Es gereicht mir zur Lehre, nachzusinnen, wie denkwuerdige Menschen in mein Leben fielen. Und was sie mich lehrten, mit der Zeit, obwohl ich sie nicht kannte. Und sie mich schon gar nicht.
Was lernt man von Sonnen?
Natuerlich ist man beeindruckt, wenn man zum ersten Mal Kenntnis nimmt von einem, von dem die allgemeine Entourage sagt, er sei ein Genie, und man sieht ihn in einen Hochtechnologie-Rollstuhl gedrueckt, eine Kreatur wie ein Gewaechs, das Gesicht seltsam verzerrt, der Koerper abgemagert, die Haende verdreht. Und man fragt sich, womit verbringt er sein Leben? Was haelt ihn am Leben? Wenn man heute liest, Stephen Hawking ist heute 64, mit 24 ueberfiel ihn die Krankheit, eine Nervenkrankheit, die die Muskeln laehmt und oft frueher zum Tode fuehrt, etwa durch Lungenentzuendung. Hawking jedoch, so scheint es, bewahrt seine Ausgangsmarke der Unschuld in der Frischhaltepackung. Immer noch hat er etwas Jungenhaftes, selbst nach zwei gescheiterten Ehen (zuerst mit Jane Hawking Wilde, danach mit Elaine Mason, seiner Krankenschwester) und als Vater von drei erwachsenen Kindern.
Hawking ist fuer viele eine Ikone. Vielleicht ist er das erst durch das von der Technologie ermoeglichte Exzentrische seiner Sprache, die eine kuenstliche ist, die uns staunen laesst und neugierig macht. Was hat dieser Mensch, der mehr einem Gewaechs, einer Ranke aehnelt, zu sagen? Wir haengen ihm an den Lippen, die sich nicht bewegen, ja wir sehen nicht einmal die Bewegungen seiner Finger, die den Sprachcomputer steuern. Heute, so lese ich in der Wikipedia, sind sie dazu uebergegangen, ihm die Steuerung seines Lebens ueber Augensensoren zu ermoeglichen. Denn die amyotrope Lateralsklerose laesst nur die Augen unbeschadet. Wir hoeren eine Stimme aus einem Lautsprecher. Sie haelt eine wissenschaftliche Rede. Sie redet von Geheimnissen und Unvorstellbarem, doch so, dass es der Mann von der Strasse versteht … verstehen koennte. Und so entsteht ein Werk: „Eine kurze Geschichte der Zeit“, und wird ein Bestseller. Ein fuer unmoeglich geglaubter Bestseller. Ausgerechnet dieser Mann, „ein Krueppel“, wuerde man platt auf gut Wienerisch sagen, wird zum wissenschaftlichen Bestseller-Schreiber und laeuft allen Kollegen den Rang ab. Sie reichen ihn von Konferenz zu Konferenz, wo er von Dingen redet, die auch die Kollegen zeitweise vor den Kopf stossen, aehnlich wie Einstein, der sich von seinem deistischen Glauben nie distanzieren konnte und wollte: „Gott wuerfelt nicht!“, und damit den Quantenphysikern willkommenen Stoff zur Polemik lieferte.
„Eine kurze Geschichte der Zeit.“ Hawking ist eine Ikone, ein Hohepriester der Menschheit. Ein Strahl der Hoffnung vielleicht. Einstein kuerten sie – erwartungsgemaess und berechtigt – zur „Persoenlichkeit des 20.Jahrhunderts“, die pathetisch-patriotischen Peruaner ihren Admiral Grau gar zum „Peruaner des Jahrtausends“. Hawking hat das Pech, an der Eingangsschwelle des 21.Jahrhundert zu stehen. Zu viel wird noch passieren, als dass sie ihn jetzt schon zum Strahlemann dieses Jahrhunderts proklamieren koennten. Vielleicht werden in diesem Jahrhundert die Aufzeichnungen der Menschheitsgeschichte den Bach hinuntergehen. Also ist es nur sinnvoll, ihm hier und jetzt eine Eloge zu widmen. Doch besser, sie geraet zu einer Meditation:
Hawking, soviel kann man erfahren, hat ein anderes Verhaeltnis zum Sterben als Carl Sagan, der Ende der 90er verstorbene populaere US-Astronom, der mit Castaneda im Thema „Jenseits der Physik“ im „Clinch“ lag. Hawking wollte mit 24 sogar seine Doktorarbeit ad acta legen und sich aufs Sterben vorbereiten. Doch dann lernte er eine Frau kennen, fuer die sein Zustand unerheblich war, und die sogar bereit war, ihn zu ehelichen. Der Verbindung entstammten 3 Kinder. Was das Leben fuer Hawking ist, wer weiss es? Wir wissen nicht einmal, was das Universum fuer ihn ist. Nicht einmal seine besten Freunde. Ich vermute, dass es so ist. Schlussendlich hat er ein Gesicht wie ein Pokerspieler, der niemals seinen Mund oeffnet. Es ist ihm nicht anzusehen, was er denkt.
Eine kurze Geschichte der Zeit. Ein zweckmaessiger Titel fuer das Leben auf diesem Planeten, dieses unter dem Einfluss des Homo Sapiens aufs Hoechste gefaehrdete Leben. Ich spreche jetzt von der Lebensberechtigung, nicht dem schon ins Leben getretenen Leben. Ich spreche vom zukuenftigen Leben.
Hawkings Dimensionen sind freilich andere: Interstellare. Ein Stern verschluckt andere Sterne und alle Materie, die sich ihm naehert, sogar das Licht. Was macht die Faszination der Schwarzen Loecher aus? Eine Faszination, der natuerlich auch Hollywood und mit ihm Maximilian Schell, der Magier, erliegen musste. Das Schwarze Loch ist vielleicht das ins Extreme vorgetriebene Sinnbild der menschlichen Natur: Es hat seinen Sternentod hinter sich, und was von ihm bleibt, ist im Kern unbenennbar. Denn das Wort „Singularitaet“ bleibt angesichts der ihm inhaerenten Potenz bedeutungslos. Diese Singularitaet schafft sich ihren Raum, die in der Theorie durch einen dem Auge des Menschen undurchdringlichen Ereignishorizont begrenzt ist. Die Singularitaet ist nicht zerstoerbar, doch sie zerstoert alles. Eine Herausforderung selbst fuer einen Buddhisten.
Das ist die eigentliche Allmachtsphantasie des Menschen: Unsterblichkeit, gepaart mit Allmacht. Gott sein oder Beinahe-Wie-Gott-Sein. Ein Erzengel. Vielleicht Satanas.
Die Singularitaet hat den Tod hinter sich. Sonnen von mehr als 1,5 Massen unserer Sonne haben die Chance, so zu sterben. Aldebaran vielleicht, oder Rigel. Im Grunde fasziniert Hawking am Schwarzen Loch dasselbe Phaenomen wie Einstein: Die Kruemmung des Raums, die Relativitaet der Zeit. Das Theorem vom Verhalten der Antimaterie unter dem Einfluss Schwarzer Loecher. Wenn alles Existierende relativ wird, in der Unermesslichkeit des Raums. Wenn die Singularitaet eines Tages verdampft, wenn das Universum schon nicht mehr existiert.
Hawking redet nicht von Gott, doch ich bin ueberzeugt, er hatte bereits Korrespondenz mit der Sternwarte des Vatikans auf Castell Gandolfo. Hawking sagte 2006, als ihm Richard Branson, der „Virgin“-Besitzer, sieben Schwerelosfluege schenkte und er somit zum ersten Mal von der Schwere seiner Gepeinigtheit loskam, er tue dies, um die Menschheit darauf hinzuweisen, dass sie von der Erde fortkommen muesse, denn das Leben auf Erden sei aufs Hoechste gefaehrdet, und er fuehrte an, durch Atomkrieg, globale Erwaermung und freigesetzte, mutierte, militaerische Viren. Fuer Hawking ist das All der Mutterschoss.
Die Tatsache, dass die „Kurze Geschichte der Zeit“ heute in jedem Buecherregal eines Bildungsbuergers zu finden ist, mag ein Hoffnungsstrahl sein. Kann uns die Vergegenwaertigung des Unvorstellbaren zur Besinnung bringen? Die Kurze Geschichte der Zeit ist ein Appell an die internationale Politik. Sie ist ein Titanium-Argument, das nicht anzukratzen und nicht zu verwaessern ist.
Stephen Hawkings Existenz ist ein maechtiges Argument. Ich bin nichts als ein Gewaechs, doch meinen Geist werdet ihr nicht finden. Und das was ich euch sagte, mit kuenstlicher Stimme, hat Gueltigkeit fuer immer. Ein moderner, salonfaehiger Moses mit, wie koennte es anders sein, Gesetzen im Gepaeck.
Keiner hat je ein Schwarzes Loch gesehen. Sie leiten alles von Indizien ab, von indirekten Beobachtungen. Wir selbst koennten es. Was laesst unsere Milchstrasse rotieren und haelt sie trotzdem zusammen? Was sitzt im Kern unserer Milchstrasse, in 20.000 Lichtjahren Entfernung? Eine Kraft, deren Masse mehrere Millionen Sonnenmassen umfassen muss.

Schwarze Loecher sind Forschungsgegenstand der Theoretischen Physik und der angewandten Astronomie. „Also gut“, wuerden die Amerikaner jetzt sagen, „Und was weiter?“ Ja, was weiter? Was weiter, Stephen Hawking? Hawking gibt uns die Antwort. „Schaut, liebe Leute, liebe Zeitgenossen. Hier gebe ich euch ein Bilderbuch. Hier eins, das heisst „Das Universum in der Nussschale“. Nuesse essen wir doch alle gern, haben sie in unserer Kindheit aufgeklopft und ausgeklaubt. Was ist das Ganze anderes als eine Nussschale? Aehnelt nicht die Nussschale unserem Schaedelinneren mit seinen Kerben, Beulen und Furchen? Was bin ich besser als ihr? Bin ich denn das? Schaut mich an! Nur eines kann ich euch sagen: Zeitlang ist mir nicht! Dazu ist das Leben zu kurz!“

