Mein leidender Freund
Vasyl Ivanchuk, den ukrainischen Schachgroßmeister, als Freund zu bezeichnen, ist wohl eine unerlaubte Vereinnahmung dieses Mannes. Doch ich leide mit ihm, beinahe jeden Tag, erst recht, wenn ich weiß, er spielt ein Turnier. Ich rechne ständig mit seinem Zusammenbruch. Er läßt mich an jemanden denken, der fähig ist, die Spielregeln mit seinem Nervenzusammenbruch, ja seinem Tod außer Kraft zu setzen, und das alles öffentlich, nur allzu öffentlich, mitten in einem besetzten, erlauchten Spielsaal, vielleicht gar einem Schauspielhaus, so wie in Dortmund, oder in einer Kunstgallerie in St.Petersburg.
Ich hatte einmal einen Nachbarn, sein Name war Walter Wiesinger. Er war Eisenbahner. Ein einfacher Mann, ein einfach Lebender. In seiner Freizeit spielte er Tischtennis im Club und ebenso Schach im Club. Er hatte einen Buckel, einen symbolischen, den er sich angeeignet hatte im Marsch durch das Leben, so wie der Huayra Caspi, der Windbaum, der nie gefällt wird vom wie eine Pferdehorde herangaloppierenden Ostwind, weil er sein Haupt in den Sturm neigt. Walter Wiesinger rauchte „Austria 3“ und dann „Smart Export“, die Arbeitermarke, die Marke der Paraverer, wie wir hiezulande im vorigen Jahrhundert sagten. Das ist Geschichte und wird immer Geschichte bleiben.
Walter hatte eine Wertungszahl von Elo 1800, das ist gute Clubstärke. Er war Bundesbahner, Mechaniker, er reparierte und putzte Brenn- und Dampfkessel. Er hatte Verstand, schnellen Verstand. Er war durch und durch Praktiker. Er wußte, wo eine Lücke klaffte, im Verhalten seines Gegenübers, in dessen Spiel, in dessen Argumentation. Walter Wiesinger war sturmgeprüft. Er war bereits in Pension, als ihn die Krankheit überfiel. Ich war dabei. Er kollabierte am Brett. Alle gafften begriffsstutzig und betreten, denn er schien die Zugregeln nicht mehr zu kennen. Er verlor eine Figur und gab die Partie standrechtlich verloren. Seine Gattin nahm ihn fort und ließ ihn nie mehr spielen. Er verwandelte sich in einen Engel. Er wußte nicht mehr seinen Namen. Er strahlte blendend, als ich ihn zum letzten Mal sah, an der Hand seiner Frau, am Eingang der Westbahnunterführung. Ich blickte seine Frau betreten an, die Augen geblendet. Ein Engel auf Erden. Sie grüßte mich nur, „Hallo Wolfgang. Hier sind wir!“ Das war das letzte Mal. Er blieb rüstig bis zuletzt. Sein Fortgehen war wie das Entschlafen im Schlaf. Seine Frau verkaufte das Haus und zog in eine Nachbarsiedlung, in eine einfache Wohnung. Walter Wiesinger geht mir nicht aus dem Kopf.
Vassily Ivanchuk kennen die Leser bereits. Er ist ein Revolutionär. Er will die Regeln außer Kraft setzen, und das öffentlich. Ein öffentlicher Revolutionär, einer, der einen Skandal öffentlich lostritt. Er weiß, das Schach ist am Ende, mehr noch als alles Andere. Das weiß er und bekundet es allen Anderen, die vom Schach nach wie vor zu leben versuchen. Vom Geld russischer Mafiosi zu leben versuchen. Die Mafia vereinnahmt das königliche Spiel, das Spiel des menschlichen Geistes, der längst der Maschine unterlegen ist. Es ist mittlerweile wie der Kampf gegen einen Kampfroboter. Es ist hoffnungslose Menschenschlachtung. Die Kampfroboter sind bekannt, sie haben Namen: Shredder, Houdini, Stockfish, Fritz, Hiarcs, Hydra usw. Und die Menschen haben nichts Besseres im Sinne als sich immer noch zu duellieren, sich Gefechte der Nerven zu liefern. Die blutige Materialschlacht der menschlichen Nerven, bis einer unter dem Druck, der Bösartigkeit seines Gegners zusammenbricht. Das Schicksal von Kampfhähnen. Im Schach sind viele Spitzenspieler, ja sogar Weltmeister nervenkrank geworden: Paul Morphy, Wilhelm Steinitz, Tony Miles, Robert James Fischer. Paul Morphy entglitt in Melancholie und erging sich in seinen Spaziergängen im Philadelphia des frühen 19.Jahrhunderts im Aufklauben aller seine Neugierde erweckenden Gegenstände, die er vor seinen Füssen fand. Wilhelm Steinitz fühlte sich allwissend und wollte Gott herausfordern. Er spuckte seine Pfleger in der Klinik an. Bobby Fischer leugnete den Holocaust und war nach dem Gewinn des Titel in Reykjavik ab 1972 ständig auf der Flucht, vor dem FBI. Und er starb schlußendlich auf Island, wo er Asyl gefunden hatte.
Vassily Ivanchuk ist ein Genie. Er lebt in einer Welt des Schachs. Er träumt von ihm. Er spielt die Partien blind. Wenn er seinen Kopf in beide Hände gräbt, woran denkt er wohl? Er will die Regeln außer Kraft setzen. Das Spiel ist ihm längst ans Ende gekommen. Doch er hat Familie. Er liebt seinen Sohn. Mit Frauen tut er sich schwer. Das ist nicht verwunderlich, denn wenn man jemanden als weltfremd bezeichen könnte, dann unseren Freund aus Lvov. Doch es ist nicht Weltfremdheit. Er weiß einfach zuviel. Das macht ihn exzentrisch, schlimmer noch als den Entdecker der Relativitätstheorien. Ich muß aufpassen, daß er nicht zu rasen beginnt nach einer Niederlage. Letztens, in London, beim Turnier zur Bestimmung des Herausforderes des Weltmeisters, verlor er fünf Partien durch Zeitüberschreitung. Er ließ die Bedenkzeit einfach verstreichen, so als gälte Zeit für ihn nicht mehr. Vier Partien gewann er, unter anderem gegen den Norweger Magnus Carlsen, die deutliche Nummer 1 der Weltrangliste, und gegen den Exweltmeister Kramnik. Jetzt, in Thessaloniki, zeigt er seinen Widerwillen noch deutlicher.
