Das pure Gegenteil. Franziskus, immerhin bereits 86 und rollstuhlgebunden, verlor ob solcher ihm zufliegender Liebe alle Erdenschwere. Gibt das nicht Hoffnung? Ja, bekennt mein innerer Zensor, ja, das gibt Hoffnung. Mit ehrlicher Zuneigung, ehrlicher Zuwendung, ja, pflanzst du den Samen der Hoffnung in dir wie im Anderen. Und was daraus noch weiter keimt, wir wollen es mit Dank an Maria schätzen und behüten. Amen.

3 Antworten

  1. Leere

    Das vollkommene Absehen von mir selbst, so dünkt mich, ist die höchste Übung. Ich zähle nicht mehr. Exakt das war der Aufschrei Florinda Donner-Graus im Jahre 1970 bei ihrem Eingangspicknik mit dem Zug des Nagual Juan Matús im Traumzustand auf dem Wiesenfleck neben dem frisch gepflügten Acker unter dem mächtigen Zapote-Baum, Bundesstaat Sonora. Die Frauen erklären ihr unverblümt, daß sie nicht zählt, noch nicht zählt. Sie muß erst noch geboren und großgezogen werden. Florinda Donner Grau’s Entrüstung ist heftig wie deftig. Sie handhabt den Jargon des Packs aus den Favélas von Caracas mit Verve. Vollkommen absehen von mir selbst ist eine reizvolle Aufgabe. Die Sorge um mich selbst, die Selbstbespiegelung einmal fallen lassen, verhilft mir zu einem Aufschub in ungekannte Sphären. Durch immerwährende Aufrechterhaltung eines illusionären falschen Ichs gebundene Energie wird frei. Nichts mehr ist der Sozietät geschuldet. Der dadurch notwendigerweise induzierte Tabubruch ist vollkommen. Der Faschismus heult auf. Das ist der Aufbruch in neue, ungekannte Welten. Das Leben als Krieger mitten im menschenverachtenden, teuflischen Krieg, Sinnbild jedes humanitären Fiaskos. Das ist unsere tägliche Situation. Dazu muss ich nicht in New Delhi oder Kalkutta oder Ciudad de México leben. Und auch nicht in San Martín de Porres. Die Kriegssituation finde ich in jeder personalen Konstellation, jeder Wohnung, jeder menschlichen Versammlung, möglicherweise sogar in jeder Kirche. Immer ist Krieg. Die Attacke durch das falsche Selbst geschieht permanent, im Wachen wie im Schlaf. Deswegen erfanden die Weisen des indischen Subkontinents den Traum-Yoga. Sie wußten um die Notwendigkeit, sich sogar im Schlaf gegen das Böse schützen zu müssen. Alle meine Kinder, wie sie mit den Zähnen knirschen und im Schlaf sprechen, legen beredtes Zeugnis ab für eine in der jeweiligen Nacht neu eingetretene Kampfsituation. Von den mir nahestehenden Frauen gar nicht zu reden. Die heulen und verteilen noch im Bett wild blickend Faustwatschen, ohne jeden Kommentar, weil sie meinen, neben ihnen läge – was weiss ich? – ein Lindwurm, oder Nosferatu, oder der personifizierte Tod in Gestalt eines Covid-Kranken, der sich an ihre Seite geschlichen hat, um sie sadistisch anzustecken und so mit sich in den Tod zu reissen. Und dann, als sie schweißgebadet taumelnd und für lähmende  Sekunden desorientiert aufwachen, finden sie neben sich