0 Antworten

  1. Wenn wir den Ausspruch unseres Yaqui-Meisters Dilas Grau aufgreifen, wonach eine Universität eine bürgerliche Einrichtung der Mittelklasse ist, dürfen wir uns die Mühe machen, Treiben und Erkenntnisse dieser Institutionen auf ihre Werthaftigkeit hin zu prüfen. Erst recht das Tun ihrer Proponenten, der wohlbetuchten Professoren, die sich ja doch zuweilen auch ihrer pädagogischen Aufgabe besinnen, – des Vorbildcharakters für die Studierenden.
    Welchen dauerhaften Wert hat die Arbeit unseres Gesprächspartners Stephen Hawking auf dem Lucasischen Lehrstuhl in Cambridge, den er Ende dieses Jahres zurücklegen wird? Was ist das für ein Mensch? Was hat er uns zu sagen? Es interessiert mich.
    Der jugendliche Professor von bereits 64 Jahren meint also, in 70 Jahren werde es, wenn es so weitergeht wie bisher, Schwefel vom Himmel regnen und der Planet sich in Venus verwandeln. Dem können wir getrost vertrauen. Entgegen allen Beteuerungen steigen die CO²-Emissionen weiterhin ungehindert und ohne sich zu verlangsamen. Das arabische Öl wird weiterhin ungehemmt verheizt und hinausgeblasen. Doch wer schert sich um die Prognose des Professors? Ja, wer erinnert sich ihrer überhaupt noch? Doch das war zu erwarten: Wer von den wohlbestallten Politikern steht heute im Bundestag oder in Whitehall oder am Kapitol auf und bezieht sich in seiner Rede auf Professor Hawking, einen paralysierten Rollstuhlfahrer, der keine eigene Stimme mehr hat? Einen Wissenschafter, dem die Stimme vor Jahrzehnten abhanden kam. Sie glauben wohl, sie würden sich lächerlich machen, ja schlimmer, sich selbst gefährden.
    Wie denkt Stephen Hawking über den 11.September? Vielleicht ist er zu nobel, zu britisch, um diese Diskussion nochmals vom Zaun zu brechen. Er wird sich nicht hüten, doch vielleicht meint er, es stünde ihm nicht zu. Andere haben bereits die Stimme erhoben. Doch in Whitehall tritt keiner der englischen Sirs ans Pult und beginnt ein Statement von der Art: „Werte Abgeordnete! Wir haben zu bereden, wie wir weitermachen wollen angesichts eines öffentlichen, nicht angeklagten tausendfachen Mordes! Ein Schelmenstück der schlimmsten Art, das sosehr an allen Ecken und Enden stinkt, daß man sich ernsthaft die Frage stellen muß, waren diese Männer – sind sie es! – sosehr von ihrem Wahn ergriffen – ihrem Machtwahn, ihrem Charakterwahn -, daß sie meinten, eine derartige Lüge, eine derartige Konspiration wie der eines Angriffs auf das Pentagon, dem keine Bürodiener zum Opfer fielen und der, nach offiziellem, mehrfach geänderten Protokoll, ein komplettes Flugzeug verdampfen ließ, daß eine solche von Größenwahn zerfressene Lüge in allen Parlamenten des Okzidents ihre Akklamation fände, und danach Glaube und Rachegelüste in verblendeten Bürgern? Denn wie man in Afrika über den 11.September denkt, interessiert doch wohl nicht die letzte Kirchenmaus.
    Keiner trat ans Rednerpult und begann seine Rede mit dem herzhaften Bekenntnis: „Meine Damen und Herren! Wir haben uns zu fragen, wie soll es nach dem 11.September weitergehen, wenn wir diesen Mord, der sich vor unseren Augen zugetragen hat, einfach stillschweigend leugnen?“
    Aber genauso war es in Srebrenica. 7000 Burschen und Männer mitten in Europa abgeschlachtet. Ein lokaler Genozid der muslimischen Bevölkerung. Und in den deutschen Zentralen stieß es ihnen beim Kantinenessen sauer auf: „Ich kann diesen Dreck schon nicht mehr hören. Sollen sie sich doch gegenseitig ausmerzen!“
    Wie also denkt Stephen Hawking über diesen blanken Irrsinn, Ausdruck äußerster Verworfenheit?
    Wir durften es „von ihm“ bereits in Boston hören: Gott bereitete vor dem Urknall die Hölle für jene, die die Frage stellen würden, was er vor dem Urknall getan hätte. So das seinerzeitige Bonmot von Johannes Malthus. Aber mich interessiert etwas Anderes: Was sagen Sie, Professor, zum Nazaräner? Ich denke, Sie halten es für ziemlich unwahrscheinlich, daß er der einzige Sohn des Allmächtigen war, oder? Sie haben es ja vorgerechnet: Eine Galaxie mit 10 bis 100 Milliarden Sternen. 10 bis 100 Milliarden Galaxien. Jede Sonne mit 4 Planeten. Aber der Mensch geht mit seinem Westentaschengott spazieren und massakriert andere in dessen Namen ab. Bis zum heutigen Tag. Sogar die Massenmörder des 11.September beteten (und beten bis heute) und schworen auf die Bibel. Aber das hinderte sie nicht, unausdenkliche Gräuel in Guantanamo und Abu Ghraib zu billigen, – auf dem Rücken unschuldiger Jugendlicher, die sich vor Schluchzen, Weinen und Angst in den Selbstmord treiben ließen. Denn diese Meuchelmörder – und ihre Zahl geht in die Hunderte, wenn nicht gar Tausende, angeführt von diesem Quintett in der ehemaligen Führungsetage -, sie glauben zuinnerst, aber das eingefleischt, nicht an den personalen Gott. Sie glauben nur an die absolute Freiheit ihres Geistes. Sie glauben an den Herrenmenschen, der das Recht besitzt, andere zu unterjochen. Sie glauben an kulturelle Superiorität und meinen damit Willfährigkeit, waffentechnische Supremität. Deswegen werden Atomwaffen solange nicht vom Angesicht dieser unserer Erde verschwinden, bis sie gezündet wurden. Denn sie sind der Inbegriff des selbsterfundenen, selbstentdeckten Auftrags: „Mensch, mach dir die Erde untertan!“ Der Größenwahn des Menschen, versinnbildlicht endgültig im Mehrfachsprengkopf des ballistischen Anschlags- und Vergeltungsgürtels. Sie werden nicht zur Einsicht vordringen. Sie werden nicht. Sie meinen, sie verlören damit persönliches Prestige, eine Entmannung. Darüber würde Professor Hawking nur müde lächeln. Doch selbst dazu ist er nicht imstande. Würde er lächeln? Oder würde er müde abwinken?
    Dieses Treiben und das Diskutieren jener, die vorgeben, den Weg auf Dauer ebnen zu müssen, ist himmelschreiend. Wir stehen direkt vor der Wand, und die hartnäckigsten Leugner schuften am eifrigsten, um kitzekleine Löcher in die Wand zu hämmern, die Löcher des Showbusiness. „The show must go on!“ Amerika. Wir stehen mit der Nase vor der Wand. Die Wand steht vor unseren Augen. Sie hat sich aufgebaut. Sie wiederholt ihre Botschaft, ihre immanente Botschaft: „Besinne dich, Mensch, denn in einer Stunde bist Du tot. Aus Staub wurdest Du geschaffen, und zu Staub wirst Du. In einer Stunde bist Du tot. Noch heute wirst Du, Gläubiger, Reuiger, mit mir im Paradiese sein. Du, ein reuiger Meuchelmörder.“ Und sie zerschlugen dem Meuchelmörder am Kruzifix die Knochen, und er verblutete innerlich. So wie wir, die wir zerfetzt und zerrissen und betrogen sind, es uns aber nicht einzugestehen vermögen. In all diesem Höllenlärm, inmitten all dieser Foltergeräte. Ja, auch hier hat er uns Einiges voran, der liebe Professor, auf seinem stillen, idyllischen Campus von Cambridge, wo ihm die Vöglein auf den Zweigen die Wahrheit ins Ohr zwitschern, die Wahrheit aus einer Frage: „Wie weiterleben, wenn wir die Zukunft bereits verspielt haben?“
    Eins ist sicher, wenn ich mir die Würde des Stephen Hawking zu Herzen gehen lasse: Er hat sein Testament gemacht und Frieden geschlossen. Selbst für ihn wird das nicht leicht gewesen sein, nach 2 Ehen. Aber heute sehe ich es ihm an. Ein Mensch am transzendenten Übergang. Wieso leben wir nicht alle nach seinem Vorbild? Eine Menschheit, die in Meditation versinkt. Wie schön wäre es!

    (Dank an Karl Firmberger, Allerheiligen, St.Valentin 2009: W.H.)

  2. Von Fröschen und Kröten

    (Ayahuasca-Projektionen)

    Es hilft nichts: Wir alle werden abends müde und gehen zu Bett. Welch beruhigende Vorstellung. Jeder wird irgendwann einmal müde und legt sich hin. Der Engel des Schlafes muβ wahrlich mächtig sein. Selbst in Auschwitz-Birkenau schliefen sie jede Nacht, die Todgeweihten wie die Mörder, und das nur ein paar läppische Meter voneinander entfernt. Auch in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs haben sie es so gehandhabt. Die feindlichen Linien nur 100 Meter von einander entfernt. Nachts schliefen die einen, während die Wächter auf Bewegung achteten. Am Morgen flogen wieder die Grananten. Eines Tages wurden sie des Abwartens müde und setzten Giftgas ein. Das löste die Stellungen auf.
    Wir alle schlafen. Mehr oder minder jede Nacht. Drei Viertel unseres Schlafes, die sogenannten Tiefschlafphasen, entziehen sich unserer Erinnerung, und das ein Leben lang. Erst beim Sterben gehen uns die Augen auf. So zumindest stelle ich es mir vor. Nein, das ist lächerlich formuliert. Ich weiβ, daβ es so sein wird.
    Aber wir schlafen nicht ständig. Manchmal liegen wir wach. Manchmal arbeiten wir sogar nächtens. Wir sitzen an einem Krankenbett und beten. Oder wir arbeiten in der Industrie. Oder fahren zur See. Oder wir sitzen im Dschungel und trinken Ayahuasca. Es gibt nichts Schöneres. Abendandacht im Kreis von Gesinnungsgenossen. Eine Heilige Messe unter Gläubigen und Nichtgläubigen, die für eine kurze Weile zu Gläubigen werden. Ein paar Stunden der Andacht, des Tränenvergieβens und des Sich-auf-den-Kopf-Schlagens. Stunden des nicht mehr Vernagelt-Seins. Dann das Sich-Einmischen der Frösche. Die Lichtung hallt von ihrem Gequake. Silbernes Mondlicht gesellt sich hinzu. Die Dinge werden unübersehbar. Sie stehen plötzlich vor einem, ganz selbstverständlich. Und drängen weiter nach vor, wollen erkannt und gewürdigt werden, entgegen aller Scham. So geht es über Stunden. An Schlaf nicht zu denken. So kann es tatsächlich die ganze Nacht gehen. Und es bleibt nicht bei der einen Nacht. Andere schließen sich an. Man liegt im Bett, wacht plötzlich auf und bleibt hellwach. Die Zeit der Ehrlichkeit setzt ein und hält einen gefangen. Oder sie zeigt uns das, was vor uns liegt. Ja, vor uns.

    Die Unendlichkeit liegt direkt vor unseren Augen, sagt Don Juan. Das ist keine Plattitüde. Im Gegenteil: Das ist es, was uns zu erschlagen droht. Was uns unversehens jeden nächsten Moment überfällt und jeden Moment aufs neue überfällt. Sie steht geradezu vor uns, wie eine Wand. Immerzu, ohne Unterlaβ. Direkt vor unseren Augen. Noch viel näher als in Sichtweite. Und sie entfaltet sich, ganz ohne unser Zutun. Ja, oft geradezu gegen unseren Willen, – zumindest den alltäglichen. Sie nimmt uns gefangen, ganz ohne unser Zutun, und schleppt uns fort, ein paar Schritte, aber bereits in neues Terrain. Vielleicht haben wir das Terrain geahnt und gemieden, doch jetzt stehen wir mittendrin. Die Spinnweben berühren bereits unser Haupt. Die Logik des Spinnennetzes zeigt sich in seiner Struktur. Und diese Struktur reicht nach vor. Sie macht sich verständlich, entgegen all unserer Abwehr. Sie raubt uns geradezu den Atem, und damit würdigen wir das Wahrgenommene erst recht. Mutter Ayahuasca führt uns etwas vor. Sie nimmt uns an der Hand und zeigt uns das Entscheidende, das, was wirklich von Gewicht ist. Unsere Lebensvision. Die Vision, in die wir eingebettet sind. Die Vision reicht über uns hinaus. Sie ist transpersonal. Ein ehernes Gesetz. Und indem ich erkenne, das sie eisern feststeht, indem ich mich also der Vision unterwerfe, wird sie personal. Sie hebt mich hoch und trägt mich fort. Die Angst verfliegt am Schlag. Sie war immer nur Vorwand.
    Ayahuasca projiziert ein Leben, so wie sie es seit Jahrtausenden tut. Sie versöhnt uns mit dem eigenen Leben, also mit uns selbst. Sie entfernt die Vorspiegelung unseres sozialen Ichs. Und indem sie dies mit allen Ayahuasca-Feiernden tut, formt sie eine neue Gemeinschaft. So war es bei den Indios, so war es bei den Afrikanern, so war es bei den Ägyptern. Ayahuasca war Teil der sozialen Identität der Stämme. Nicht umsonst nennt man sie die „Liane des Todes“. Die Stämme praktizierten die Todesstrafe an ihren Delinquenten in Ayahuasca, die sie so, im transzendenten Rausch der Medizin, den Alligatoren zum Fraß vorwarfen.
    Ayahuasca projiziert die Wahrheit und keine Chimäre, keine Einbildung, kein Märchen. Sie läßt uns begreifen. Das „Begreifen“ ist ja heute bereits ein lächerlich gemachter Begriff. Was begreifen wir denn heute noch, außer Spielekonsolen, Computer-Tastaturen und Handy-Sensoren? Vielleicht Sensengriffe, Meißel, Kuhglocken? Alles haben wir reduziert oder gar ausgemerzt, rund um uns, an uns und in uns. Die Mehrzahl der heute lebenden Jugendlichen auf diesem Erdball hat noch nie eine Kuh berührt. Das ist nur ein Beispiel. Die allgemeine Verarmung ist tragisch. Die Verringerung unserer Lebensgrundlage. Das ist es, was uns Ayahuasca zeigt und was uns die Gedärme umdreht. Dieser Trieb hin zur Auslöschung. Vom Organischen hin zum Anorganischen. Ein tödlicher Trieb. Sogar die hochnäsige Medizin mit ihrer in Europa nunmehr zum Gesetz erhobenen Anbetung der Petrochemie – wie fürchterlich – hängt in weiten Bereichen diesem Trieb des Nihilismus an.
    Die Ayahuasca-Projektion läßt uns mit Schaudern begreifen, warum der Mensch von heute zu diesem eifernden, diesem geifernden Verfechter des Nihilismus, der Sinnlosigkeit geworden ist. Vordergründig nennen es die einen, jene aus dem rechten Lager, meist in der Mehrheit, leider, „logischen Positivismus“. Die Wissenschaft – das goldene Kalb der Moderne schlechthin – ist „positivistisch“. Sie „falsifiziert Arbeitshypothesen“. Doch in Wahrheit leben wir nicht mit Arbeitshypothesen, sondern schlichtweg in beklagenswerter allgemeiner Verelendung, in der nichts mehr Bestand zu haben scheint. Das Drama in Japan hat es doch breitflächig vorgeführt, samt allen begleitenden Lügengebäuden. Wenn wir heute einen praktizierten Wert suchen wollen, dann finden wir ihn doch wohl in der Lüge. Und natürlich in Mord und Totschlag. Das ist der wahre Nihilismus, der unverhohlen seine Fratze zeigt. Die simple Rückkehr zur Barbarei ohne Hoffnung. Das ist es, was so viele verzweifeln und vereinsamen läßt. Das Bekenntnis zur Gewalt, ganz zuvorderst in diesen schrecklichen Fernsehproduktionen, die mit Vorliebe Stoffe aus den Zeiten der vorchristlichen Barbarei wie z.B. aus dem alten Rom hervorkramen. Serien, in denen das Kolosseum in Rom von neuem zum Dreh- und Angelpunkt der ausgeschlachteten Gladiatorenkämpfe mit abgeschlagenen Köpfen und aufgeschlitzten Bäuchen wird.
    Wenn es einen neuen Filmtopos gibt, den sie uns mit Gewalt vor Augen führen und in unsere Gehirne und Herzen einbrennen, dann ist es der in Zeitlupe abgeschlagene Kopf eines Menschen. Ja fürwahr, das neue Sinnbild. Sinnbild für die globale Sinnentleerung, oder für das neue, das wiederauferstandene Credo: „Jeder ist des Nächsten Feind. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Jeder für sich und Gott gegen alle.“ Das ist die Quintessenz des wirtschaftlichen Keynianismus, wie sie es nennen. Die absolute Freizügigkeit des „Marktes“, natürlich gesetzlich abgesichert. Krieg per Gesetz. Und das ist die visuelle lineare Projektion, der politische Glaubenssatz, wie er zuvorderst von Hollywood propagiert wird. Der allgemeine soziale Krieg, die allgemeine soziale Gewalt.