Dieser Widerwille, der in ihm durchbricht, berührt mich zutiefst.
Sie nennen ihn „Chucky“, den Außerirdischen. Er käme von einem anderen Planeten, sagt Weltmeister Viswanathan Anand. Exweltmeister Kasparow nennt ihn den zu allem Fähigen. Oft genug spielte er gegen Ivanchuk und quittierte auch Niederlagen. „Doch es gibt Tage, da begeht er Kopfnüsse, wie sie kein anderer begehen kann“, meint Kasparow. Wie denn nicht, muß ich fragen. Ein Mann, dem Geld nichts bedeutet. Einer, dessen Manager ihm erklären muß, daß es in zwei Monaten ein Grand Slam Finale mit ihm geben werde. „Da werde ich mich also noch vorbereiten müssen“, bekennt Ivanchuk ganz undiskret in der Pressekonferenz.
Aber worauf sich Vassily Ivanchuk wirklich vorbereitet, will ich nicht aussprechen. Es wird mir Angst und Bang. Ich weiß, hier wandelt Nitroglycerin auf Gottes Erdboden herum. Dieser Mann sprengt die 64 Felder, und dann hat es mit dem königlichen Spiel ein Ende, so wie es mit allem irgendwann einmal ein Ende hat. Oh Gott.
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Und was ist Leiden?
Ja, und was ist Leiden? Und wer von uns leidet nicht? Das denke ich mir bisweilen, nächtens, wenn eine Ahnung aufsteigt, jetzt, in diesem Moment, leben 7 Milliarden Menschen mit dir, atmen, schlafen, kämpfen, vegetieren, verzweifeln, lassen sich vom Hochmut verblenden. Und ein nicht endender Strom von Leuchtpunkten, der in die Dunkelheit aufsteigt.
Für manche sind die Rahmenbedingungen, in denen wir uns bewegen, ganz und gar nicht bedenklich. Sie machen. Sie ziehen Operationspläne durch, Mordpläne, Invasionspläne. Sie sprengen Gebäude, auf Bruchteile von Sekunden abgestimmt. Sie schicken Drohnen ab, punktgenau programmiert. Wer noch nahe des ominösen Punktes, an dem das vorgesehene Opfer steht und stirbt, ja aufgelöst wird von militärischem Sprengstoff, der nebenbei Stehende, die wenigen, die vielen, das interessiert nicht. En Reporter vielleicht oder halt nur ein verirrter Tourist. Überall schlagen Raketen ein. Zehntausende werden zerrissen, zerrissen. Und das Morden, das Bekriegen, hört nie auf, es gehört zum Geschäft, das ist normales Geschäft, sagen sie, Außenpolitik, die Wahrnehmung unser außenpolitischen Interessen, und für manche heißt das halt einfach geopolitischer Interessen. Und hinter der Technik stehen Techniker, Naturwissenschafter, als solche verstehen sie sich, die, die die Natur umbiegen, denn es ist möglich. Sie arbeiten "in explosives or in chemistry or biotechnology". Was möglich ist, wird getan. Moral, dieses Wort existiert nicht, es ist ein Kündigungsgrund. "Ich kann das aus moralischen Erwägungen nicht machen", sagt einer. "Können Sie wirklich nicht?", fragt der Abteilungsleiter. Und der Moralapostel darf sich die Frage stellen, ob sie ihm nach der Kündigung Killer an den Hals hetzen.
Was ist Leiden, fragen die Warchowsky-Brüder in ihrem letzten Film "Cloud Atlas". Seoul 2144. Ein überlegenswertes Szenarium. Das Jahr 2144 wird kommen, mit oder ohne uns. Sie halten sich Sklaven, geklonte Mädchen, die der perversen Klientel servieren dürfen und die selbst in einer sterilen Schlafbox hausen. Was die armen Kreaturen, einer Zuchtbox entsprungen, nicht wissen, sie ernähren sich von ihresgleichen. Der Brei, den sie gehorsam mit dem Strohhalm aufsaugen, stammt von ihren Vorgängerinnen, die zeitgerecht entsorgt wurden, "ins Paradies gehen durften", wie ihnen eingesagt wird.
Die Schmerzen eines geklonten Wesens sind unerheblich, sagen die Ideologen, denn es hat keine Seele.
Die Schmerzen der Menschen sind Nervenimpulse, nichts weiter, oder biologische Fehlfunktionen. Wir werden das biochemisch oder operativ beheben. Die Ideologen der Medizin, Wasserträger politischer Forderungen.
Wir erwarten den Moment, wo wir Organspenderzuchtwesen in Käfigen halten können, propagiert ein Sprecher in einer BBC-Dokumentation, und der Dalai Lama, der diese Dokumentation zufällig sieht, fällt in Ohnmacht. Derweilen weiden die Chinesen alle ihre hingerichteten Delinquenten aus, Männer wie Frauen, kein Unterschied. Und ethnische Minoritäten, die einfach so wie Läuse ausgetilgt werden.
Diesen Schrei der Verzweiflung, den will niemand hören, doch wir, wir hören ihn. Ich weiß es. Und ich danke Ihnen allen von Herzen, werte Leserinnen und Leser, daß Sie wahre Menschlichkeit beweisen. Möge Gott Sie weiterhin beschützen!
Wir Sklaven
Die vergangenen Nächte waren nicht besonders. Zuviele Albträume. Wenn einem die politischen Verhältnisse den Schlaf rauben, dann muß man zurückschreiben, wenn einem schon das Zurückreden verwehrt bleibt.