eine blutüberströmte gemordete Leiche samt Messer. Sie spüren augenblicklich die Schubwelle des Wahnsinns, wie sie sie überschwappt, sie schreien in höchster Panik als vermeintlich gänzlich erinnerungslose Täterinnen auf und wachen nochmals auf, paralysiert. Ähnlich ergeht es einem, der vom Schafott-Saal der Nazis in Berlin-Charlottenburg träumt. Teufel bedienen ihn der Reihe nach. Sogar Kinder werden erhängt und vergast. Sadistisch grinsende Fratzen. Und dann sieh ab von dir. Denn du bist nicht gemeint. Du bist wahrhaftig nicht gemeint. Du bist nur ein Störfaktor, ein Mensch zuviel. Karol Woytyła war auch nur ein Störfaktor, ein Splitter im Auge Leonid Breschnews. Und für Ali Agca war der Pole nur ein Zielobjekt für seine Browning. Der Mensch selbst ist dem Teufel völlig unwichtig, so wie für eine Bestie. Was also bleibt von mir, wenn ich tot bin? Die Antwort leuchtet mir ein: Gänzliche Gottergebenheit. Als ein Geschöpf Gottes bräuchte ich mich, wie es der Herr plakativ beschreibt, nicht zu sorgen. Wie Spatzen und Sperlinge auf den Feldern. Jeder Tag sorgt für sich selbst. Als Geschöpf Gottes bin ich ganz in seiner Hand (Spruch JP II.). Wieso diese Person künstlich aufblähen? Muß ich die Atombombe neu erfinden? Neu das Rad? Was soll ich wissen? Kann ich es mir leisten, mit den Aborigines in deren Traumzeit durch deren Reich zu wandern, barfuss, nur achtsam vor den getarnten Schlangen, die nirgendwo giftiger sind als dort? Ich brauche den Fortschritt nicht. Wer sagt, dass wir ihn nötig haben? Steuern wir etwa die Bewegung des Planeten? Steuern wir die Bewegung der Sonne? Steuern wir die Rotation unserer vielleicht 600 Milliarden Sonnen schweren Galaxis? Argument genug, um von mir abzusehen. Nichts faszinierender. Leere dich aus, sagt mir Meister Mapacho. Sobald du völlig leer bist, begehst du keine Fehler mehr. Bist du völlig leer, kann dir das Gift, egal welches, nichts mehr anhaben. Dein Körper wird das Gift assimilieren. Du wirst das Gift nicht als etwas Feindliches verstehen. Vielmehr wirst du verstehen, was seine Absicht ist. In ihm wohnt eine Funktion. Doch diese Funktion ist beschränkt, so wie das giftige Wort deiner Zeitgenossen. „Natterngezücht“ nannte der Herr die Pharisäer. Er sprach mit Autorität, weil er die Wahrheit verkörperte. Er war sprichwörtlich die Wahrheit. Und er war eben nicht mehr „der Sohn des Zimmermanns“. Nichts faszinierender als die leere Person. Was aber fange ich mit einer solchen an, sofern sie mir über den Weg läuft? Ganz einfach: Ich halte inne, schaue mich um und gucke, ob irgendwo der liebe Gott oder sein Heiliger Geist herumlungern. Die Chefitäten mögen bitte verlautbaren, was Sache ist. Anders funktioniert es nicht. Und mich ficht der Krieg nicht mehr an. Die Angst ist fort, Stille überall. Ja, jetzt verstehe ich, was damit gemeint ist: „Put God first“, denn er ist ständig da.