    Von christlicher Offenbarung keine Spur. Im Gegenteil. Gestern bezeichnete Stephen Hawking in einem Interview mit dem „Guardian“ den Glauben an den Himmel, den Glauben an das Ewige Leben als ein „Märchen“. Klipp und klar. Ein Märchen, von jenen und für jene erfunden, die Angst vor dem Sterben hätten. Ein Surrogat. (Klassische marxistische Argumentation). Das Leben Ende mit der Funktion des Gehirns. Nicht anders als bei einem Computer, dessen Bestandteile zu Bruch gehen.
    Er sagt, mit seiner Krankheit habe er mit der Perspektive eines plötzlichen Todes zu leben gelernt, aber mit dem Sterben habe er es nunmehr nicht besonders eilig, er möchte nur allzu gern noch so viel tun.
    Diese ganze Rede zeigt nur allzu bezeichnend das Dilemma auf, in das wir uns – und nicht nur der Professor – hineinmanövriert haben: Denn mit Stephen Hawking kann man nicht diskutieren. Wahrlich nicht. Seine Antworten, bis sie im Sprachcomputer eingegeben sind, dauern drei bis fünf Minuten. Hawkins Redeweise ist rudimentär und elementar. Hawking ist dabei keineswegs schüchtern. Schlußendlich war er, wie schon erwähnt, bei Dr.Ratzinger auf Castell Gandolfo. Und seitdem drängt es ihn scheinbar, sich mit der Kirche anzulegen. Er belegt es bei seinen Auftritten und in den Büchern. Etwas treibt ihn, so wie ihn die Vorstellung des Menschen, der in ein schwarzes Loch hineingezogen wird, treibt. Das Spaghetti-Bild, das er immer wieder strapaziert. Nicht unbedingt friedlich. Die atomare Desintegration des Menschen in einem Nu. Und dennoch hat ihn, den guten Mann aus Cambridge, trotz allen mathematischen Theoretisierens über die Strahlung von Schwarzen Löchern und über Antimaterie, die soziale Realtität eingeholt, und er wurde zwei Mal geschieden.
    Bei all diesen Meinungsäußerungen darf sich der Leser/Zuseher jedoch sehr wohl fragen, warum stellt mir denn keiner diese Fragen? Die Antwort liegt nahe: Das außerphysikalische Interview mit einem Gelähmten paßt eben besser ins Geschäftskalkül als ein Interview über Glauben und Nicht-Glauben mit einer ihr Leben lang im Hintergrund frittierenden Mc-Donald-Angestellten aus Angola.

    Das Unmöglich-Geworden-Sein menschlichen Zusammenlebens, die Zerstörung der Familie, ist die eigentliche Realität auf unserem Planeten. Scheidungen allum, in der breiten Mehrzahl, geradezu die Regel, sosehr, daβ man die Verehelichung bereits als müden Witz abqualifizieren könnte. Die psychische Verwahrlosung der Millionen und Abermillionen Scheidungskinder ist die wahre psychosoziale Katastrophe der Jetztzeit, wie es Freund Dieter – er als Nervenarzt muβ es wissen – formuliert hat, und für Amazonien muß man es noch ausweiten: 30 Prozent der Bevölkerung kennen nicht ihre wahren Väter.
    Das ist das Fundament der Geisteskrankheit, die uns eines Tages noch großflächig verspeisen wird.
    Von daher wird mir auch klar, warum es für die Mehrheit der Menschheit unmöglich ist, an einen „Vater im Himmel“ zu glauben. Statt „Vater“ könnten wir jederzeit – selbstverständlich – auch „Mutter“ oder „Wakantanka“ einsetzen.
    Mit anderen Worten, das „Vater Unser“ ist obsolet geworden.
    Bei allen Begräbnissen können wir es bezeugen.
    Jene, die das „Vater Unser“ sprechen, sind in der krassen Minderheit.
    Und es ist genauso erkennbar, wenn Agustin in einer Ayahuasca-Nacht, zu fortgeschrittener Stunde, die Runde auffordert zu singen. „Ich kann nicht!“ ist das Echo, das er einheimst. Heimatlieder? Vergessen und verloren.
    Heimat, was ist das? Ich lebe in einer Betonwüste. Wie soll eine Betonwüste mit Elektrozäunen meine Heimat sein? Wie, wenn in meinem Nachtkästchen griffbereit eine Smith & Wesson liegt?
    „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen.“ Einer von 500 Elementarsätzen des Nazaräners, die wir allesamt mit Füßen treten.
    Ayahuasca läßt sich nicht korrumpieren. Sie macht uns zu Aposteln. Predigern. Wahre Ayahuasceros wissen, wovon ich rede. Ich bitte um Verständnis, aber wir haben immer noch Sturm, hier wie auf Rykers Island und in L.A. im Hause Schwarzenegger.

  3. Interview mit der Physikerin Lisa Randall, entnommen der Zeitschrift DIE ZEIT, 6.Mai 2012.

    Lisa Randall ist die derzeit berühmteste Physikerin der Welt. Für Aufsehen sorgte die 49-Jährige mit ihrer Theorie, wonach das Universum nicht nur drei, sondern vier Raumdimensionen und damit Platz für ein Paralleluniversum hat. Anders als Kosmologen, die ihre Wissenschaft eher spekulativ betreiben, legt Randall Wert darauf, überprüfbare Vorhersagen zu machen. Dazu gehören auch Berechnungen zu neuen Elementarteilchen, die am Cern in Genf entdeckt werden könnten. Sie war Professorin an der Princeton University und am MIT, seit 2001 lehrt sie in Harvard. Sie twittert unter @lirarandall. Soeben erschien ihr Buch »Die Vermessung des Universums« (Fischer-Verlag)

    DIE ZEIT: Professor Randall, wussten Sie, dass Ihr Name auf Deutsch so viel heißt wie »Der Rand des Weltalls«?

    Lisa Randall: Ja, das habe ich gemerkt, als ich mir die deutsche Übersetzung meines letzten Buches bei Google ansah. Da war immer von »edge of space« die Rede, was überhaupt keinen Sinn ergab – bis ich begriff, dass von mir selbst die Rede war.

    ZEIT: Vielleicht war es Ihnen ja vorherbestimmt, das Universum zu erforschen und den Menschen die wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte zu predigen.

    Randall: Das Wort Schöpfung benutze ich nicht, und eine Predigerin bin ich schon gar nicht. Es geht mir darum, die Welt zu verstehen – also zu überprüfen, ob etwas wahr oder falsch ist.

    ZEIT: Der Urknall ist auch eine Art Schöpfungsakt.

    Randall: Aber die große Frage, wie alles anfing, können Kosmologen nur schwer beantworten. Die Urknalltheorie sagt uns, wie sich das Universum entwickelt hat, aber nicht, was am Anfang knallte. Darüber können wir nur spekulieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass noch andere Universen existieren, die von unserem komplett abgetrennt sind und in denen andere Naturgesetze gelten. Vielleicht gibt es da zum Beispiel eine andere Art Elektrizität.

    ZEIT: Viele Ihrer Fachkollegen sind fasziniert von solchen Paralleluniversen. Stephen Hawking behauptet, dass die Theorie von einer möglichen Vielzahl der Universen Gott überflüssig mache.

    Randall: Ach was, dieser Gottesstreit ist doch nur PR. Ich halte wenig davon, Wissenschaft als Ersatzreligion anzupreisen. Dass es andere Universen gibt, ist theoretisch denkbar, und die Idee mag sexy sein. Aber Wissenschaft muss auf Experimenten und überprüfbaren Vorhersagen beruhen.

    ZEIT: Was ist falsch daran, die Faszination für die Wissenschaft zu wecken, indem man ein paar letzte Fragen stellt?

    Randall: Nach jetzigem Wissensstand sind Paralleluniversen bloße Glaubenssache. Und wer nur über solche Aufreger spricht, hat in Amerika schnell die Kreationisten vor der Tür, die heftig protestieren. Ich hatte unlängst eine Diskussion mit dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Er beschwört das Schöne und Majestätische der Wissenschaft und glaubt, sie könne die Religion ersetzen. Für mich dagegen ist das Großartige an der Wissenschaft gerade ihre Unordnung. Wissenschaftler sind nicht im Besitz einer geoffenbarten Wahrheit, sondern müssen selber herausfinden, was die Welt im Innersten zusammenhält. Wir überprüfen unsere Ideen und verwerfen sie wieder, auch wenn sie noch so schön sind.

    ZEIT: Macht es Ihnen keinen Spaß, mit der Hypothese von einem Multiversum zu spielen?

    Randall: Natürlich! Aber befriedigender ist es für mich, zu verstehen, was im Teilchenbeschleuniger LHC passiert.

    ZEIT: Der deutsche Dichter Hans Magnus Enzensberger hat die Experimentierhallen des Schweizer Kernforschungszentrums Cern einmal »Kathedralen der Physik« genannt…

    Randall: Warum nicht. Kathedralen sind für mich zunächst mal imposante Gebäude, Tempel der Kunst und Architektur – aber unabhängig vom Glauben. Es gibt heute Kirchen, die als Kletterhallen oder Restaurants dienen. Dementsprechend ist auch das Cern ein profaner Ort, eine zweckdienliche Maschine. Die Wissenschaft muss mit ihrer Hilfe gemacht werden, so wie eine Kathedrale der Religion dient. Das Cern wurde mit viel Erfindungsgabe und Schöpferkraft gebaut. In diesem Sinn ist es tatsächlich eine Kathedrale.

    ZEIT: Aber beide, sowohl der Priester in der Kathedrale als auch der Physiker am Cern, behaupten, die Wahrheit zu verkünden.