Ich muß mal wieder Luft ablassen. Ich denke, die geschätzten Leserinnen und Leser werden mitziehen, sehr zum Unbehagen der automatischen Auswertungsraster der NSA in Maryland. Wir werden in eine Phase eintreten, wo Pallas Athene – immerhin eine Göttin – mit verbundenen Augen die Waagschale hochheben wird. Und dann werden wir sehen, was Wahrheit ist und wozu sie das Schwert in ihrer Rechten hält. Der Schwertstreich der göttlichen Gerechtigkeit. Klingt das nicht anstößig? Ist das nicht eines jungen Mannes würdig, eines 29-jährigen Familienvaters, der sagte, in so einem Land (er meinte damit natürlich die USA) wolle er nicht leben? In einem Land, das weltweit alle Kommunikationen absaugt und rastert, und mit ihm die braven unbescholtenen Engländer, die ja so vorbildhafte Europäer abgeben. Die braven europareifen Engländer, die ja keinerlei Sonderlösungen fordern und in allem mit uns leidgeprüften Sockeleuropäern mitziehen. In ein paar Jahren werden sie sogar wieder rechts fahren und auf der linken Seite sitzen, und Gott möge ihnen Vernunft geben und sie sollten nicht mehr einen Atomkrieg mit den Gaucho-Argentiniern wegen der Schafsinsel namens Falkland anzetteln. Gott behüte und der kommende englische Premier wird dem Nachfolger von Barack Obama – vielleicht dessen Gattin Michelle, die sich, gerechtfertigterweise, ein Vorbild an den Kirchners nimmt – in Bälde ein Fax schicken, "Frau Obama, Kommando zurück, Action Clean Sweep ist zu aufwendig, zuviel Treibgut, das wir da in unseren Netzen auffangen, unsere Minister und Militärs haben sich bereits beschwert, zuviel private Sorgen, die da hochgespült werden, zuviele Familiennettigkeiten."
Der Überwachungsstaat von Gnaden der NSA möchte also alsbald Realität werden, und dann dürfen wir uns seriöser- und realistischerweise fragen, wer bitte überwacht die NSA? Wer überwacht den Präsidenten und Friedensnobelpreisträger, der seine Drohnen im Dutzend auf die Reise schicken darf? Mordwaffen, denen hunderte (bleiben wir bescheiden) Unschuldige zum Opfer fallen. Wie nennt das der amerikanische Präsident vor seinem Gewissen? Staatsraison? "Herr Obama, das Gewissen kommt von Gott so wie das Leben selbst! Bedenken Sie bitte, was Sie da tun! Bedenken Sie die Gedanken Ihrer Gattin an jenen Dienstagen, an denen Sie grünes Licht geben für eine Tötungsaktion. Wohin, bitte, soll das führen? Herr Präsident, sich so Dienstagabends ins Bett zu ihrer Ehefrau zu legen, ist nicht gesund, und auch nicht gesund für Ihre Töchter. Psychohygienisch, Herr Obama, Sie ehemaliger Hoffnungsträger der schwarzen Bevölkerung Ihres Landes. Der Armen und Entrechteten!"
Derweilen öffnet, wie ein Poster des Standard es formuliert, "die Hölle ihre Tore", denn nach einem neuerlichen Jahrhunderthochwasser (nach jenem von 2002, weitere werden folgen) schwappte eine Hitzewelle mit Höchstwerten von 38,6° über unser geliebtes Vaterland, und der Boulevard, der berufsgemäß alles verharmlosen oder aufputschen darf, durfte diesmal verharmlosen: "Nettes Badewetter im Juni. Die Bäder und die Eisindustrie wird es freuen." Und dagegen ist wohl kein Kraut gewachsen, das sagen auch jene, die sich auf ehrliches, vernünftiges Denken verstehen und dem berufsmäßigen Lügen nicht verfallen sind. Und dazu gehört gottseidank unser emeritierter Pofessor aus Cambridge, der allseits bekannte Rollstuhlfahrer. "Wenn die Menschheit es nicht in den nächsten 100 Jahren schaft, von unserem Planeten fortzuziehen, sehe ich schwarz für den Fortbestand der Menschheit." Denn der Klimazug ist bereits abgefahren, und niemals, aber auch wirklich niemals hat auch nur irgend jemand daran gedacht, diesen Zug, diesen weltbeherrschenden Zug der Mobilität, des Fortschritts, auch nur einen Schritt zu verlangsamen. Dazu sind China und Indien außen vor.
Ja, wohin soll das alles führen? Die Antwort möchte wie immer unser gepriesenes, hellsichtiges, hellfühliges Hollywood geben, unsere Traumfabrik. Der letzte Geniestreich lautet "World War Z". "Z" steht für "Zombie". Aha, von daher weht der Wind! Ja, und wer ist der Protagonist dieses Meisterstreiches? Diesmal, lieber Herr Boßniegel, ist es nicht Will Smith ("I am legend"), nein, diesmal ist es unser geschätzter Brad Pitt, jener Herr, an den wir gerne denken, nicht nur wegen Angelina Jolie und auch nicht wegen "Oceans 11, 12 und 13" und auch nicht wegen des "Baums des Lebens", und auch nicht, weil er bereits einmal den jugendlichen Tod mimte, an der Seite des väterlichen Anthony Hopkins. Nein, wir denken an ihn, weil er die Ehre hatte, unserem Mister President bereits einmal ein Filmstatement über den Zustand der USA zu liefern. Ich setze große Hoffnungen in Brad Pitt für eine Verfilmung von 9-11, sozusagen aus der unverfälschten Optik der Engelschöre heraus.