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  2. Jeder für sich und Gott gegen alle

    Es gibt immer was zu tun. Packen wir’s an. Dieser Werbespruch von Hornbach ist mir ein unverdrossener. Ja, ich habe immer was zu tun, und niemand, nein, wirklich niemand könnte sagen, was mich wirklich umtreibt. Denn etwas treibt mich ja die ganze Zeit um, ohne Unterlaß. Viele Gedanken treiben mich um. Und meine Gedanken sind sonder Zahl. Ganz konservativ geschätzt sind es sicherlich 4.000 am Tag. Ich bin ein Schwerarbeiter. Ein unbezahlter noch dazu. Ich bin kein Bundesbahner in Rente, einer, der mit 52 oder 55 in Rente ging, um dann noch weitere 30 Jahre oder mehr in hypochondrischer Wartestellung zu verbringen. Ich bin kein sozialistischer Opportunist mit Parteibuch, nein, fürwahr nicht. Die Q’eros bei uns, südlich von Cuzco, auf 5.000 Meter, sind auch keine Bundesbahner mit 14 Monatsgehältern. Sie haben nur Sandalen und ihren Poncho und schlafen auf Heu in Bauten, die an Steinzisternen erinnern. Die Q’eros leben am Puls der Zeit. Das fühlst du sofort, auch wenn du es dir nicht eingestehen möchtest, weil es dich peinlich berührt. An so etwas könnte ich mich gewöhnen. Kein Handy und kein Internet. Ja wirklich. Nur Wind und Sonne und Regen und Kälte, im besten Fall frische Luft. Ja, daran könnte ich mich gewöhnen. Ein Lama müßte man sein. Die wissen, wen sie anspucken dürfen. Ziemlich robuste Tiere, irgendwie stolz mit ihren hoch aufgerichteten Hälsen und diesem arroganten, taxierenden Blick. Die Lamas wissen, wo Handlungsbedarf besteht. Dann spucken sie oder rennen einen ohne Zaudern in ansatzlosem Sprunggalopp um, einen arroganten Gringo, der meint, ihm gehörte die Welt und alle müßten vor ihm kreuzbuckeln, sobald er die Szene betritt, oder Platz machen. Vor allem aber muß man vor dem Gringo einbekennen, daß er immer recht hat, egal was er ausspuckt. Denzel Washington, der Gottesfürchtige, ein echter Gringo, wenn auch ein Schwarzer, spielt, wie allseits bekannt, auch Profikiller und Schießeifrige. Er prägt im Kino coole Sätze wie: „Das einzige, was ich bedauere, ist die Tatsache, daß ich euch in meiner Rache nur ein Mal umbringen kann.“ Solche Sätze stehen im Drehbuch. Eine karrieregeile Person hat sie erfunden. Und Denzel Washington spricht sie nach, mit allem drum und dran. Von den Q’eros höre ich solches nie und niemals. Sie denken nicht einmal an Mord. Das ist schwerstes Sakrileg für sie. Sie würden es sich mit dem Großen Geist ein für alle Mal verscherzen. Sie denken nicht einmal daran. Das ist der springende Punkt. Sie denken nicht einmal daran! Andererseits: wer könnte denn mit Autorität sagen, was in einem Indio wirklich vorgeht? Nun, was wir zumindest extrahieren können, ein paar Dinge gehen in ihnen nicht vor. Das ist mal sicher. Bei den Hochlandindios habe ich nie Homosexuelle angetroffen, erst recht nicht solche gleichgeschlechtlichen Paare, die ein fremdes Kind gebären oder großziehen wollen. Sie haben auch noch nie von solcher Ungheuerlichkeit gehört. Sie, d.h. die Frauen, treiben auch nicht ab. Ebenso ein Tabu. Die Q’eros bestaunen mich, den ungehemmt Brabbelnden, mit unverhohlener Vorsicht mitten in einer speziellen Nachtzeremonie mit unbekannter Medizin. Als sie die Kerzen wieder anzünden, kommt einer dahergekrabbelt und setzt sich vor mir im Schneidersitz hin. „Bruder“, sagt er, „du hast es ja selbst bemerkt, du hattest vorhin massive Probleme, aber wir haben das bereinigen können. Ich rate dir, bleib noch zwei Monate hier und unterziehe dich für weitere Reinigung und Heilung einer strengen Diät.