    Randall: Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob der Priester die Wahrheit auch gesucht hat oder immer nur glaubt, sie schon zu kennen. Wissenschaftler jedenfalls suchen die Wahrheit.

    ZEIT: Warum sollten wir den Wissenschaftlern mehr vertrauen?

    Randall: Sollten wir nicht! Wir sollten zuhören, was sie sagen, und dies kritisch hinterfragen. Es ist wie beim Arzt. Er hat das Fachwissen, das dem Patienten fehlt. Wenn man einen Chirurgen fragt, warum man sich dieser oder jener Operation unterziehen soll, dann wird man die Antwort meist nur bis zu einem gewissen Punkt verstehen. Der Rest ist Vertrauenssache. Wissenschaftler stellen sich jedoch gegenseitig ständig infrage. Ich kann als Physikerin nicht einfach irgendetwas behaupten. Ich muss erklären, warum das, was ich sage, stimmt, wie ich darauf gekommen bin und was es bedeutet.

    ZEIT: In Ihrem neuen Buch Die Vermessung des Universums schreiben Sie, dass die Religion im Konflikt mit der Wissenschaft steht, weil sie nicht nur Aussagen über das Verhältnis des Menschen zur Welt macht, sondern auch über die Welt selbst – in Konkurrenz zur Wissenschaft.

    Randall: Solange Religion Privatsache ist, etwas Persönliches, kommt sie nicht mit der Wissenschaft in Konflikt. Wenn sie aber behauptet, dass Gott oder eine übernatürliche Kraft in die Welt eingreift, dann fordert sie die Wissenschaft heraus, weil die Wissenschaft sagt, dass alles in der Welt nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung geschieht. Wenn jemand behauptet, er habe diese oder jene Entscheidung getroffen, weil Gott ihn geleitet habe – dann riskiert er meinen Widerspruch. Denn ich sage, dass jede Wirkung eine Ursache haben muss und allem eine physikalische Struktur zugrunde liegt. Wenn etwa keine Synapsen in unserem Gehirn feuern würden, dann könnten wir keine moralischen Entscheidungen treffen. Wer wirklich glaubt, dass Gott bei diesen Entscheidungen mitspielt, muss erklären, wie Gott das Feuern der Synapsen beeinflusst.

    ZEIT: Die Vorstellung, dass Gott aktiv in den Weltenlauf eingreift, haben die Europäer doch schon im 18. Jahrhundert aufgegeben. Seither gilt eine Arbeitsteilung: Die Religion sagt, was gut und böse ist. Die Wissenschaft untersucht, wie die Welt funktioniert.

    Randall: Ich sage nicht, dass die Naturwissenschaft moralische Entscheidungen begründen kann. Ich sage nur, dass all unser Denken und Handeln letztlich auf einer physikalischen Struktur basiert.

    ZEIT: Das ist Materialismus pur.

    Randall: Es ist wie mit der Musik: Sie zu verstehen bedeutet mehr, als nur zu beschreiben, wie die Atome in unseren Ohren schwingen. Dies ist zwar die Voraussetzung für die Wahrnehmung von Musik, aber wir würden nicht sagen, dass Musik in der Schwingung von Atomen besteht. Genauso ist die Moral mehr als Physik, aber es liegt unseren moralischen Entscheidungen eine physikalische Struktur zugrunde.

    ZEIT: Und wer diese Struktur verstanden hat, vermag Gut und Böse zu definieren?

    Randall: Das hängt von der Effizienz der Theorie ab. Wenn ich wissen will, wie ein Ball fliegt, könnte ich es mit der Quantentheorie versuchen. Aber auf diesem Weg würde ich nie die Antwort finden – viel zu umständlich. Genauso ist es mit vielen Fragen der menschlichen Natur. Ekel zum Beispiel oder eben Religiosität: Solche ontologischen Phänomene sind uns vermutlich von der Evolution einprogrammiert. Aber es ist sehr umständlich, sie evolutionär, also auf einer grundlegenden naturwissenschaftlichen Ebene zu beschreiben. Man braucht hier eine effizientere Theorie. Das heißt nicht, die Evolutionstheorie zu leugnen. Sie ist zur Beantwortung unserer Frage nur nicht effizient genug.

    ZEIT: Liegt die Schwierigkeit bei der Beschreibung des Gottesglaubens wirklich nur in der Komplexität der entsprechenden wissenschaftlichen Theorie? Glauben ist doch eine fundamental andere Kategorie als alles, was wir sonst mithilfe von Atomen erklären.

    Randall: Trotzdem ist es eine Frage der Komplexität. Der Witz effizienter Theorien besteht darin, sich auf das zu konzentrieren, was auf der jeweiligen Stufe relevant ist. Wenn ich eine Europatour plane, brauche ich keinen Stadtplan von Berlin. Das heißt nicht, dass Berlin nicht existiert, aber ich brauche die Details nicht.

    ZEIT: Ist es demzufolge nur noch eine Frage der Zeit, bis Neurowissenschaftler verstehen, wie Moral, Liebe und Bewusstsein funktionieren?

    Randall: Keineswegs. Gerade in diesem Bereich wird vonseiten der Wissenschaft stark übertrieben. Wenn Neurowissenschaftler im Kernspintomografen ein Hirnareal aufleuchten sehen, dann hat das nur sehr begrenzten Informationswert. Wir sollten uns vor Übertreibungen hüten und offen über ungeklärte Fragen reden. Das ist kein Scheitern. Es gehört zur Aufgabe der Wissenschaft, dass sie uns auch das zeigt, was wir noch nicht verstehen.

    ZEIT: Gibt es für Sie als Physikerin gar keine festen Überzeugungen und unverrückbaren wissenschaftlichen Glaubenssätze?

    Randall: Doch, aber ich hänge nicht an ihnen. Wenn sich meine Überzeugungen als falsch erweisen, bin ich bereit, sie zu verwerfen.

    ZEIT: Letztlich ist es doch eine unbeweisbare Behauptung, also Glaubenssache, dass Moral auf physikalischen Mechanismen beruht.

    Randall: Da haben Sie recht. Wissenschaftler glauben, dass letztlich alles nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung geschieht. Aber beweisen können sie es nicht immer.

    ZEIT: Sind Naturwissenschaftler, die an Gott glauben, schlechtere Wissenschaftler?

    Randall: Wer Naturwissenschaftler sein will und gleichzeitig in religiösen Kategorien denkt, gerät in Schwierigkeiten. Ich habe Freunde, die brillante Naturwissenschaftler sind und dennoch an Gott glauben – vermutlich geht das nur deshalb, weil sie zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hirnregionen benutzen. An einem Tag gehen sie in die Kirche, am nächsten untersuchen sie Moleküle. Religion gehört zu ihrem Lebensstil, aber nicht zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit.

    ZEIT: Immerhin haben sich viele große Physiker auf Gott berufen: Isaac Newton, Albert Einstein, Stephen Hawking.

    Randall: Newton war religiös, aber er lebte in einer anderen Zeit. Hawking beruft sich auf Gott, um in die Zeitung zu kommen. Bei Einstein bin ich mir nicht sicher. Manche Leute sagen, er habe an Spinozas Gott geglaubt.

    ZEIT: Baruch de Spinoza gilt als Begründer des modernen Pantheismus, er war überzeugt, dass Gott eins sei mit dem Kosmos und letzten Endes diesseitig sei, dass das Göttliche sich in den Erscheinungen der Natur zeige. Sein Credo lautete »Deus sive natura«. Er wurde wegen Atheismus verfolgt, weil er die Existenz eines Jenseits leugnete.

    Randall: Eben.

    ZEIT: Der Teilchenbeschleuniger LHC soll gerade die ersten Spuren des lange gesuchten Higgs-Teilchens gefunden haben. Nach einer neuen Berechnung könnte hinter diesen Messungen auch ein weiteres Teilchen stecken, das nach Ihnen benannt ist: das Randall-Sundrum-Radion. Was zum Teufel ist das?

    Randall: Die Randall-Sundrum-Theorie beruht auf der Vorstellung zweier sogenannter Branen an den zwei Enden eines höher dimensionalen Universums. Unsere Welt ist eine dieser Branen.

    ZEIT: Gibt es dieser Theorie zufolge also zwei statt unendlich vieler Universen?

    Randall: Man kann die zwei aber auch als Teiluniversen eines größeren Universums auffassen, jedes mit eigenen Atomen und Kräften. Sie sind aber nicht unerreichbar weit voneinander entfernt, sondern hängen kausal zusammen.

    ZEIT: Wie weit liegen sie auseinander?

    Randall: Im Prinzip könnten sie beliebig weit auseinander oder nah beieinander liegen. Vermutlich sind es aber nur 10 hoch minus 31 Zentimeter.

    ZEIT: Wie soll man sich das denn bitte vorstellen?

    Randall: Wir müssen es uns nicht vorstellen. Was bringt uns das? Wir können es ja berechnen und messen. Wenn Sie sagen, Sie wollen es sich vorstellen, dann meinen Sie doch: es sehen. Wir können es nicht sehen. Na und?

    ZEIT: Wie können Sie über Sachen nachdenken, die unsichtbar sind?

    Randall: Ich kann eine Gleichung aufschreiben.

    ZEIT: Das klingt ziemlich abstrakt.

    Randall: Wenn Sie an Gott denken, obwohl Sie ihn nicht sehen können, wie stellen Sie sich ihn dann vor?

    ZEIT (Rauner): Fragen wir mal meinen Kollegen Tobias Hürter, der ist Christ.

    ZEIT (Hürter) »Du sollst dir kein Bild machen«, sagt das Alte Testament.

    Randall: Na also. Nur in der Wissenschaft erwarten Sie, dass es von allem ein Bild gibt. Wie sieht aber die Liebe aus? Es gibt so viele Dinge, für die wir kein Bild haben. Tobias, Sie hätten mir gleich sagen sollen, dass Sie religiös sind.

    ZEIT (Rauner): Sein Vater ist Priester.

    ZEIT (Hürter): Ja, katholischer Priester.

    Randall: Wie geht das denn? Ist er verheiratet?

    ZEIT (Hürter): Ja.

    Randall: Aber er ist doch katholisch.

    ZEIT (Hürter): Als er meine Mutter kennenlernte, hat er beim Papst um seine Entlassung aus dem Klerus ersucht. Aber Priester ist er geblieben. Das kann nicht einmal der Papst so einfach zurücknehmen. Denn die Priesterweihe ist ein Sakrament und unumstößlich – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Theorien.

    ZEIT (Rauner): Sind Sie eigentlich getauft?

    Randall: Ich bin jüdisch, aber wir waren nie religiös. Und Sie?

    ZEIT (Rauner): Ungetauft.

    ZEIT (Hürter): Gut, dass wir das geklärt haben. Professor Randall, könnten die vor Kurzem am Cern gemessenen Daten tatsächlich vom Randall-Sundrum-Radion stammen?

    Randall: Durchaus möglich.

    ZEIT: Wäre das ein hinreichender Beweis für die Existenz anderer Universen?

    Randall: Wenn wir wirklich das Randall-Sundrum-Radion fänden, dann wäre es ein starker Hinweis darauf.

    ZEIT: Und ein Triumph für Sie.

    Randall: Ja. Aber ich rechne nicht damit. Trotzdem sollte weiter daran geforscht werden. Das ist der große Unterschied zwischen Religion und Wissenschaft: Wir kennen die Antworten nicht. Wir müssen sie suchen.