Ja, die Engelschöre. Doch soweit läßt es Hollywood nicht kommen, das wäre Publikumsbeschimpfung und ließe die Kassen leer, nein, wenn wir mit den Verbrechen der Staatenlenker ein Problem haben und uns in Magen und Gedärm unwohl fühlen, dann kanalisieren wir das am besten über die Zombies. Daß wir damit erst recht einen Offenbarungseid leisten, fällt heutzutage ja sowieso keinem mehr auf. Ho ho, die Zombies. George A.Romero aus dem Jahre 1978 ist da längst vergessen. "Weltkrieg der Zombies". Wie bezeichnend. Das schlechte Gewissen regt sich. Doch leider, Mister President und Konsorten (Entschuldigung!) werden sich dieses Machwerk nicht zu Gemüte führen, weder hüben noch drüben. Die Auferstehung der Toten. Der hungernden Toten. Darüber könnte mein jugendlicher Freund aus Dresden einen Roman schreiben. Die Auferstehung der hungergepeinigten Toten. Das Heer der 23 Milliarden Toten, wie Agustín sagt. Sehr eindrucksvoll. Der Himmel kann warten, Mister Warren Beatty, wenn es einen solchen überhaupt gibt. Nein, sagt die Politik der USA, Gott gibt es nicht, nur unsere Macht, den grünen Zaster, der auf dem goldenen Metall basieren darf, aber was ist gelbes Metall, wenn es nicht gestützt wird durch Waffenmacht? (Hat hier jemand vor dem Brandenburger Tor eine Rede über den Abbau von Atomsprengköpfen gehalten? Nie und nimmer werden sie sich dazu aufraffen können! Keiner und keine!) Waffenmacht. Wie tröstlich. Die Zukunft gehört der Waffe. Verstehen Sie, Frau Stephanie, wir brauchen die Waffen, um die Zombies zu Spinat zu zerschießen. Sie wollen doch wohl nicht bei lebendigem Leib von diesen Monstern aufgefressen werden, oder?
Das ist also die projizierte Angst: Die Toten erwachen zum Leben, zum eigentlichen Leben. Dem des Fressens, dem des offenen Hungers, der offenen Gier. Nach dem Leben, als Untote. Das Leben ward zur Genüge genossen, jetzt zeigen sie offen ihr Gesicht, und sei es um den Preis eines Namens, einer Identität. Der Zombie hat keinen Namen mehr. Er ist ein Unmensch. Aber er war einmal Mensch. Was, zum Teufel, triebt ihn aus dem Grab? Ja, das ist eine metaphysische Frage. So etwas übersteigt den Denkhorizont Hollywoods. Rache darf es nicht sein, da ist offizielle Politik außen vor. Und göttliches Einschreiten schon gar nicht. Eher doch wohl FEHLPROGRAMMIERUNG. Ja, Fehlprogrammierung. Die Toten wollen nicht tot bleiben, also müssen wir nachhelfen. Freibrief zum Enten- und Truthahnschießen. Wir begegnen deren Freßsucht mit notgedrungenem Einschreiten des Militärs. Das ist der Rechtfertigungsgrund: Untermenschen.
Ja, Untermenschen tummeln sich zuhauf, nicht nur vor der gigantischen Mauer vor Jerusalem. Wir alle haben den Status von Untermenschen. Unsere Existenz ist vituell. Sie kann jedezeit auf Knopfdruck ausgelöscht werden. Die NSA führt uns vor. Doch nicht nur NSA, denn das ist ein Verein von sogenannten Staatsschützern, also von Leuten, die uns schützen sollen. Wollen sie uns schützen? Wovor? Könnte uns das einmal jemand erklären?
Ich sehe doch nur eins: Lausiges Treiben. Entsetzliche, hysterische Betriebsamkeit. Die Räder rollen, ohne Unterlaß. Der Strom fließt, ohne Unterlaß. Dieser beängstigende Hunger nach Energie, schrieb vor nicht langer Zeit Konrad Paul Liessmann, ein Wiener Philosoph. Ja, am liebsten den Planeten bei Nacht taghell erleuchten. Nur ja keine Dunkelheit. Dunkelheit ist verboten, sogar den Fledermäusen und ihren Batmännern. Was im Hintergrund abläuft, das geht das Volk nichts an. Die milliardenschweren Konzerneigner, die milliardenschweren Investoren, sie denken in anderen Kategorien, und die Regierungen ziehen mit. Der Fortschritt. Das Wachstum. Die Umverteilung. Der Einzelne, der Name, die Würde des Menschen, all das ist vernachlässigbar. Die Wissenschaft exerziert es vor. Was zählt, das ist die Statistik, die Masse, nicht, aber schon gar nicht, der Einzelne. Der Einzelne, der couragiert fragt, er muß damit rechnen, daß der Statistiker den Saal verläßt, denn der Statistiker möchte keine Fragen nach Sinnhaftigkeit des vorgeschriebenen Lernensollens. Er möchte keine Frage nach Werten. Er möchte Wissen pauken, aber nicht Grundfragen darstellen. Ja, Fragen wird obsolet. Fragen sind ein Verbrechen. Fragen nach Konzernstrategien sind verboten. Fragen nach den großen Zahlen sind verboten. Fragen nch der Zukunft. Was in den Augen dieser sogenannten Falsifizierer zählt, das ist die eigene Pragmatisierung, der Sicherheitsgurt, mit dem sie in die Pension fahren. Alles Andere interessiert sie nicht. Das abgesicherte Vermögen, das ist ihr Ruhekissen. Der Tod, er kann warten bis 85. Die, die früher sterben, wie dumm von ihnen. Sie haben offensichtlich die Formel nicht gefunden.
Ja, so entmündigen sie uns. Was haben wir zu reden? Morgen sind wir unseren Job los, im Baugewerbe, in der Reifenindustrie, in der Solaranlagenindustrie, überall. Die Amerikaner spielen mit Bauklötzen. Ein paar supercoole Politiker denken sich, "das Casino hat seinen Reiz, und außerdem muß ich meine Klientel bedienen, die subventionierten Bauern, die Beamten, die Bundesbahner und erst recht die Pensionisten. Pensionist sein, das ist ein zukunftsträchtiger Markt, also bitte, Rentenversprechen einlösen, mit dem Geld von Wallstreet." So geschehen in Salzburg. Nachzahlverpflichtungen bis 2023. Schiefgegangene Veranlagung von Steuergeldern. Ach, was sind denn Steuergelder?