“ Und ich? Na klar, ich Schwerarbeiter, der gerade vor Grönland wie eine junge Robbe vor einer mordlüsternen Horde von bei ihrem Mordwerk choreographisch vorgehenden Orcas auf seiner kleinen Eisscholle vergeblich um sein Leben gekämpft hat, bin um eine Antwort nicht verlegen und schmiere ihm meine Riposte keck um die Ohren. „Bruder“, sage ich aus dem Schneidersitz, „als erstes stellen wir uns einmal vor. Ich bin Zwerg Hotzenplotz aus Wernickerrode, Alemania, und damit alles paßt, reiche ich dir hier meine Hand zum Gruß. Und du wirst mir jetzt nicht sagen, die Q’eros reichen den Gringos prinzipiell nicht die Hand, erst recht nicht solchen Zeitgenossen, die im Verdacht der atomaren Verstrahlung stehen. Sofern du überhaupt weißt, was das ist. Stichwort Tsar-Bombe. Und, Bruder, ich möchte nicht unhöflich sein, aber bitte sag mir: was willst du von mir?“ Und der gute Indio-Curandero kaut kurz auf seinem Indio-Kaugummi, und dann kaut er nochmal, und es tut mir schon wieder leid um meine Vorlautheit, aber ich kann halt nun mal nicht meine Schnauze halten, wenn mich jemand fragt, ob ich an Gott oder seinen eingeborenen Sohn glaube, der für uns Menschen auf dieser Erde gestorben ist. Auf dieser Erde. Vor 2.000 Jahren. Damals hat man noch nicht (noch nicht!) Menschen lebendig auf Scheiterhaufen verbrannt, Männer wie Frauen. Oder sie gehäutet oder aufgespießt oder in brutzelndes Öl geworfen. Oder im noch heute real existierenden Kolosseum zu Rom den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Wenn mir einer mit Gott kommt, erst recht dem indianischen, dem Trommlergott, da kann ich nur immer wieder ausrufen: „Oh weh, oh weh, oh weh! Bitte verschone mich damit, Schwester/Bruder Obergescheit!“ Doch eine Stunde später liege ich, fort von der hochnotpeinlichen Befragungskammer, nun doch in meiner Koje, bei den Vicuñas, in deren Stall. Das ist ja unvermeidbar. Ich ein Untermieter, ein freiwilliger noch dazu. Ich bin vom Geschehen vorhin noch dermaßen aufgeregt, daß ich ganz auf die Kälte vergesse. Der einzige Gedanke, der mich umtreibt: Wann werde ich urinieren müssen? Sie haben mir einen Nachttopf hergestellt, grinsend. „In der Nacht hinauszutreten ist zu viel Mühe, Sohn. Wir machen es ja auch im Topf. In der Nacht.“ Und da grinste sie wirklich schelmisch, die Alte, die mich einwies, und meine einzige Reaktion, neben Dank und servilem Nicken, war ein Gedanke, wieviel Trinkgeld ich ihr dafür geben sollte. Und das führte natürlich sofort zu ausgiebiger monastischer Querelei, was einem Indio Geld bedeuten mag, grade hier heroben, und ob es hier heroben Diebstahl gäbe. Die Alte, wie ich meinte, las meine Gedanken, doch ließ es sich nicht anmerken. Statt dessen entrang sich meinem Hals eine vollkommen unkontrollierte Frage: „Mütterchen, wovon lebt ihr hier heroben?“ Sie fühlte sich deswegen nicht angegriffen.  I wo. Sie schmunzelte leicht und mit einem Ansatz von Hintergrundblick. Da wußte ich, wie es um sie stand. Sie wußte mehr als ich. Ich brauche mir nichts einzubilden. Sie ist älter als ich. Sie lebt in einer völlig anderen Welt. „Wovon wir hier heroben leben?“, echote sie nach. „Von Luft und Gras und Wind und Heu, und von ein bißchen Milch, und um das Wasser nicht zu vergessen. Und von Kräutern. Und von dem, was uns INTI lehrt.“ Und damit verschlug es mir zielgerecht die Sprache. Demütig. Es war unzweideutig, was hier soeben gänzlich unprätentiös, wie nebenbei, wie ein Anflug von engelsgleichem Humor, zu meinem Wohle lehrreich geäußert worden war. Also: In der Schlafkoje bleiben und nicht mit den vegetativen Notwendigkeiten hadern. Und so, mit dem Fortgang der Stunden, immer noch wach, an Schlaf war wieder einmal nicht zu denken, wurde es mit einem Mal still und friedlich. Und da stieg allmählich Mut in mir auf. Sieh nur! Mut! Was bedeutet es, heute auf dem indischen Subkontinent zu leben? In New Delhi. Neben Bejing eine der verschmutztesten Hauptstädte dieses Globus. Was bedeutet es, mit 1,4 Milliarden Menschen auf beschränktem Raum mit noch beschränkteren Ressourcen zusammengepfercht zu leben? Dem Mutterland des Schachs, mehrerer Hochreligionen, Heimat des Dalai Lama und mit ihm unzähliger Heiliger noch. Was bedeutet das alles? Und da dämmerte es mir. Da dämmerte mir die Ernsthaftigkeit. Und ich wünschte mir, sie solle nicht mehr vergehen.