    Ende Zitat DIE ZEIT

    Wie lange noch werden wir CERN in Genf betreiben? Nicht alle Staaten Europas wollen es unterstützen, also finanzieren. Was ist der Nutzen von CERN? Was ist der Nutzen des Hubble-Teleskops?
    Bildung wird immer mehr zu einem Privileg, einem kostspieligen Privileg. Die Gesprächspartnerin der ZEIT-Redakteure Rauner und Hürter, denen an dieser Stelle für ihre versierte Gesprächsführung gedankt sei, gehört der amerikanischen Bildungselite an. Ihre Heimat sind die erlesensten Universitäten der Vereinigten Staaten. Es ist hilfreich, die Ansichten einer solch eloquenten Physikerin der vordersten Front zu studieren. Sie nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Sie sagt, sie ist der Auffassung, alles lasse sich physikalisch, also materiell erklären. Damit wiederholt sie das Diktum des von ihr kurz anpolemisierten Stephen Hawking. Alles läßt sich physikalisch erklären. Biochemie ist letztendlich Elementarphysik. Aber gleichzeitig ist sie sich sicher, Hawking spräche von Gott nur, um in die Zeitung zu kommen. Ursache und Wirkung. Frau Randall kennt Stephen Hawking besser als dieser sich selbst. Gut, sie ist 49, er 66. Hawking war dem Tod immer näher als Frau Randall. Behaupte ich einmal. Er dachte öfter an den Tod als sie.
    Frau Dr.Randall gehört der Elite an. Nur die Allerwenigsten verstehen sie. Ihr Beruf ist ein elitäres, kostspieliges Steckenpferd. „Wir denken über Branen nach, im Großen. Und über letzte, fehlende, noch dazu nach mir benannte Elementarteilchen, im Kleinen. Sie zu entdecken wäre ein Triumph, ja, ein Triumph.“ Ja, die Wissenschaft ist frei. Als angesehene Wissenschaftlerin darf man frisch vom Leder ziehen. „Think big. And, think small!“ Alles ist erlaubt unter der Fahne des wissenschaftlichen Experimentierens. Alles ist eine Frage von Gleichungen. Der Glaube darf über Bord gehen. Was für eine Welt, in der manche kluge Zeitgenossen leben, kann ich da nur ausrufen. Sie schaffen es, so ganz allein mit ihren Gleichungen zu leben. Aber sie sind ja nicht allein. Sie haben viele Gesprächspartner und viele Zuhörer. Studenten, die ihnen zuhören müssen, wollen sie weiterkommen. Frau Randall befindet sich in einer gesicherten Position, trotz ihrer vermeintlichen Unbefangenheit. Doch die Frage darf gestellt bleiben: Hilft es uns weiter? Wohin führt uns dieser wissenschaftliche, kostspielige Diskurs, von dem die Mehrheit der Menschheit noch nie etwas gehört hat, und von dem der stille Mensch, der, der davon gehört hat, sich fragt, was bringt mir das? Ist das überhaupt Wissen? Rettet mich solches Wissen vor dem Sterben? Beantwortet mir solches Wissen jene Fragen, die ich mit mir im Herzen herumtrage, still, denn alle lachen mich aus, sobald ich den Mund aufmache? Unzeitgemäße Fragen, unzeitgemäße Antworten. Immer mehr Menschen werden von Bildung ausgeschlossen. Bildung wird immer teurer. Jene Bildung, die anerkanntes Wissen repräsentiert. Anerkannte Hypothesen.

    Doch die Lebenspraxis der Sozietät basiert nicht auf Hypothesen, sondern auf faktischer Exekution. Wir marschieren in den Irak unter einem Vorwand ein. Wir wissen nur allzu genau, der Irak verfügt über keine chemischen Massenvernichtungswaffen. Wir exekutieren einfach unseren Mastermind-Plan. Collateral damage, eine Million Iraker, interessiert uns nicht. Nicht einmal, wie wir unsere GI´s gegen all die Greuel abhärten.

    Vor Frau Randall ziehe ich dann den Hut, wenn sie einmal ein Wort zu Friedrich Dürrenmatt´s „Die Physiker“ verliert, zum „Manhattan-Project“ und zu Kollegen wie Jószef Rotblat, die aus demselben Projekt ausschieden und schlußendlich, wie Rotblat 1995, den Friedensnobelpreis bekamen für ihren unermüdlichen, couragierten Eintritt gegen Atomwaffen.

    Die lässig dargelegten Forschunsgebiete der Kernphysiker, die es sich erlauben können, einen ebenso lässigen Seitenkommentar an die Kosmologen zu richten, leben nicht von Fragen der Vorstellung (und wenn, dann erst in zweiter Instanz), sondern vom Budget jeweiliger Staaten, die sich von dieser Finanzierung etwas erwarten. Doch was? Und wie lange noch? Wie lange noch unterhalten wir uns mit Zahlenspielen über das Alter und die Ausdehnung unseres Universums, wie lange noch über den Aufbau der Materie, während unsere Sozietät sich immer mehr aufheizt, ja bereits zu brodeln beginnt?

    Juan Matus sagt, das brutale Verhängnis des Menschen sei es, zu meinen – also so zu tun -, als sei er unsterblich. Doch sein endgültiger Untergang wird eines Tages sein, zu meinen, er könne diese magische Welt endgültig erklären und verstehen. Das, so meine ich, gilt es zu bedenken. Bedächtig.

    Hawking sagte letztes Jahr im Guardian-Interview, er habe noch viel vor und es mit dem Sterben nicht eilig. Doch nicht alle teilen seine Meinung. Manchen wird bei der Vorstellung der „gähnenden Leere“, die zwischen dem Fußball-Proton zu meinen Füßen und dem Apfel-Elektron 50 Meter entfernt, draußen im Garten, herrscht, ziemlich unwohl, und es braucht nur einen Stupser, und sie sagen sich, diese gähnende Leere, dieses absolute Nichts ertrage ich nicht mehr. Und so schreiten sie zur Tat. Zur Selbstauslöschung.

    Man darf, ja, man muß dagegenhalten. Man muß, wie die Frau Professor richtig sagt, argumentieren. Etwa dergestalt:
    „Schwindet die wesentliche Möglichkeit, auf Grund gegebener Notwendigkeit [und nicht durch Zufall] zu sein, in ihrer Bedeutung [mein Leben wäre also etwas wert, weil es gewollt ist], dann gähnt uns in allen Dingen eine Gleichgültigkeit an, deren Grund wir, wie Heidegger sagt, „nicht wissen“: „Aber wer will so sprechen, wo der Weltverkehr, die Technik, die Wirtschaft den Menschen an sich reißen und in Bewegung halten? Und trotzdem suchen wir für uns nach einer Rolle. Was geschieht darin?, so fragen wir erneut. Müssen wir uns selbst erst wieder interessant machen? Warum müssen wir das? Etwa, weil wir selbst uns, uns selbst langweilig geworden sind? Der Mensch selbst sollte sich selbst langweilig geworden sein? Warum das? Ist es am Ende so mit uns, daß eine tiefe Langeweile in den Abgründen des Daseins wie ein schweigender Nebel hin- und herzieht?“ Was besagt es, wenn Gleichgültigkeit, ob etwas ist oder ob nichts ist, alles durchzieht? Zeigt sich am Ende der Gedanke der Vergänglichkeit als eine rationalisierte Gestalt tiefster Langeweile? Wäre diese Grundstimmung dann ein Indiz für die Flucht vor der Aufgabe, mit Anderen und in der vollen Spannweite der Welt anwesend und selbst zu sein? Vermag man dies auszudenken?“ (Augustin Karl Wucherer-Huldenfeld, Aufgabe einer postatheistischen Erneuerung philosophischer Theologie. In: Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein, Band 2, Wien 1997, S.112)

    So redet ein Christ, der sich all meine Anerkennung verdient hat. Er stellt sich der Frage: „Kann es sein, daß unser Leben nicht gewollt ist? Wie kann Leben entstehen, wenn es nicht gewollt ist. Wie, wenn nur unpersönliche Gesetze walten?“
    Genau dieser Letztfrage weichen die etablierten Star-Naturwissenschaftler hartnäckig aus, denn sie hantieren als Hohepriester in der Kathedrale des CERN in Genf. Hohepriester ihres Gottes.
    Dieser Letztfrage, die sosehr unter den Nägeln brennt: „Bin ich persönlich in meinem Leben gemeint oder nicht?“

  4. Der Mann, der vom Himmel fiel
    Neil Armstrong zum Gedenken

    Vielen von uns bleiben die schwarzweißen Fernsehbilder eines unwirklich, gleißend hell wirkenden Szenarios an jenem Morgen des 21.Juli 1969 unvergeßlich, als dieser Mann als erster Mensch den Boden unseres Trabanten betrat. 600 Millionen Menschen waren, so Schätzungen, bei diesem historischen Moment dabei. Ja, das ist Historie! „Ein kleiner Schritt für einen Mann, doch ein großer Schritt für die Menschheit.“ Einer der unvergeßlichen Aussprüche der modernen Zeitgeschichte. Ein Farmerssohn aus Ohio, von Kindheit an begeistert vom Traum des Fliegens, betritt den Mond. Seinen Fußabdruck verweht kein Windhauch, nur der glühende Sonnenwind über die Jahre. Wer kann es ihm nachfühlen, wie dieser erste Schritt von der Steigleiter hinunter auf den Staubboden war? Wir wissen nicht, was Neil Armstrong gesehen hat, im Glanz der am Horizont stehenden Sonne, er selbst eingehüllt in einen lebensnotwendigen Schutzanzug, sein Gesicht geborgen in einem großen, die UV-Strahlen der Sonne abweisenden Helm, der ganze Anzug durchpumpt von Sauerstoff im Erdatmosphärendruck. Wir wissen nicht, was sie gesehen haben, die beiden Amerikaner Armstrong und Aldrin. Sie hißten die US-Flagge, sammelten Gesteinsproben und machten ein paar Juckssprünge in der Luftlosigkeit des sechsmal leichteren, angeblich toten Himmelsgestirns, das so brav an unsere Erde gekettet bleibt. Dann hob der Adler wieder hoch, um sich mit der von Michael Collins einsam gesteuerten Raumkapsel im Mondorbit zu verbinden. Und so kehrten sie zur Erde zurück, koppelten sich vom letzten Raketenteil ab und als kleiner Kegel tauchten sie mit 20.000 Kilometern pro Stunde ein in die Atmosphäre, und die Stahlplatten glühten auf. Doch der Schutzschirm, erdacht und erbaut von einem Technikteam rund um Wernher von Braun, hielt, anders als bei „Atlantis“ 2003. Die kleine Kapsel glühte auf und dann, in 10.000 Metern Höhe, warfen sie die Fallschirme aus, drei an der Zahl, und segelten an ihnen hinein in den Pazifik, punktgenau, zu den Schiffen der US-Navy, die bereits gespannt auf die Rückkehrer warteten. Danach verbrachten die drei Astronauten mehere Tage in klaustrophobischer Quarantäne, bis sichergestellt war, sie sind nicht bakterienverseucht.
    Von Neil Armstrong ist bekannt, daß ihm Publicity zuwider war. Er zog sich ins Privatleben zurück, lehrte an einer Universität des Mittelwestens Raumfahrttechnik und heiratete 1992 zum zweiten Mal. Er war ein strikter Befürworter einer bemannten Mars-Mission. In vereinzelten Kreisen der UFO-Lagers wird er – die Quelle dafür ist mir nicht bekannt – mit dem Spruch zitiert, „IHRE Schiffe seien gigantisch und in der Technologie der unseren weit voraus.“ Wir wissen nicht, was der Astronaut Neil Armstrong im All erlebt und gefühlt hat, und auch von seinen Gedanken ist nur wenig bekannt. Ein Geständnis immerhin ließ er eine Interviewpartnerin in den späten Achtzigern wissen, jenes, er habe die Erfolgschancen für Apollo 11 nur bei 50% angelegt. Was für ein Wagemut! Eines Kampfpiloten im Korea-Krieg und späteren Testpiloten der Air Force nur würdig. Was hat Neil Armstrong wirklich gesehen? Er war gläubig, das wissen wir. Anders als Juri Gagarin, dem Paradekosmonauten, der nach Gott im All erwartungsgemäß vergeblich Ausschau hielt. Was hat Michael Collins auf der Rückseite des Mondes bei seinen einsamen Umkreisungen gesehen? Jener Rückseite, die sich uns Erdenwürmlern, welch geheimnisvolle Ironie, nie zeigt. Neil Armstrong kehrte zurück und wurde wortkarg. 2004 wurde der Apollo 11-Besatzung noch einmal die Ehre eines Empfanges bei George Walker im Oval Office zuteil. Die Kontraste hinter der protokollarischen Formalität hätten nicht krasser ausfallen können. Auch wenn Barrack Obama Jahre später die NASA-Mittel aus purer Staatsraison drastisch kürzen mußte, er und unser Held, der diese Woche, vor fünf Tagen, vom EINEN Sternenschöpfer heimgeholt wurde, hatten eines gemeinsam: den Glauben, daß am Ende doch die Wahrheit siegt. Mit einem kleinen Detail im Unterschied: der kosmischen Wahrheit, von der der Mann im Mond wie oft wohl geträumt haben mag? Wie oft wohl? Danke für Ihr Beispiel, Mister Armstrong! Nicht nur Amerika dankt Ihnen!