Das Maß kennt keine Grenze mehr. Wir schichten um, Herrschaften, nach China und Indien. Kinder- und Sklavenarbeit macht sich allemal bezahlt. In Ländern der Diktatur und der Todesstrafe läßt es sich besser wirtschaften, verehrte Anleger. Kein gewerkschaftliches Unbill, keine überteuerten Lohnkosten. Niemand, der uns dazwischenfunkt, schon gar nicht die Grünen.
Der Glaube an das Gute, dieser humanistische europäische Glaube? Daß ich nicht lache! Das Gute, das ist nur das, was meinen Interessen dient. Langfristigkeit? Illusion!
Ja, so sprechen, so denken die Verblendeten, jene, die meinen, die Welt gehöre ihnen. Die, die meinen, alles sei erlaubt. "Was soll der Mensch wissen?" war einmal eine Frage, die ein gewisser Karl Mader 1978 in Wien stellte, ehrlich stellte. Sein nicht nur philosophisches Bedenken blieb unbeantwortet, ja nicht einmal gehört.
Doch das Unbehagen wächst. Der Klimazug ist abgefahren. Und in Brasilien brennt es. Hat jemand von 2014 gesprochen? Fußball-Weltmeisterschaft? Abwarten und Tee trinken. Pep Guardiola bei Bayern München? Abwarten und Tee trinken.
Heute sind wir Sklaven, doch morgen beileibe keine Zombies. Wetten, daß? Morgen, morgen wird ganz anders. Morgen wache ich auf aus meinem 14 Uhr-Schlaf. Ich weiß für eine Sekunde nicht, wo ich bin noch wer ich bin. Eine Sekunde Panik, dann bin ich tot. "Die Frage, wo Du bist noch wer Du bist, läßt sich nicht beantworten, mein Lieber", flüstert mir der Schutzengel zu. "Es läßt sich auch mit der Panik leben. Wirst sehen!"
Der Tag, an dem das Leiden endete
Es gab einen Herrn, er war gelähmt und verkrüppelt. Er fuhr in einem selbstgebastelten Holzkarren, seine Beine immer warm eingewickelt von seiner Betreuerin, einer guten Seele der Kirche. Er selbst wohnte gegenüber dem Pfarrhaus. Er war der einzige Gelähmte des Dorfes. Lang lang ist’s her. Und er lallte. Er war immer schon alt. Er war der "Seppi".
Eines frühen Morgens, es war ein Feiertag und die Strassen menschenleer, fuhr er an mir vorbei, als ich Zeitung holen ging. Er bliebt diesmal stehen und lallte, vielmehr war es ein Ausrufen mt ekstatisch verzerrtem Gesicht. Er wiederholte seinen Satz. Beim zweiten Mal verstand ich ihn: "Boid is‘ aus!"
Da durchfuhr mich ein Schauer und ich strahlte ihm blöde zurück. Ich entsinne mich, ich hatte plötzlich nasse Augen.
Heute Nacht kam er wieder, über eine Hinterstraße, die ich ihn praktisch nie habe befahren gesehen. "Heit steht kaner auf!", rief er im Vorbeifahren. Er hielt nicht an. Und er winkte mit der Linken. Ein fliegender Bote. Er hatte kein verzerrtes Gesicht mehr, keine Schmerzverzerrung. Und er lallte auch nicht mehr, der Seppi, aber er lenkte wie immer mit seinen beiden Ruderhebelstöcken. Ich stand hinter dem Zaun einer Nachbarin aus der Volksschulzeit, eine, mit der ich als Kind Ball gespielt habe, und andere mehr. Es war dieselbe Zeit, heute, doch mit Nebel. Und dann war Seppi verschwunden, verschluckt von der Ewigkeit. Es war Licht, doch die Sonne nicht zu sehen. Und dann geschah es. Der Lauf der Welt wurde außer Kraft gesetzt. Nichts bewegte sich mehr. Ich erstarrte an meinem Fleck, neben dem nach Terpentin riechenden, dunkelbraunschwarz gefärbten Holzzaun meiner Schul- und Kindergartenkollegin Ingrid, die selbst seit Jahrzehnten ihre behinderte Mutter pflegt. und konnte mich nicht mehr rühren. Und zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich klar denken. Und es erschallte ein Engelschor, ein himmlischer, ein ewiger, ein heller Jubelchor, wie ein Flirren in der Luft, Heerscharen, die himmlischen Heerscharen, und es waren ihrer unendlich viele. Sie bewegten sich frei um alles herum. Kein Mensch war fähig sich zu bewegen, doch wir alle, egal, wo wir waren, wir hörten den Chor und sahen sie, wie Gespinste, wie Lichtpartikel. Kein Auto fuhr, doch die Natur lebte. Die Tiere waren frei. Die Vogerl sangen. Doch kein Auto. Auch kein stehendes Auto, den Motor an. Die Welt stand still.
Und ich hatte nur einen Gedanken: "Endlich!" Und dann ein innerer Jubelschrei: "Gott sei Dank!" "Du hast es gesehen, also schreib es auf!", sagte eine Stimme.
Und da kam die blitzartige Erinnerung von gestern Nacht, eines der letzten BBC-Interviews von Ingmar Bergman, aus 2003, in welchem er seiner schwedischen Reporterin eine mittelalterliche Radierung, die er an der Wand seines Hauses auf Farö hängen hatte, zeigt und erklärt, das ist der Prophet Jonas, der im Sturm von der Besatzung seines Schiffes ins Meer geworfen und der dort vom Wal verschluckt wird, als Strafe Gottes, weil er sich dessen Ruf nach Missionierung hartnäckig zu widersetzen versucht hatte. "Rufe den Menschen zu: Kehrt um! Die Zeit ist kurz!" Jonas wollte nicht hören noch gehorchen. Gott mußte ihm eine Lektion erteilen. Der unergründliche Ingmar Bergman, ein Prophet vom Scheitel bis zur Sohle, wußte, was er tat. Und es gibt nur wenige, an denen ich so wie an ihm keinen Zweifel hege. KEINEN ZWEIFEL. Er steht vor dem Angesicht. "Von Angesicht zu Angesicht" hieß eines seiner Meisterwerke, mit Liv Uhlmann, klar.