  3. Was bin ich denn, wenn nicht ein Nichts?

    So formulierte es zuletzt mein Motorsägenmann Don Segundo (65), der Vater unseres Haustaxlers Ángel Ahuanari Vela, beim Abendessen um Vier in Otorongo. Wir saßen privat beisammen, gewaschen und mit sauberen Händen. Ein Einheimischengerede ohne Zeugen und noch nicht einmal mit Mapachos. Es war noch am Langtisch in der Küche. Marcelo erzählte von den Umtrieben der kolumbianischen Kokainmafia auf der benachbarten Kakaoplantage. Er hatte Insiderwissen, Details, soviel war unzweifelbar. Niemanden wunderte es. Marcelo war früher unser Nummer Zwei Dschungeltrapper. Er ging damals, vor mehr als 20 Jahren, bis 40 Kilometer nach Südosten, also schon nahe an der Grenze zu Brasilien. Als mehr oder minder furchtloser Jäger. Ein Machetenspezialist, der 3-Meter-Shushupis mit dem eigenhändig geschnitzten und vom Holz des Eisenbaums geschliffenen Messer erledigte, im furchtlosen, eigentlich haarsträubenden Nahkampf. Auf seinen Streifzügen im unbegangenen Terrain entdeckt er also unerwartete Halmzeichen. Umgeknicktes Grün. Er weiß Bescheid. Ein paar Minuten später taucht aus dem Nichts ein bärtiger Herr auf, eine High-Tech-Waffe am Riemen geschultert. „Compadre“, sagt der Kolumbianer höflich, „du machst hier bitte wieder kehrt. Wir haben hier zu tun. Und bitte informiere deine Kollegen, sollten sie auf die Idee kommen, selber hier nachzuschauen, wir schätzen Besuch nicht sosehr.“ Marcelo macht also kehrt und sagt sich, das ist nett, die Kollegen aus Kolumbien schützen meinen Urwald, keine Wilderer und keine Baumschläger. Sollen sie mit ihrem Geschäft weitermachen. Solche Geschichten und noch ein paar andere, sensiblere, die wir an dieser Stelle besser nicht plakatieren wollen, hat Marcelo auf Lager. Er kennt die Schattenwirtschaft dieses Staates und sogar den einen oder anderen ihrer lokalen Protagonisten, und läßt sich ob dieses Wissens nicht den verdienten Schlaf rauben. Jeder muß schließlich von was leben. Ja, leider. Schon vom Rabenstiefvater verstoßene Buben von 10 Jahren können davon ein hartgesottenes, brutalisiertes Lied singen. Aber man könnte es auch anders versuchen, mit Lichtnahrung zum Beispiel. Das funktioniert wirklich. Aber natürlich nicht bei Peruanern. Die brauchen ihre Grundnahrungsmittel, Pollo, Pescado, Platanos und Reis, je mehr, umso  besser. Dann werden sie vereinzelt füllig wie die Hippos im Rio Magdalena, für Pablo Escobar aus Afrika im Jahre Schnee importiert und mittlerweile bereits stattlich vermehrt. Das sind also die gewissen Stromverläufe der Anarchie, der realen, die mit Gewalt schnell Hand in Hand gehen könnte, wenn man sich die falschen Freunde aussucht.