     

  5. Der große Wurf der Antithese

    „Die Antithese, Herr Professor Ratzinger, ist eine wissenschaftliche Kunst. Die Kunst ohne Gott auszukommen. Gänzlich ohne Gott. Er ist obsolet, überflüssig. Was, wenn es sich wirklich so verhält, frage ich Sie?
    Damit Sie mich richtig verstehen: Er ist nicht notwendig zur Erklärung des Kosmos. Nicht notwendig zur Erforschung des Kosmos. Nicht notwendig zur Erklärung des Menschen. Im Gegenteil: Die Vermutung liegt nahe, daß wir vor einer weiteren Relativierung stehen, nämlich jener der Multiversumstheorie. Die Naturwissenschaften relativieren den Menschen, und damit ihren Gott, von dem es heißt, er haben den Menschen nach seinem Ebenbild geformt.
    Es liegt der Schluß nahe, daß dem Menschen eine Erkenntnis nicht erspart bleibt, nämlich das Prinzip des Zufalls anzuerkennen. Die Gesetze der Gravitation haben sich zufällig ergeben. Der Kosmos entstand zufällig. Alles entstand zufällig, so auch der Mensch. Die Gesetze, denen der Kosmos unterworfen ist, sind willkürlich und doch einmalig. Sie gelten für den gesamten Kosmos, den uns bekannten Kosmos. Zufällige Veränderung und Auslese sind die Prinzipien, die auf Erden gelten, ja für die Erde selbst gelten. Werden und Vergehen sind, soweit wir sehen, die alles beherrschenden Gesetze. Wir sterben, und daran ist ganz und gar nichts Besonderes. Mit anderen Worten: Es gibt keine göttliche Absicht. Der Tag wird kommen, an dem wir über die Weltformel verfügen werden. Die Formel, die alles erklärt. Sie haben richtig gehört: alles. Warum mein Herz schlägt, warum ich mit der Wimper zucke, warum mir das Bier schmeckt und warum ich meinem Nachbarn eins über die Rübe ziehen möchte. Und warum die Lichtgeschwindigkeit ausgerechnet 300.000 Kilometer in der Sekunde betragen muß. Und wenn sie mich fragen, auch, warum der Zeitpfeil nach vor und nicht nach hinten gerichtet ist.
    Warum, Herr Professor, machen Sie da so ein Gesicht? Ich sehe, es ist Ihnen zuwider, was ich da von mir gebe, aber es tut mir leid, ich habe das alles nicht erfunden, aber wenn wir uns in einem einig sind, so doch wohl, daß wir beide, jeder von uns, sich der Wahrheit verpflichtet fühlt.“

    Stephen Hawking, der prononcierteste Pokerspieler auf Erden. Keiner vermag in seinem Gesicht zu lesen, ob er nicht gerade einen Royal Flush in Händen hält. Keiner tritt ihm zu nahe. Der Mann, der den reinen Gedanken verkörpert. Der wahre Hohepriester. Der wahre Moses. Der, der es sich leisten kann, sich zu wünschen, oben auf dem Mount Palomar oder im chilenischen La Silla die Gesetze der Welt direkt aus Gottes Händen zu erhalten. Und der es sich nicht verkneifen konnte, in der päpstlichen Sternwarte dem Papst aus Deutschland reinen Wein einzuschenken. Und der mir in Ayahuasca schon wieder dazwischenfunkt. „Hör mein Wort“, sagt er, „die Schwarzen Löcher werden noch bestehen, wenn der Kosmos wieder in sich zusammengebrochen sein wird. Und wenn der Kosmos kollabiert, werden sie viel zu fressen bekommen. Das wird den Verdampfungsprozeß verlangsamen. Der einsam in der Nacht Dahingrummelnde erkennt also: Auch das Ende der Welt ist relativ. Nur eines hat Bestand: die Mathematik. Pi, der perfekte Kreis, ist eine nicht meßbare Zahl, doch nicht unendlich. Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Einladung zum Tee nicht annehmen konnte, werte Herren. Er wird sicherlich exquisit schmecken. Daran hege ich keinen Zweifel.“

  6. Interview mit der Biochemikerin Reneé Schroeder

    (Standard, 30.3.2013)

    Kursivsetzungen als Hinweis auf kritische Stellen von W.H.


    STANDARD: Sie hatten nie einen Karriereplan? Außer, dass Sie als Kind zum Mond fliegen wollten?
    Schroeder: Genau. Als Juri Gagarin losflog, dachte ich als Achtjährige: Ins All fliegen, das ist das Beste. Ich hatte dann wirklich wenig Strategie in meinem Leben. Meine Karriere ist mir passiert.
    STANDARD: Aber Kinder wollten Sie immer haben.
    Schroeder: Absolut. Mit 30 wollte ich schwanger sein, mit 30 war ich schwanger.
    STANDARD: Sie haben inzwischen ja einen eigenen Stern. Wurde Ihnen gewidmet, als Sie 2003 Wissenschafterin des Jahres wurden.
    Schroeder: Ja, er liegt irgendwo am Hintern der Andromeda.
    STANDARD: Als Atheistin und Wissenschafterin sagen Sie, die Natur sei eine Anhäufung von Zufällen. Wobei nicht Gott würfle, wie es Einstein gesagt hat, sondern die Natur.
    Schroeder: Der Würfel in der Natur hat unendlich viele Seiten, und es wird ununterbrochen gewürfelt. Der Spielraum der Natur ist enorm groß. Es gibt sehr viele Ereignisse, von denen die meisten keine funktionelle Konsequenzen haben. Jene, die welche haben und die Evolution voranbringen, sind Zufallsereignisse, die man nicht voraussagen kann. Und wie definieren wir den Zufall? Wenn man das Gleiche nochmal macht, käme etwas anderes heraus.
    STANDARD: Einmaligkeit lässt sich nicht wiederholen.
    Schroeder: Sie ließe sich wiederholen, gäbe es genug Zeit und Möglichkeiten. Aber es gibt sie nicht.
    STANDARD: Ist der Zufall nicht nur eine andere Art zu sagen, dass man sich etwas nicht erklären kann?
    Schroeder: Nein. Nehmen Sie den genetischen Code: Da gibt es 20 Aminosäuren und 64 Möglichkeiten. Die Frage ist, ob es eine chemische Notwendigkeit dafür gibt, dass der genetische Code so ist wie er ist. Wir sagen, es gibt die nicht. Aber: Alle Organismen und Lebewesen auf unserem Planeten, die wir kennen, haben den gleichen genetischen Code. Das heißt: Er entstand durch Zufall, nicht durch chemische Notwendigkeit. Er ist eingefrorener Zufall. Wir könnten ihn ändern, aber dann ginge auch alles, was sich darauf entwickelt hat, alle Information, verloren.
    STANDARD: Wir sind also alle Zufallsprodukte?
    Schroeder: Wir sind natürlich ein Produkt des Zufalls. Auch Physiker sagen, dass etwas anderes als unser Universum entstanden wäre, wenn die Partikel, die beim Urknall entstanden sind, ein bisschen anders gewesen wären. Ich weiß nicht, warum Zufall so negativ besetzt ist und die Leute so stört.
    STANDARD: Weil viele wollen, dass ein Gott der Schöpfer war.
    Schroeder: Natürlich. Dass die Erde nicht Mittelpunkt des Universums ist, dass wir kein Produkt der Schöpfung sind, das ist eine kopernikanische Kränkung für religiöse Menschen. Freud ist ja auch eine Kränkung für sie: Dieses Ich und dieses Über-Ich – und das Unter-Ich. (lacht)
    STANDARD: Warum werfen Sie denen Überheblichkeit vor?
    Schroeder: Weil sie sich über die Dinge stellen und denken, sie seien mehr als sie sind. Wir Menschen glauben ja, dass uns der kulturelle Fortschritt zu etwas Besonderem macht. Dabei verlieren wir mit jedem Schritt, der unsere Überlebenschance erhöht, an physiologischer Fitness. Ohne unsere ganze Kultur würden wir kaum noch überleben.
    STANDARD: Im Wald wäre es schwierig …
    Schroeder: (lacht) Früher konnte man sich noch orientieren, heute geht man mit dem GPS Wandern.
    STANDARD: Physiker Heinz Oberhummer sagt, dass Menschen aus Sternenstaub sind. Mir gefällt diese Vorstellung. Ihnen auch?
    Schroeder: Staub ist mir zu undefiniert, wir sind schon sehr gut organisierte Momente. Was ist Sein? Sein, das ist eine Annäherung, denn man ist nie, weil man sich immer verändert. Der Augenblick, in dem wir uns nicht verändern, ist so kurz, dass wir eigentlich nie sagen können: Wir sind. Wir werden, weil sich im Körper, in unseren Zellen immer etwas abspielt, sodass wir nie so sind wie vor einer Sekunde.
    STANDARD: Beunruhigend.
    Schroeder: Das ist neutral. Nur für Leute, die gern mehr Sicherheit haben, ist die Erkenntnis einer Wissensgesellschaft, wonach man nicht weiß, wohin es geht, beunruhigend. Und genau darauf baut der Erfolg vieler Religionen auf. Wenn die Kirche sagt: Das ist so, weil Gott es so haben will, dann ist das für viele beruhigend, sinngebend, tröstend. Religion gibt einem ein Weltbild, in dem man sich geborgen fühlt: Da ist ein Vater, der sich um einen kümmert, der sorgt und straft.
    STANDARD: Sie haben jüngst in einer ORF-Diskussion gesagt, Christen glaubten an „Quatsch“. Jemand sagt über Sie, Sie vertreten Ihren Atheismus mit der „Verve des Gläubigen“. Tun Sie das?
    Schroeder: Ich bin keine Religionsgegnerin, die Gläubigen leisten zum Teil Sensationelles und jeder soll seine Religion, sein Weltbild haben dürfen; insofern tut mir das Wort „Quatsch“ leid. Aber den Machtapparat Kirche, der die Gläubigen und Gottesfürchtigen ausbeutet und daraus ein Vermögen zieht, den lehne ich ab. Und ich habe eine Aversion gegen das kirchliche Frauenbild und wie man Frauen behandelt. Ich verstehe nicht, warum Gläubige diese Ungerechtigkeiten mittragen.
    STANDARD: Kommt diese Aversion von Ihrer Zeit in katholischen Privatschulen in Brasilien und Luxemburg?
    Schroeder: Jedenfalls fand ich es enorm unsinnig, als der Pfarrer uns Mädchen damals gesagt hat, dass Gott für Frauen nur zwei Wege kennt: heiraten oder Kloster. Ich hab mich bei meinem Vater darüber beschwert, und er hat mir erklärt: „Wenn du groß bist, kannst Du alles machen.“ Wobei in Brasilien Kirche ganz anders funktioniert als hier, vor allem ist sie keine Staatsmacht. Damals war in der Messe Voodoo dabei, in der Kirche stand ein Topf mit einem Huhn drin und Kräutern, die afrikanischen Urriten waren da eingewoben. Es war bunt, divers, lustig, man war laut in der Kirche, und es gab nichts Angsteinflößendes. Als ich mit 14 Jahren dann nach Österreich kam, war das vorbei. Hier ist alles ganz ruhig in der Messe, die Gläubigen ducken sich und fürchten sich vor der Strafe Gottes. Und die Wissenschaft war bis ins 19. Jahrhundert ja auch in Geiselhaft der Religionen, bis weit nach der Aufklärung.
    STANDARD: Die war in Österreich nicht sehr tief verankert…
    Schroeder: Doch. Und zu Ende der Monarchie gab es sehr viel Toleranz, liberales Denken und Kreativität. Wien war Kulturhauptstadt der Welt, für Kunst, Wissenschaft, Musik, Physik, Architektur. Da herrschte ein toleranter Geist. Ich glaube, dass das jetzt wieder so ist. Allein, dass es ein Volksbegehren für die Abschaffung der Kirchenprivilegien gibt, deutet darauf hin. So etwas hat es, soviel ich weiß, noch nirgendwo gegeben.
    STANDARD: Österreich: ein Hort der Toleranz?
    Schroeder: Man soll über Österreich nicht verallgemeinernd schimpfen. Die Österreicher sind sehr tolerant, ein bisschen schlampig, und, was ich so toll finde:Sie sind nicht so verbohrt wie viele andere. Sie unterscheiden Wichtiges von Unwichtigem, und Unwichtiges interessiert sie nicht. Man findet immer eine Lösung, nichts ist starr. Daher ist Österreich ein Land, in dem sehr viel möglich ist.
    STANDARD Wien lieben Sie, Sie fahren daher gar nicht oft auf Urlaub. Welches sind Ihre Lieblingsplätze?
    Schroeder: Donauinsel, Prater, Jägerhaus, die Stimmung im Café Korb, die vielen Märkte.
    STANDARD: Fehlt Ihr Herrenzimmer.
    Schroeder: Wieso kennen Sie das?
    STANDARD: Weil Sie einmal sagten: „Die alte Emanze leistet sich ein Herrenzimmer“.
    Schroeder: Ich habe ja nichts gegen Männer. Das Zimmer haben übrigens meine Söhne eingerichtet.
    STANDARD: Sie üben dort Saxofon?
    Schroeder: Ja. Ich spiele wirklich schlecht, habe aber erst vor drei Jahren begonnen. Zu meinem 60er spiele ich erstmals vor Gästen.
    STANDARD: Sie forschen seit 30 Jahren, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Wie weit sind Sie?
    (Schroeders Kollege, Gustav Ammerer, kommt ins gemeinsame Büro.)
    Schroeder: Weiter als die Philosophen. Die Naturwissenschafter mit ihrer reduktionistischen Fragestellung waren immer erfolgreicher als die Philosophen, die seit 3000 Jahren über dieselben komplexen Fragen nachdenken und kaum weiterkommen. Jetzt wird es aber auch für uns schwieriger, weil wir technisch riesige Datenmengen erheben können, ihre Analyse aber immer schwieriger wird. Wir haben so viele Bäume, dass wir den Wald nicht sehen.
    STANDARD: Wissen wir überhaupt noch, was wir nicht wissen?
    Ammerer: Ja. Es wird immer mehr, was wir nicht wissen. Es gibt nur eine Sicherheit: Jeder stirbt einmal.
    Schroeder: Aber man weiß nicht, wann und ob’s wehtut. Ich will sterben, wenn mir das Leben reicht. Am liebsten würde ich davon schwimmen, hinaus ins Meer und verschwinden. Viele sagen aber, Ertrinken sei qualvoll. Also könnt ich auf den Berg gehen und erfrieren.
    Ammerer: Angeblich ist das Erfrieren auch nicht angenehm.
    Schroeder: Schön muss es ja nicht sein.
    STANDARD: Was macht den Menschen zum Individuum? Neurowissenschafter Eric Kandel sagt, das Gehirn mache uns zu dem, was wir sind. Das Herz spiele keine Rolle. Was sagen Sie?
    Schroeder: Den Menschen machen seine Genetik, seine Epigenetik und seine Erfahrung zum Individuum. Auch wenn man einen Menschen klonierte, wäre er ein Individuum. Viele fragen: Was passiert, wenn man Hitler klonierte. Würde er das Gleiche machen? Er wäre wahrscheinlich ganz anders, hätte ganz andere Erlebnisse gehabt, hätte vielleicht ein Stipendium und wäre ein schlechter Kunststudent. Und das Herz ist eine Pumpe und kein Gefühlsorgan – wenngleich es auf Gefühle sehr stark reagiert.
    STANDARD: Ich meine ja die Seele…
    Schroeder: Die Seele ist, wie Gott, eine kulturelle Erfindung. Wobei „Seele“ ja nicht definiert ist, am ehesten ist damit das Bewusstsein gemeint. Dass man über die eigene Existenz diskutieren kann, das ist natürlich eine tolle Leistung.
    STANDARD Passt zur letzten Frage: Worum geht’s im Leben?
    Schroeder: Im Leben geht’s um leben. Und im Kern um die Frage, ob man sich reproduziert – und ob man überlebt. (Renate Graber, DER STANDARD, 30./31.3.2013)