"Solle sich niemand täuschen", sagte mir vor 20 Jahren ein unvergessener Freund aus Reichenau an der Rax, bei Kaffee und Kuchen im kleinen Café an der Brücke. "Der Jüngste Tag wird kommen. Das Jüngste Gericht. Für jeden und alle." Er mußte es wissen, mein seliger Freund Don Umberto. Ja und Amen.
Mein friedlicher Bruder. Gilberto Campos zum Andenken.
Er war mein Bruder im ideellen Sinn. Wir trafen einander im Dorf. Er war dort einfach zu Besuch, ohne Ziel. Er lief dem Buergermeister ueber den Weg, der lud ihn zusammen mit mir ein auf einen Besuch bei seinem Schwiegervater, der eine nette Landwirtschaft mit einem Fischzuchtteich unterhaelt. Es existieren Fotos von damals, die mir durch und durch fremdartig erscheinen. Zwei Gringos lachen in die Kamera. Gilberto hatte denselben Vornamen wie der Buergermeister. Nennenswerter Unterschied: Er war gebuertiger Mexikaner, der schon seit gut 40 Jahren in den Staaten lebte. Er war US-Buerger.
Wir gingen gemeinsam zu Don Agustin. Dort assen wir zu Mittag. An einer Zeremonie wollte er nicht teilnehmen. Agustin fragte ihn direkt, "Wollen Sie meine Autobiographie ins Spanische uebersetzen?" Gilberto murmelte skeptisch. Er hatte keine Lust. Dann, das war Oktober 2000, reiste er wieder ab, der sympathische, grossgewachsene, gutgepolsterte Amerikaner mit der gutturalen Stimme und dem friedlichen Gesicht.
2002, zu Weihnachten, traf ich ihn in der Pascana wieder. Ich erkannte ihn nicht, und dieser seltsamste aller erinnerbaren Zustaende sollte eine gute Woche andauern. Er fragt mich, "Ich moechte hier in der Gegend ein paar Tage Urlaub machen. Hast du einen Tipp fuer mich, ein ruhiges, idyllisches Dorf?" Ich nahm ihn nach Tamshiyacu mit. Er quartierte sich im "Acosta" ein. Von dort aus machte er sich selbstaendig. Mit keinem Wort erwaehnte er, dass er mich oder das Dorf bereits kannte. Er wolle an ein paar Silvester-Fiestas teilnehmen und mit den Maedchen tanzen, er, der gut situierte, ins Alter Gekommene. Er war geschieden. Wie oft und mit wie vielen Kindern wollte ich ihn nie fragen. Er laeuft meiner juengeren Schwaegerin ueber den Weg, die bringt ihn zu uns. Meine Frau klaert uns auf. "Sagt bloss, ihr erkennt einander nicht wieder, ihr zwei Gringos! Ihr zwei seid bereits vor zwei Jahren schon einmal hier gewesen. Ich habe euch beim Buergermeister gesehen." Sowohl Gilberto wie ich wie vom Blitz getroffen. Wie das? Ein Traumerwachen, wie ich es nie zuvor oder spaeter erleben sollte. Gilberto verliebt sich vom Beginn an in Eunice und bringt sie ein Jahr danach sofort in die Staaten, wo er sie ehelicht. Sie bekommen ein Tochter, Anni. Gilberto zeigt ihnen das gewoehnungsbeduerftige Leben in Oregon. Das Sklavensystem. Das manchmal 16 Stunden Arbeiten. Das Leben im Auto. Die allgemein vorgeschriebenen Statussymbole. Eunice leicht schockiert, doch ihr Mann traegt sie auf Armen. Nach gut einem Jahr kommen sie zurueck, auf Heimaturlaub. Gilberto erzaehlt aus seinem Leben. Er hatte 6 Monate in Alaska alleine in einer Trapperhuette verbracht, im Winter, nicht im Sommer. Es sollte ein Abenteuer werden. Etwas trieb ihn dazu, genau das zu tun. Die Adresse war seinem Bruder bekannt. Er hatte ein paar Saecke Reis, Kartoffel und Bohnen. Das Fleisch schoss er sich mit der Winchester. Baeren, von denen es dort nur so wimmelte. Eines Tage unterlief ihm ein Fehler. Er erlegte einen Baeren quer ueber den Fluss und liess ihn dort liegen, als er erkannte, er werde ihn nicht herueberhieven koennen. Der Geist des Baeren begann ihn zu verfolgen. Er hoerte ihn bei Nacht, wie er an den Bohlen kratzte. Einmal stand er direkt in der Huette. Gilberto, der aus Prinzip mit der Winchester in der Hand schlief, schoss auf ihn, allein, da war kein Baer. Die Tuer verrriegelt.
Gilberto ueberlebte das selbstgewaehlte Abenteuer. Er hatte keine Patronen mehr und auch keine Vorraete. Er hungerte bereits eine Woche und wusste, jetzt wird es knapp. Da stand wie aus heiterem Himmel sein Bruder vor der Huette. Er hatte sich Sorgen um ihn gemacht und die beschwerliche Suche nach ihm angetreten. Sie fallen einander in die Armen. "Ich verdanke meinem Bruder das Leben", so Gilberto spaeter. "Wir gingen gemeinsam los. Ein Grizzly folgte uns im Abstand. Das war ein Menschenfresser. Menschenfressergrizzlies bleiben so wie die Loewen Menschenfresser, mit kleinen Ausnahmen, denn in der Wildnis von Alaska gibt es nicht so viele Menschen wie in Uganda. Er folgte uns und machte einen Umweg, um uns aufzulauern. Wir hatten Schneeschuhe. Laufen konnten wir nicht, und mein Bruder hatte keine Patronen mitgebracht. Daran hatte er nicht gedacht, nur ans Essen. Ich wusste, wo der Baer lauerte, denn ich hatte seinen verstohlenen Blick erhascht. Man koennte sagen, ich habe neben anderen Einsichten in diesen sechs Monaten gelernt, zu wissen, wie ein Baer denkt. Ich kannte ihre Verstohlenheit. Wir kommen an einen Fluss, zugefroren. Ich sage zu meinem Bruder, Bruder, wir stehen auf der Speisekarte eines Grizzlys, den du nicht siehst. Wir haben nur eine Chance, auf, ueber diesen Fluss!" So gingen wir los, uebervorsichtig. Die Schneeschuhe liessen uns nicht einbrechen. Wir sind jenseits der Mitte, als der Baer aus seinem Versteck ausbricht, denn er sieht, wir wollen uns aus dem Staub machen. Er bruellt. Das geht dir in die Knochen. Wenn du dir in die Hose machst, bist du verloren. Wir brachten die letzten Meter hinter uns und waren bereit, auf einen Baum hinaufzuklettern, sofern wir den passenden gefunden haetten. Zu unserem allergroessten Glueck bricht der Baer, der bereits wuetend galoppiert hatte, ins Wasser ein und kommt nicht raus. Wir sind weiter gelaufen. Ich weiss nicht, wie weit, dann hatte mein Bruder die Orientierung gefunden, und von da war es nicht mehr weit bis zu seinem Jeep. Ueber Land war mein Bruder immer ein Klasse-Driver." Soviel aus der Jugend meines Schwagers.
Meine Schwaegerin fuehlte sich gleichwohl nicht wohl in den Staaten. Sie lebte in einem goldenen Kaefig. Die Menschen durch und durch suspekt. "Alle tragen Waffen, Cuñado. Eines Tages, an einem Vormittag, stehen wildfremde Maenner an der Haustuer. Sie sagen, sie wollen Wasser zu trinken. Ich gebe es ihnen. Sie mustern mich, aber drehen dann doch um. Gilberto hat mich gescholten. Er hat mir gezeigt, wie man einen Revolver bedient, aber ich ruehre so ein Ding mein Leben lang nicht an!" Eunice hat eines Tages einen Nervenzusammenbruch. Die Notambulanz bringt sie ins Hospital. Ein Salzinfusion bringt sie wieder auf Trab. Die kleine Intervention mit Pauken und Trompeten kostet Gilberto 7.000,- Dollar, doch er macht seiner Gattin keine Vorwuerfe.
Dann kommt 2008 und mit ihm der allgemeine Kollaps. Gilberto, ein wagemutiger Immobilienmakler, der Haeuser kauft, saniert und verkauft, landet von heute auf morgen im Schuldenkotter. Bei seinem letzten Besuch hier bei uns oeffnet er mir sein Herz: "Cuñado, ich weiss nicht, wann wir uns wiedersehen. Ich hoffe bald. Ich werde nach Mexiko zurueckkehren. In den USA ist es zu gefaehrlich. Ein faschistisches System. Beaengstigend. Du wirst nicht glauben, welche Perversitaeten. Der Antichrist ist aufgetreten. Ich habe es selbst gesehen. Ich kenne viele Leute, die sich das "666" auf den Oberarm taetowieren liessen. Die Maechtigen wollen das Land in Geiselhaft nehmen. Es ist beaengtigend. Du kannst dort nicht mehr rechtschaffen leben."
Gilberto war Veganer. Er lehnte das Essen aus den Aluminiumtoepfen ab. Wegen des Ajinomoto schimpfte er gleich nochmal mit seiner Schwiegermutter. Die verstand ihn jedoch ganz und gar nicht.
Er besuchte mich nur ein Mal im Dschungel, das war zu Weihnachten 2007, ein Wochenende. Wir waren zu elft, die Familie. Nach zwei Kilometern setzt heftiger Regen ein, es schuettet aus Schaffeln. Jeder beginnt fuer sich zu kaempfen. Mein Sohn auf den Schultern beginnt zu weinen, es friert ihn. Die zarte Schwaegerin traegt ihre Tochter. Die Gruppe wird zersplittert. Bei Kilometer fuenf biege ich zum Fischteich von Gibacho ab, der leiht kurzentschlossen dem Buben seinen warmen Pullover, den er am Leib traegt, nachdem das Kind abgetrocknet ist. Der Regen hoert wieder auf, wir stapfen weiter. Auf Kilometer 1,5 die Abkuerzung ueber die Kuhweide von don Walter Munjoz, einem der Gruendersoehne von Tamshiyacu, so wie Agustin. Gilberto trifft ein, setzt sich hin und kippt sich ungeniert gleich auf den Ruecken. Innerhalb von Sekunden schlaeft er ein. Die Feuchte macht ihm nichts. Die Schwiegermutter grinst. Der Schwiegersohn, nur mal 10 Jahre juenger als sie, schnarcht unbscholten in Abrahams Schoss. Nach 20 Minuten kehrt er zurueck und rappelt sich wieder hoch. Gil konnte uerberall schlafen, augenblicklich.
Dann, vor zwei Jahren, das traurige Ende. Gilberto erkrankt – wohl aus Gram, wie ich immer dachte – an Leukaemie und stirbt innerhalb eines Monats. Anni ist gerade mal fuenf. In der Nacht seines Todes und noch die Nacht danach geht Gilbertos Geist bei uns im Garten um. Doña Eugenia, eine furchtlose Christin, geht zu ihm mit Mapacho hinaus. Sie sieht ihn in der Dunkelheit, ein dunkle Masse, kein fiepender "Tunchi", wie wir die Untoten hierzulande nennen, unter dem Mamey-Baum, dort, wo er immer seine Haengematte aufzuspannen pflegte. Er wimmert und grollt. Sie blaest ihn an und betet das "Vater unser". Er verschwindet, kommt aber wieder.
Vor zwei Monaten waren die Witwe und das Kind bei uns. Was fuer eine Trauer, das Kind zu sehen. Sie will nicht mehr zurueck. Doch was tun? Sie ist US-Buergerin. Tochter eines Mexikaners und einer Peruanerin.
Gilberto Campos wird mich nicht verlassen. Das bin ich unserer Verbindung schuldig. Er, der stets sinnierende Menschenbruder, der seine Tochter stets auf seinem maechtigen Bauch spielen zu lassen pflegte, sobald er sich ins Bett gelegt hatte.
Sochi, Kiev und andere Städte
In Kiev starben 81 Menschen, erschossen. Die meisten protestierende Zivilisten. Wer die apokalyptischen Bilder des Maidan-Platzes gesehen hat, wird verstummen. Krieg. Ein vom russischen Despoten Putin gehaltener, ihm willfähriger Despot hat das Land ausgeblutet und mutete dem unterdrückten Volk in gröbstem, kältestem Zynismus einen Blutzoll von 81 Menschen zu. Wer die Bilder seines weitläufigen Privatanwesens sieht, denkt schlußendlich das gleiche: Was hat das gekostet? Wer hat das gebaut? Sicher keine ukrainischen Unternehmen. Hi-Tech aus der Zukunft. Ein imperiales Anwesen. Luxusdetails an allen Ecken und Enden, wie in Versailles. Das arme, frierende Volk – und wer nicht aller sonst?- hat keine Vorstellung davon, daß es so etwas geben kann.
81 Menschen starben in bitterer Kälte mitten in der Stadt, mitten im Krieg. Manche starben von einem Moment zum anderen, so wie 14.000 Kilometer entfernt Miss Venezuela, die sich in Caracas an Protesten gegen die Regierung beteiligte und der in den Kopf geschossen wurde. Sie verröchelte während der Einlieferung ins Spital. 81 Familien sinken in Tränen zu Boden. Mütter weinen. Kinder weinen. Eltern weinen. Väter weinen.
Niemand dieser unserer bornierten Volksvertreter steht am ersten Tag auf, ausrufend: "Das ist unerträglich! Ein Verbrechen gegen die Menschheit!" Und schritte zur Tat. Vollgefressen und behäbig wie sie sind.
Die Protestierenden kämpften für die Freiheit, für die Zukunft eines ganzen Volkes, in bitterer Kälte. Sie wurden ausgepeitscht und gedemütigt, niedergeschlagen, niedergeschossen. Das Volk zog in den Krieg. Es zog in die Gewalt, zur Verteidigung der Freiheit. Des bißchens Freiheit, das diesem Volk geblieben ist im Knebelgriff eines kalten Machtkalkulators namens Wladimir Putin, dieses unsäglichen ehemaligen KGB-Obersts, der den Gashahn zu- und aufdrehen kann, wie ihm beliebt. Ein Mann, den Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi, dieser perverse italienische Verbrecher, hofieren, und jüngst – Schande über ihn – noch dazu Karl Schranz, die österreichische Schilauflegende, die sich nicht entblödet, diesen Despoten und kalten Geier im Österreicherhaus zu Sotschi zu bewirten.
Derweilen schlagen Despoten zierliche Pussi-Riot-Aktivistinnen mit Peitschen nieder. Unerträgliche Bilder von legitimierten Macho-Schweinen in Pelzuniform, die sich an der erteilten Gewalt insgeheim weiden. Und niemand dieser Feiglinge vom IOC erhebt seine Stimme, niemand der angereisten Politiker, notabene dieser blasse, blutleere Herr Faymann, der Bundeskanzler sein will, und dessen Sportminister, wie auch immer der heissen mag. Das verstehen sie unter Wirtschaftdiplomatie, denn Sotschi war für Österreich eine Hundert-Millionen-Großbaustelle, wenn nicht mehr.
Diese Feiglinge machen sich in die Hose, derweilen draußen die Farce sich wie schon all die Jahrzehnte zuvor wiederholt, doch nunmehr außer Atem, als hätte sie sich schon längst überholt, mit 40 "Dopingsündern", wie das im Fachjargon heißt, und wieder war ein rot-weiß-roter Schilangläufer dabei.
Eine Farce mitten im Krieg, so wie 1938 in Berlin, als die KZ´s in Deutschland – Dachau und Ravensbrück – bereits geschmiert liefen. Und so wie die Nazis mit der Schweiz verfuhr Yanukovich mit dem "Finanzstandort" Wien, wohin er einen Teil seiner unvorstellbaren Diebesbeute, unter anderem auch einen Happen der gestohlenen Kredite der Hypo Alpe Adria zurücktransferierte. Mitten während des Krieges auf dem Kiever Maidan, wo Menschen bereits in ihrem Blut verröchelten. Und die braven Wiener Banker spielen natürlich nobel und diskret mit. Diskretion ist nach wie vor oberstes Gebot in der Schweiz und ebenso in Wien, denn das sind wir unserem Ruf und dem Bankengeheimnis schuldig.
Dieser unsägliche Schneemann Werner Faymann, österreichischer Bundeskanzler, verschanzt sich auf Geheiß seines Busenfreundes Michael Schindelegger, der gegenwärtig in Nachfolge der unsäglichen "Schottermitzi" Maria Fekter (sie war auch schon Haider-sympathisierende Innenministerin, – zumindest was die Asylantenheime im Hochgebirge angeht) den Finanzminister abgibt, eine volle Woche lang im Bundeskanzleramt, denn der gute Herr von der ÖVP wurde seinerseits wiederum von Herren aus der Nationalbank gebrieft, "Herr Kollege, bitte keinerlei Kommentar wie auch immer zur Hypo Alpe Adria, denn das kann uns teuer zu stehen kommen. Sie verstehen schon: Wallstreet und London auch."
Die Ukraine steht kurz vor dem Bankrott. "Schade", sagt die Wallstreet, "die sind noch nicht in der EU." Ein gigantisches Land. Die Kornkammer Europas und Chinas. "In der Ukraine militärisch zu intervenieren, wäre ein Fehler, sagt die Frau Sicherheitsberaterin des Präsidenten. Der Präsident telefoniert dennoch mit dem Zar in Kreml. Wie laufen solche Gespräche ab? Ich hätte bitte gerne einen NSA-Aufzeichnung zur Erweiterung meines Horizonts.
81 Ukrainer tot. 40 Athleten in Sotschi gedopt. Und meine Patientin Lucy, die im Sommer vergangenen Jahres noch den Jakobsweg gegangen ist, ist dem Gehirntumor erlegen. "Herr, stehe uns bei. Wir brauchen dich in jedem Moment!"
Vierter Sonntag im Feber 2014. Amen.