    Derlei Sorgen hat Don Segundo nicht. Er braucht Arbeit, denn niemand sonst sorgte für ihn. Ein hartgeprüfter Motorsägenmann sein Leben lang, ohne Unfälle und sonstige gröbere Vorkommnisse. Ein völlig einfacher, armer Mensch, der mit einem täglichen Minimum auszukommen gelernt hat. Er hat keine Kinder mehr, für die er sorgen müßte, nur eine Frau, eine ihm treue, die irgendwo, irgendwie arbeitet. Sicher haben sie ein eigenes Haus, ein Hütte wahrscheinlich, eine Hütte mit Lehmboden, und ein einfaches Bett. Nichts, was es zu stehlen gälte oder es wert wäre. Alle Dokumente halb zerfleddert, wenn sie überhaupt noch irgendwo im lichtlosen Pilzstaub in einem Kastenfach, in einen orangenen Umschlag eingepackt, existieren. Und wenn schon! Segundo hat im Prinzip alles gesehen, und er weiß auch, was er nicht sehen oder gar wissen will. Er kennt die Menschen, er kennt das Funktionieren dieser Gesellschaft, sein Dorf. In der Hauptstadt hat er nichts verloren, er meidet sie auch nach Kräften. Segundo kennt den Wald. Er kennt die wenigen vertrauenswürdigen Landsleute. Das Arbeiten in Otorongo ist ihm ein Fest. Er genießt das Essen, das Trinken, die Mapachos, den Kaffee am Abend, das persönliche Bett. Ein Schwerarbeiter, der aus vollen Zügen schnarcht. In Gemeinschaft mit den Arbeitern, die ihm zuweilen zur Hand gehen und den abgekanteten, nackten Baumblock mit der Farbschnur schnalzen, sodaß er für die Ein- oder Eineinhalbzoll-Bretter schnurgerade drübergehen kann. Die gewichtige Säge hängt in einem Gestell an seinen Schultern. So arbeitet er unverdrossen im Schweiße seines Angesichtes, solange das Licht reicht. Der in die Jahre Gekommene geht täglich ans Limit. Die Tarife für den Schnittmeter der Latten und Traversen verhandelt er mit mir fair, niemals auf Biegen und Brechen. Und so öffnet sich der gute Haudegen, dem das Herz am rechten Fleck klopft, zum passenden Moment, wo lateinamerikanische Sentimentalität zart anklopft und Männer zu schlucken beginnen, um, selten genug, von der Mutter und dem Sterben des Vaters zu erzählen. „Ja, die Zeit. Dieses Dorf. Die Leute. Wer will die Zeit fassen? Was will ich? Nur eins ist klar, und eins weiß ich: der Mensch ist gar nichts! Ich bin gar nichts und wir alle sind gar nichts! Bald bin ich fort, verschwunden und niemand wird sich an mich erinnern. Nicht einmal in der Erde würden sie mich noch finden. Nicht hier in dieser Erde. Wenn ich nicht im Fluß lande. Aber wenigstens habe ich mir mein Gewissen bewahrt.“ Und damit verschluckt er sich wieder, der gute Segundo, denn er weiß, es gab und gibt weiters nichts mehr zu sagen. Sagen wir Dank für diese Runde, wo wir hier und jetzt beisammen sitzen. So kommen wir nicht mehr zusammen. Die feuchten Augen gehören zur zaghaften Freundschaft, die, wir wissen es ja zur Genüge, nur allzu leicht zerbrechen kann.

    Tenzin Gyatso, der gegenwärtige 14. Dalai Lama (2012)

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