    Das Interview von Frau Graber mit der Biochemikerin Renée Schroeder, zu Ostern im österreichischen Standard erschienen, zeigt die gleiche Ausgangssituation und dieselbe Denk- und Argumentatonsstruktur wie jene der Physikerin Lisa Randall auf. Die Charakteristika sind parallel:
    • Frau Schroeder bezeichnet sich als Atheistin.
    • Sie gebraucht nichts desto trotz eine saloppe Sprache. Der Stern, der nach ihr benannt ist, liegt „irgendwo am Hintern des Andromeda-Nebels“. Warum hat sie diese Ehrung angenommen und nicht vielmehr als „ größenwahnsinnigen Quatsch“ tituliert?
    • Sie ist pragmatisierte Staatsbeamtin.
    • Sie bezeichnet das, woran Christen glauben, als „Quatsch“, das sogar im Fernsehen. Ein Theologe und Psychotherapeut kann so etwas nicht auf sich beruhen lassen und fragt nach: „Sie desavouieren den Glauben von 1,2 Milliarden Menschen so leichthin?“ „Ja, es bleibt Quatsch“, antwortet sie frech.
    • Sie nennt alles ein Produkt des Zufalls und sie definiert Zufall mit einmaliger Nichtwiederholbarkeit.
    • Sie sagt, es wird ununterbrochen gewürfelt. Der Würfel habe unendlich viele Seiten.
    • Sie sagt, die Einmaligkeit des Würfelergebnisses ließe sich wiederholen, hätten wir genügend Zeit und Möglichkeiten, aber die hätten wir nicht.
    • Sie sagt, der genetische Code habe sich zufällig gebildet und weiterentwickelt, weil er sich als funktionstüchtig erwies. Und: Die Wissenschaft könnte ihn ändern, aber dann ginge alle Information verloren.
    • Sie sagt, sie wüßte nicht, warum Zufall bei den Leuten so negativ besetzt ist. Dann gesteht sie doch im Handumdrehen zu, daß die Menschen Gott als Schöpfer wollen. Diesen Menschen wirft sie Überheblichkeit vor.
    • Das Herz ist eine Pumpe und kein Gefühlsorgan, sagt sie.
    • Dann sagt sie es deutlich: Die Seele ist wie Gott eine kulturelle Erfindung,
    und davor:
    Ihre Disziplin, die Biochemie, sei auf jeden Fall weiter als die Philosophie, die sich seit 3000 Jahren mit denselben komplexen Fragen herumschlage. Hier der Schulterschluß mit Stephen Hawking: „Die Philosophie ist tot.“

    Warum bleibe ich an diesem Interview hängen? Mich stört die Saloppheit dieser privilegierten Staatsbeamtin, ihr ungestörtes Schwadronieren. Sie steht kurz vor ihrer Pension mit 60 und darf dem Pulikum erzählen, daß sie Bergbäurin wird und sich mit alpinen Pflanzen beschäftigen wird. Aber das ist nur Kurzweil. Die Hammerschläge (siehe oben) werden postwendend nachgereicht, vom Lehrstuhl einer akklamierten (siehe eigener Stern in Andromeda) Akademikerin, einer Hohepriesterin der Biochemie, herab. Sie fährt mit den Gläubigen pauschal Schlitten, wie es ihr paßt. Sie sagt, es sei für die Gläubigen eine kopernikanische Kränkung, die Erde nicht mehr im Zentrum des Alls und sich selbst nicht mehr als Produkt der Schöpfung zu wissen. Die Kirche ist ihr ein Dorn im Auge, aus der Biographie (Ultimatum Mutter oder Nonne aus dem Mund eines brasilianischen Pfarrers) nur allzu verständlich. Aber Frau Schroeder sollte das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Schlußendlich, sehr geehrte Frau Professor Schroeder, reden wir in diesem Interview nicht über die Kirche, sondern wir fragen nach Gott, Seele und Herz. Über gottgewollte Einmaligkeit. Und da schwingen Sie zornig eine verbale Keule, ja treten geradezu einen ideologischen Flächenbrand, positivistisch abgesichert, wie Sie vermeinen, vom Katheder herab los.

    Es ist doch nur allzu deutlich, daß wir jetzt, zu Ostern, heute, Emmaus, vor der Frage nach dem Sinn des Lebens stehen. Und da, werte Frau Schroeder, kommt es lapidar, wie vom Balkon des Petersdomes: Im Leben geht es um Leben, und im Kern um die Frage, ob man sich reproduziert (haben Sie, wie Sie sagen, gut geplant, mit 30), und ob man überlebt (haben Sie, bis heute).

    Das Problem, das ich mit Ihnen habe, Frau Schroeder, dasselbe wie mit Frau Randall und Herrn Hawking, Sie treten in der Zeitung auf und keiner widerspricht Ihnen. Widerspruch ist nicht vorgesehen. Niemand hindert Sie bei der verbalen Verbreitung Ihrer Politik der verbrannten Erde.
    Sie hätten sagen können, Frau Schroeder, im Leben ginge es um Freiheit, menschliche Freiheit. Dann hätte ich „Danke“ gesagt, danke für dieses philosophische Statement. Aber Sie gestatten es sich, so wie Hawking und Randall mit der Philosophie Schlitten zu fahren und im selben Atermzug klammheimliche faschistische Polit-Philosophie zu verbreiten. Sie haben, mit Verlaub, Frau Professor, nicht Wucherer-Huldenfelds „Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein“ (2 Bände, 900 Seiten) und auch nicht seine Ferdinand Ebner-Widmung „Personales Sein und Wort“ gelesen. Sie muten dem Leser, ja, sie fordern es geradezu, zu, sich als Zufallsprodukt (wir reden hier von BLINDEM ZUFALL) zu verstehen. Sie beantworten eben ausgerechnet die Frage nicht, die jeden Menschen zutiefst bewegt: Welche Bedeutung hat mein Leben? Sie sagen, jemand würfelt. WER, in Gottes Namen, würfelt denn da? WER, in Gottes Namen, hält da einen unendlich vielseitigen Wüfel in der Hand? Sie sagen, die Natur. Was meinen Sie mit „Natur“? Vielleicht haben wir hier ein riesengroßes Mißverständnis auf dem Tisch und Sie meinen vielleicht, Frau Schroeder, Gott sei ein alter Mann. Warum sprechen Sie nicht von Immanenz, Frau Schroeder? Warum definieren Sie nicht Leben? Warum definieren Sie nicht Bewußtsein aus Ihrer Sicht? Warum setzen Sie sich nicht mit Herrn Schönborn öffentlich zusammen? Er wurde von Benedikt XVI. für den Dialog mit der Biochemie eingesetzt.

    Im Leben geht es um Leben. Das wird niemand bestreiten. Eine solche Behauptung hat philosophischen Gehalt. Doch dann schieben Sie nach: Im Kern geht es um die Frage der Selbstreproduzierung. Das, Frau Dr.Schroeder, mit Verlaub, ist ausgemachter Schmarren. Das ist faschistische Propaganda, hinter dem Deckmantel ihrer Wissenschaft. Aber daß Sie dann auch noch diesen abgehalfterten Slogan des Überlebens nachschieben und mit ihm das Interview beenden müssen, das, mit Verlaub, ist arm. Wie gesagt, faschistisch. Sagen Sie das jenen Eltern, die ihre Kinder mit Leukämie verloren haben. Mich stört, wie eingangs gesagt, Ihr saloppes ungestörtes Dahinplauern, Frau Dr.Schroeder. Aber zu sagen, es ginge ums Überleben, ist, so behaupte ich und sage es Ihnen direkt ins Gesicht, blasphemisch, und zumindest nicht durchdacht. Es ist nachgeplappert. Sie selbst, Frau Professor Dr.Renée Schroeder, werden zeitgerecht sterben, so wie wir alle, und dann hat es sich mit der Verbalfeuerwaffe „Überleben“ ausgespielt. Und dann tritt göttliche Autorität in Kraft und wird Ihre Seele zu sich zurücknehmen. Entschuldigen Sie, ich rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und ich nehme Bezug auf Sie. Darin bin ich Ihnen einen Schritt voraus, denn Sie finden es nicht der Mühe wert, auf die Gläubigen verständnisvoll einzugehen. Ich rede auch deshalb so, weil sie so lässig das Herz als „Pumpe“ disqualifizieren. Als Sitz der Gefühle, wie es Buddhisten meinen, kommt es für Sie nicht in Frage. Wo sitzt die Liebe, Ihrer Meinung nach, Frau Schroeder? Was ist Liebe, Frau Schroeder? Sie haben doch auch geliebt, als Sie 30 waren.

    Es geht nicht um Selbstreproduktion und nicht ums Überleben, sondern, wie es Herr Zemak (Kings Kollege, London, Ordinarius für christliche Ethik in Salzburg) im selben Standard auch jetzt vor Ostern als Schlußwort deponiert hat, um ein ständiges Voranschreiten in persönlicher Liebesfähigkeit. Lieben in Freiheit oder, wie Wucherer Huldenfeld es formuliert, den geliebten Menschen freigeben zu eigenem Sein. Oder wie es ein 9-jähriger Bub jüngst formulierte: „Ich fühle in meinem Herzen eine Sehnsucht zu Jesus. Ich möchte mich taufen lassen.“

    Nennen Sie das Quatsch, Frau Schroeder?

    Was Sie nicht meditiert haben, ja gar nicht meditieren wollen, Frau Schroeder, ist die Personhaftigkeit des Schöpfergottes. Ein Gott in drei Personen, das ist katholisches Bekenntnis. Das ist für Sie kulturelle Erfindung, die Erfindung eines Machtapparates. Für Sie ist das Quatsch. Männererfindung, so wie das Ultimatum „Nonne oder Hausmütterchen“ aus dem Mund eines Mannes kam.

    Für Sie ist Gott Quatsch und Christus ein armer Irrer, dessen Lehre im Lauf der Jahrhunderte wohl verfälscht wurde, oder? Und Sie selbst sehen sich als eine Freiläuferin, oder? Ein Produkt der Evolution. PRODUKT.

    Ich verstehe schon, Sie sehen die Frau in der Kirche diskriminiert. Sie kämpfen um Ihre Freiheit. Sie tragen Sandalen im Winter und werden Kräuterhexe. Sie lassen sich nicht mehr dreinreden und Ihre Biochemiesuppe kochen Sie selbst. Oben, auf Ihrem neuen Hof, auf 1.100 Metern, wozu ich Ihnen von Herzen gratuliere. Vielleicht komme ich bei Sturm einmal bei Ihnen vorbei, bei Blitz und Donner, so wie der Heilige Koloman, der Rom-Pilger, in seiner Kutte, und bitte Sie um etwas Wärme am Ofen. Dann, wenn Ihre Wut, die Sie zeitlebens verbergen mußten, verraucht ist. Vielleicht läßt sich dann das eine oder andere im Gespräch vertiefen.

    Frohe Ostern, Frau Dr.Schroeder, und ein herzliches „Vergelt´s Gott“ für diese außerordentliche Gedankenanregung und -systematisierung!

  7. Stephen Hawking (*8.1.1942, +14.3.2018)

    Der Physiker war ein Winterkind. Geboren im kältesten Monat des Jahres, gestorben heute. Dieser Tag sei ihm gewidmet, so auch die Erinnerung und Gedanken, die diesem Mann geschuldet sind.

    Dieser Mann hebt sich von der unermeßlichen Dummheit jener, die sich billig in Szene setzen wollen, ab. Ich brauche nur die heutige Tageszeitung aufschlagen, und darf sie angeekelt sogleich wieder weglegen. Ich ziehe das Gesicht dieses Gelähmten all den Lügengesichtern vor, die in Sachen Mord und Totschlag unterwegs sind. Ich sehe das Gesicht des vom Tod gezeichneten Burt Reynolds, dieses ehemaligen Parade-Machos, und ich sehe das niemals entspannte Gesicht der verhärmten Bundeskanzlerin, die heute zum vierten Mal angelobt wurde, Ziehkind degoutanter Verhältnisse. Mit all diesen Leuten habe ich eigentlich nichts zu schaffen. Mit dem Mann aus Cambridge hingegen schon. Ich meine, ich bin heute nicht der Einzige, der so denkt. Da der Physiker aus Cambridge, Vater von drei Kindern, seit 55 Jahren mit Amyotropher Lateralsklerose, einer ungemein aggressiven Todeskrankheit lebend, dort die kinderlose, in der DDR aufgewachsene Chemikerin, ein Kind ihrer Zeit, die militärische Paraden an der Seite von militärischen Oberbefehlshabern im Stechschritt abzunehmen hat. Eine Frau, die manche zum Zirkel der Verschwörer zählen und deren Unterschrift Bände spricht. Da der noble Brite, der keines seiner Bücher zeichnet, dort die Frau, die meint, der Deutsche Bundestag gehöre ihr und es auch durch ihr Tun bekundet. Sie zeigt Frau Dr.Wagenknecht und Herrn Dr.Gysie, die am Rednerpult stehen, den Popo. Doch was habe ich mit ihr wirklich zu schaffen?

     An Hawking fasziniert mich die körperliche Ausdauer und das Arbeitspensum. Alleine ihn zu beobachten, wie er Texte fabriziert, läßt einen nur staunen. Gut, wollen wir nicht ausschließen, er bekam von seinen Assistenten Texte eingespielt. Ich nehme es einmal an. Aber jene Reden, die mit gewissen Bonmots gewürzt waren, kamen doch aus seiner Feder. Das ging nicht mit jener Geschwindigkeit, in der ich meine Rasiermesserhiebe in die Tastatur vor mir hämmere. Hawking kannte somit Leichtfertigkeit nicht. Als Student schon. Das fürwahr und berechtigterweise. Doch danach nicht mehr. Ich mag ihn, weil er nicht log. Das ist elementar. Ich mag ihn, weil er Entwicklungen voranzudenken wagte. Ich mag ihn, weil er imaginäre Grenzen des Denkens überschritt. Grenzen der Furcht.

     Er gab, so wie der Pole Wojtyła, ein paar Sätze von sich, die man nicht zusammenknüllen und in den Papierkorb werfen kann. Ich werde die Bücher Hawkings niemals verkaufen. Er gilt gemeinhin als der Ahnvater der Theorie der Schwarzen Löcher, oder sagen wir gerechterweise: einer der Ahnväter. Aber da er auch in der Quantentheorie bewandert war (er und Anton Zeilinger, Träger der Isaac Newton Medaille, konnten sich wirklich gut leiden; lebhafter Gedankenaustausch), gab er der staunenden Außenwelt bekannt, ja, auch Schwarze Löcher enden, denn eines Tages verdampfen sie, dann, wenn das Universum längst zu existieren aufgehört hat. Die Fachwelt zögerte nicht, dieses Theorem die „Hawking-Strahlung“ zu taufen. Der relevante, höchst interessante Eintrag in der Wikipedia liest sich, als Lektüre des Tages – warum nicht? -, folgendermaßen:

    „Die Vorhersage der Hawking-Strahlung beruht auf der Kombination von Effekten der Quantenmechanik und der allgemeinen Relativitätstheorie sowie der Thermodynamik. Da eine Vereinheitlichung dieser Theorien bisher nicht gelungen ist (Quantentheorie der Gravitation) sind solche Vorhersagen immer mit einer gewissen Unsicherheit behaftet.

    Mit der thermischen Strahlung verliert das Schwarze Loch Energie und damit Masse. Es „schrumpft“ also mit der Zeit. Schwarze Löcher stellaren Ursprungs haben jedoch aufgrund ihrer großen Masse eine geringere Temperatur als die kosmische Hintergrundstrahlung, weshalb diese Schwarzen Löcher thermische Energie aus ihrer Umgebung aufnehmen. In diesem Fall ist also kein Schrumpfen des Schwarzen Loches möglich, denn durch die Aufnahme an Strahlungsenergie nimmt die Masse dabei gemäß der einsteinschen Masse-Energie-Äquivalenzformel zu. Erst wenn die Umgebungstemperatur unter die Temperatur des Schwarzen Loches gefallen ist, verliert das Loch durch Strahlungsemission an Masse.

    Was am „Ende seiner Lebenszeit“ mit einem Schwarzen Loch geschieht, ist noch unklar. Zunächst ist zu erwarten, dass die in der ursprünglichen Herleitung verwendete Näherung der schwachen Krümmung der Raumzeit nicht mehr gültig ist. Insbesondere tritt dabei das so genannte Informationsparadoxon auf. Es besteht in der Frage, was beim „Verdampfen“ des Schwarzen Loches mit der ursprünglichen Information geschieht, die bei der Entstehung in das Schwarze Loch hineingestürzt ist und gemäß bestimmter Forderungen aus der Quantenmechanik (Unitarität) nicht verloren gehen kann. Diese Frage kann im Rahmen von Hawkings Näherung nicht untersucht werden, da die kollabierende Materie rein klassisch und lediglich die resultierende Hawkingstrahlung selbst quantenmechanisch behandelt wird.

    Eine Verschärfung des Informationsparadoxons Schwarzer Löcher stammt von Joseph Polchinski und Kollegen (Feuerwall-Paradoxon, englisch: Firewall). Ein Inneres schwarzer Löcher gäbe es nach dieser Hypothese nicht, es wäre durch die Feuerwand begrenzt. Auch das Äquivalenzprinzip wäre durch die Feuerwall-Hypothese verletzt, da ein in das Schwarze Loch fallender Beobachter sehr wohl einen Unterschied bei der Durchquerung des Ereignishorizonts bemerken würde, er würde an der Feuerwand verbrennen. Ursache für deren Existenz wäre letztlich ein Satz der Quantenmechanik, wonach es Verschränkung immer nur zwischen zwei Teilchen geben kann. Bei Schwarzen Löchern wäre aber zum Einen ein Paar von Teilchen korreliert, von denen ein Partner im Schwarzen Loch verschwindet, andererseits aber auch eine Verschränkung mit anderen Teilchen in der Hawkingstrahlung gegeben. Nach Polchinski und Kollegen findet ein schrittweiser Transfer von Quantenverschränkung aus der Umgebung des Ereignishorizonts in die Hawkingstrahlung nach außen statt, was schließlich zu einer Singularität in Form einer Feuerwand im Innern des Schwarzen Lochs führt, an der die Temperatur divergiert. Eine Alternative wurde von Juan Maldacena und Leonard Susskind in ihrer EPR-ER-Hypothese aufgestellt (EPR steht für Einstein-Rosen-Podolsky und quantenverschränkte Teilchenpaare, ER für Einstein-Rosen-Brücken, speziellen Wurmlöchern) der Äquivalenz von Quantenverschränkung und Wurmlöchern zwischen den Teilchenpaaren, ausgebaut nach Entdeckung durchquerbarer Wurmlöcher durch Ping Gao, Daniel Louis Jafferis und Aron C. Wall. Das Informationsparadoxon wird gelöst, indem die einzelnen quantenverschränkten Teilchen der Hawkingstrahlung über Wurmlöcher mit ihren Partnern verbunden sind (Oktopus-Bild). Die Wurmlöcher wiederum verbinden kausal zwei Schwarze Löcher im Innern, deren Hawkingstrahlung über das Wurmloch quantenverschränkt ist. Das Feuerwand-Paradoxon wird vermieden, da außerhalb der Schwarzen Löcher der Kontakt der Teilchen nach wie vor über die gewöhnliche Raumzeit erfolgen muss.“ (Ende Zitat Wikipedia)

    In meiner Großspurigkeit meinte ich, wegen der philosophischen Defizite in Hawkings Büchern, die sich zeitweilig doch wie Rasiermesserschnitte ausnehmen, den Stab über ihm brechen zu dürfen. Heute, an seinem Todestag, ist das alles schon nicht mehr relevant. Es ist doch stupend. Es rührt mich geradezu zu Tränen. Das ist das Wirken Christi, nur eineinhalb Stunden nach dem Morgengebet. Wo ist Christus, der längst Überfällige?, fragen die Menschen. Die Antwort steht direkt vor mir, einfach, bescheiden, unanzweifelbar: Dort, wo Professor Hawking heute ist. Rencontre entre humains.

    Ich sage Ihnen, Stephen Hawking, Danke für alles. Für alles. Somit für Ihr Menschsein. Danke.

     

     

  8. Clemens Brentano    (Gedichte über Leben)
     
     
    Schweig, Herz! kein Schrei!
    Denn alles geht vorbei!
    Doch dass ich auferstand 
    und wie ein Irrstern ewig sie umrunde, 
    ein Geist, den sie gebannt,
    Das hat Bestand!

    Ja, alles geht vorbei!
    Nur dieses Wunderband, 
    aus meines Wesens tiefstem Grunde 
    zu ihrem Geist gespannt.
    Das hat Bestand!

    Ja, alles geht vorbei!
    Doch ihrer Güte Pfand, 
    jed Wort aus ihrem lieben frommen Munde, 
    folgt mir ins andre Land 
    und hat Bestand!

    Ja, alles geht vorbei!

    Frieden seiner Seele und allen Menschen zum Gedenken, die an ALS verstorben sind.
     
     
     

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel