Amazonisches Tagebuch 2021
Reichlich Regen seit 1.Dezember. Ein Herr aus dem Erzgebirge versöhnt sich mit seiner frauenbeladenen Vergangenheit und reist nach einem Monat bestärkt ab. Danach bricht eine verhehrende Krankheitswelle mit Dengue über das Dorf herein, die auch meine gesamte Familie bis zum heutigen Tag erfaßt und die Krankenschwestern des örtlichen Krankenhauses bei uns ein- und ausgehen läßt. Anderweitig sterben Dorfbewohner am brasilianischen Virus, so wie vergangene Nacht Vicente Nashnate Irarica (61), mein Nachbar und Schwager von Judith, ein immer aufmerksamer Lehrer, der seinen kleinen Rasen mit der Spitzhacke zu kultivieren pflegte, in den wiederum stark belegten Krankenhäusern in Iquitos und in Cavallococha, an der Grenze zu Brasilien, über die verzweifelte Haitianer neuerdings gewaltsam durchzubrechen versuchen. Migrationsströme allerorten. Don Pedro López Tamabi seinerseits, der ruhige, stille, immer aufmerksam freundlich verkaufende, zuverlässige Mann der Lehrerin Luz Maria, gediegen wohnhaft direkt gegenüber der Kirche, starb vor einer knappen Woche an perforierter Aorta, völlig unerwartet. Die Brujos nennen es Pulsario. Etwas muß ihm große Sorgen bereitet haben. Alle sind konsterniert. Das ahnte keiner. Ein Mann um die 55. Und mein Freund Don Juan Roger van Bancels, auch er nur 55, maximal, Chef der örtlichen Geldwechslermafia in der Morona, cuadra dos, ein Freund aus Brasilien seit 20 Jahren, immer korrekt, stirbt innerhalb von 8 Tagen am Virus, ohne Vorschäden, wahrscheinlich übertragen über die Geldscheine. Er hinterläßt eine gebrochene, in den ersten Tagen nach dem Verlust sprechunfähige Witwe und 3 Kinder, zum Glück alle bereits erwachsen. Ich kann es nicht fassen.
Die Kakaoplantage (2 x 9 Kilometer) darf ihren Betrieb, worin auch immer dieser besteht, wieder aufnehmen. Als Zeichen der politischen Versöhnung spendet die Direktion – aus welchen Nationalitäten auch immer diese besteht – 400.000,- Soles fuer Sauerstoffflaschen und den Vorantrieb einer diesbezüglichen Fabrik. Die Plantage produziert untauglichen Kakao. Wovon die geschätzten 100 Arbeiter bezahlt werden, weiß niemand. Seit einem guten Jahr ankert im Hafen ein Ponton der Marine, doch niemand hört etwas von nächtlichen Flusskontrollen. Polizei und Militär befinden sich auf Tauchstation. Die Hotspots sind derzeit an den Grenzen lokalisiert. Präsidentenwahlen stehen dieses Jahr an. Der „Kakao“ mit seinen schweren LKW’s jedenfalls investiert nichts in die Erhaltung unserer Dschungelstraße. So bilden sich mit dem Regen gewaltige Schlaglöcher, die keiner repariert, außer Don Pedro Guerra, dem der Kragen platzt und er somit eines Tages mit seinem Kleinlastwagen ausrückt, um einen Kanal zu legen. Doch das Übel droht von anderer Seite, an 3 Stellen, wo unteriridische Wasseradern das Bankett queren. Das gibt Einsenkungen wie auf dem Mond, und jeder Taxifahrer wird sich wieder durch die „Problemzonen“ durchkämpfen müssen wie im minenverseuchten Kriegsgebiet. Auch dies nichts Neues.
Die Regenzeit fällt heuer wirklich ausgiebig aus. Damit regeneriert sich die Tierwelt in Riesenschritten, nicht nur die Vogel- und Wildschweinwelt. Wo Wildschweine, dort Jaguare, bei uns eine Dreierfamilie. Der Vater, ein ausgewachsenes 100 kg-Exemplar, kommandiert die frechen Überfälle gegen die Bauern und unsereins. Hunde und Hühner stehen ja auch auf dem Speiseplan. Vorarbeiter Luis verwandelt sich am Schlag in einen Grosswildjäger, auch wenn ihm nur eine armselige Schrotflinte zu Handen steht. Doch mein Sohn, 16 Lenze, der beim Ansitzen teilnimmt, glüht vor Leidenschaft. Eine Begegnung auf 20 Meter, samt Knurren. Schlafen mit der Flinte in Griffweite. Der Herr des Waldes lugt neugierig aus seinem Versteck hervor, während die Wassermänner und – Nixen andernorts, nämlich im Fluß, sich launisch zeigen. Vorgestern ging den Fischern ein Stachelrochen ins Netz, von der Westseite des Flusses, der Luuvseite, die vor Schlamm strotzt. Ein Kapitalexemplar von mehr als einem Meter Durchmesser, wie es seit mehr als 20 Jahren nicht gesichtet wurde. Der Stachelhieb eines solchen Schlammgrummlers haut einen Stier um. Gut, auf die Idee, im Fluß mit Schwimmweste zu schwimmen, kommen nur weltfremde Gringos und gewisse verschrobene Altmeister. Die Einheimischen schütteln sowieso den Kopf.
Auf Medizinseite derweilen nur Harmonie. Dank den Mächten. La Madre redet sanft zu: „Bißchen ruhiger, mein Sohn, dann hörst du deine Mutter aus dem Totenreich.“ So redet sie ruhig. „Fürchte dich nicht! Alles nimmt seinen gottgewollten Lauf.“ Zuvor schon, bei Don Lucho, eine Szene in tiefer Trance: Eine junge, energische Frau im indischen Gewand tritt mir am Flughafen in Iquitos mit ausladenden Schritten entgegen und reckt mir die Hand schon von weitem entgegen. „Sie sind meine Rettung, Herr H., doch nur für kurze Zeit!“, exklamiert sie. „Ich brauche Sie, um stellvertretend für alles, was mir im Leben von Männerseite zugestoßen ist, das Verdikt auszusprechen. Dann bin ich wieder weg. Sie werden es ja aushalten, oder?“ Lebensecht. Unwillkürlich schmunzle ich und raffe mich aus dem Fauteuil hoch, während Don Luis heute abend, so scheint’s, mit seinem Gesang zu Hochform auflaufen möchte. Auch er offenbar ein Stück weiter versöhnt mit seinem Leben. Meister Huayra Caspi trägt das Seine zu diesem Monat der Medizin bei. „Gutes Denken heißt vor allem, richtig Beten“, raunzt er mir zu. „Verzeih allen, auch dir selbst!“ Das sind die eigentlichen Worte, die bleibenden, nach all diesen schweißgebadeten Nächten mit Fieberphantasien und Albträumen. Und plötzlich, schon wieder mit dem nächsten Guß, wird es ruhig. Angst verhallt. Ein kurzes Donnerrollen wie zur theatralischen Probe. Und ich kann mich den Toten widmen. Das ist nämlich auch Arbeit. Dieser Jahrzehntesatz stammt von Doña María Valera Teco, der Shipiba, die ich heuer mit einer Gruppe besuchen werde. Alles von Ayahuasca arrangiert.
0 Antworten
Santiago Guerra Lopez, Curandero (7.10.1928 – 10.3.2021)
Glaube und Sicherheit
Heute, 10 Tage nach Santiagos Ableben, begeht Eugenia ihren 81.Geburtstag, an dem sich Enkel und Urenkelkinder in unserem Haus versammeln. Knapp 10 Frauen kochen und sehen nach dem rechten. Als der Abend anbricht, ist bereits alles wieder zusammengekehrt, geordntet und gerichtet. Die Abfalleimer und Waschwannen quellen über. Nach den Begräbnisfeierlichkeiten vor 10 Tagen ließen heute 10 weitere Hähne für die Feierlichkeit ihr Leben. Die Jungmütter wissen alle bereits, wie man einem Hahn die Gurgel durchschneidet und ihn hängend ausbluten läßt, während noch die Flügel schlagen. Die Urenkelkinder schauen fasziniert zu. Zur Feier des Tages einige Lebenssprüche dieser Dame, die seit knapp 19 Jahren Tag für Tag meine Schwiegermutter abgibt.
„Du hast viel erlebt mit Santiago.“ „Ja, viel, doch davon zu erzählen lohnt jetzt nicht mehr.“ „Hat er dich geschlagen?“ „Ja, und wie.“ „Hat er dich gehaßt?“ „Ja, zeitweise. Santiago hatte das Böse in sich.“ „Wieso das?“ „Das weiß ich nicht. Schlimm genug, daß er es in sich trug.“
„Glaubst du, dein dritter Sohn hat tatsächlich 2 Menschen umgebracht, als er Senderista war?“ „Das werde ich dir als seine Mutter nicht beantworten. Ich werde dir auch nicht beantworten, warum mich Taré umbringen wollte.“
„Was ist Jähzorn, Mami Eugenia?“ „Gottesferne, Wolfgang. Und Auflehnung gegen den Allmächtigen.“
„Was bedeutet Gewalt gegen Tiere, Mami Eugenia?“ „Einen armseligen Charakter. Das bedeutet es. Nicht mehr und nicht weniger.“
„Die Kater nehmen überhand. Sie fressen die Canaris und gehen gegen die Schüsseln am Ofen. Außerdem hat einer den letzten Wurf gefressen. Sohn, kauf bitte bei Don Wilson 3 Giftpäckchen.“
„Mami Eñia, jetzt haben die Nachbarn uns den Rasse-Labrador bereits in der ersten Nacht vergiftet. Soll ich Skandal machen?“ „Nein. Trag den edlen Hund mit Taré hinunter zum Fluß. Er bekommt ein Flußbegräbnis. Das ist edel.“
„Mami Eñia, was denkst du über den Shapishico?“ „Ein Dämon. Für dich mag er gut sein, und du läßt dir seine Streiche gefallen. Bei mir hat er hingegen nichts zu melden. Ich weiß aber auch, daß er genau weiß, wie ich über ihn denke und rede. Das ist so bei uns Frauen, sobald wir uns mit der Medizin abgeben. Meine Medizin gefällt dir doch und hat dir schon viel geholfen, oder?“ „Das kann man wohl sagen. Dein Mapacho wirft mich regelmäßig zu Boden.“ „Steht dir gut an. Auch stolze Männer müssen wissen, wie sie vom hohen Roß herunterfallen, ohne sich wie der Gringo Scott das Genick zu brechen.“
„Vermißt du einen heißen Mann, Eugenia?“ „Nein, ich vermisse zwei. Zwei sind immer besser als einer.“
„Was weißt du sicher, Mami Eñia?“ „Gute Frage. Frag den Pastor. Er wird dir dasselbe sagen wie ich. Das Ende der Welt. Das weiß ich sicher, so wie ich jetzt rede und nicht tot bin. Christus wird wiederkommen, und dann ist Schluß mit allem.“
María Sabina Magdalena García, Shamana Mazateca de Oaxaca, *22 de julio de 1894, +23 de noviembre de 1985
Freunde im April
1.Juni 2021
Eine neue Innerlichkeit, womöglich aus dem Vermögen, endlich verzeihen zu können, stellt sich nächtens ein, erst recht, wie zu erwarten, in den Meditationen im Bett und, so hoffe ich, auch in den Träumen, solange sie nicht im Totenreich spielen. In den Ayahuascazeremonien ist Verzeihen weitgehend auch kein Thema, und Innerlichkeit fließt in den Nächten der Madre sowieso immer. Mit dem kalten Wetter heuer (in Europa wie in Amazonien) ruft das Bett bekömmlicherweise auch öfter, und wenn ein Wurzelsepp des Dschungels in seinem Leben und speziell in den Diäten etwas lernt, dann, sich bei erstbester Gelegenheit Im-Bett-Verkriechen wie ein Majas (eine Dachsvariante des Dschungels), der seine zumeist selbstgegrabene Höhle mit dem Jergón teilt, so wie die Schildkröten im Chapparal von Arizona und New Mexico, die bei Buschfeuer den Diamantklapperschlangen in ihrer geräumigen Wohnstatt Unterschlupf gewähren. Man sieht: Bösewichte sind nicht immer Bösewichte, und die meisten wissen sich in fremden Häusern zu benehmen. Das Bett ist ein sehr guter Ort für das Abarbeiten lebenswichtiger Themen, so wie für das Ausdehnen der eigenen Gewahrsamkeit. Lernen heißt ja Verstehen Lernen, und Verstehen führt – in der Regel sehr schnell, doch immerhin zügig – zu weiterem Fragen. Fragen ist immer gut. Fragen will gelernt sein. Mich selbst zu befragen ist auch nicht immer leicht. Oft zieren wir uns wie ein unlustiger Frosch, der sich launisch in einer Erdspalte verkriecht und das Weltengetümmel so wie den ausbleibenden Regen als uninteressanten Humbug sein läßt. Der Sinn steht ihm nunmal nicht nach Liebe, wozu also quacken, was ja doch nur diese wendigen Wendehälse von hungrigen Vipern anziehen würde? Doch wenn mein Motor schnurrt, dann liebe ich es zu knobeln, und Knobeln führt dann im gegebenen Moment zumeist auch zu einer Erinnerung, daß da oben ja auch noch einer wohnt, der sich auf individuelles Krisenmanagement versteht. Krisenmanagement ist ja so eine Sache, immerhin könnte es mir ja einfallen, erst mal zu leugnen, daß ich überhaupt in einer Krise bin. Dominic Thiems gegenwärtige Krise, zum Beispiel, wird als „durchwachsene Saison“ bezeichnet. Doch mit der Erstrundenniederlage gegen Pablo Andujar Alba, einen immerhin bereits 35-jährigen Tennis-Haudegen, in Roland Garros, einem der vier prestigeträchtigen Grand Slam-Turniere, steht das Dach nunmehr unleugbar in Flammen, und besorgte Journalisten (sofern es sie überhaupt gibt) fragen sich bereits, was die tiefer liegenden Gründe für diese amateurhaft anmutenden Niederlagen des heurigen Jahres sein könnten. Vielleicht Liebe? Vielleicht ein aufbrechender Vaterkomplex, so wie bei Stefanos Tsitsipas, der sich jedoch bravourös und wacker durch diese ödipalen Sümpfe und Stichflammen durchkämpfte und somit heuer on fire samt einem Turniersieg in Barcelona dasteht? Bei Dominic Thiem hilft mittlerweile kein theatralisches Gehabe am Platz mehr. Ja, die Leute fragen sich, was ist aus dem Dominator geworden? Vielleicht gar eine Depression wie bei Naomi Osaka, die heute einen Offenbarungseid leistete und von ihren mentalen Schwierigkeiten ungeschminkt auf ihrem Twitter-Konto berichtete. Und vom millionenschweren Turnier, bei dem sie ja als eine der Favoritinnen gehandelt wurde, zurücktrat. Ich scheue die Öffentlichkeit, im besonderen menschliche Interaktionen, schrieb sie. Gut so. Das ist nur allzu verständlich. Wer kennt das nicht? Ich kenne einen Herrn vom Fach, der mir nüchtern aufzählte, womit er in der Öffentlichkeit rechnet. Er rechnete mir vor, völlig ernsthaft: „2 von 15 denken an Selbstmord. 5 von 15 sind depressiv. 7 von 15 können nicht ohne Beruhigungs- oder sonstige Pillen leben. Vielleicht sind es mehr. Einer von 15 könnte ein Messer in der Hosentasche mit sich führen. In den USA führt sowieso jeder Autofahrer einen Revolver im Handschuhfach mit sich. Da kann man schnell auf die Idee kommen, sich den Lauf in den Mund zu halten und abzudrücken. Findest du diesen Gedanken abwegig, Wolfgang?“ Ich mache mir um Dominic Thiem Sorgen. So bin ich. Dabei ist er Mehrfachmillionär und ich eine arme Kirchenmaus. Um Roger Federer mache ich mir ja auch keine Sorgen trotz dessen zweier Knieoperationen und seiner dadurch bedingten Auszeit vom weißen Sport. Roger Federer hat durch Werbung alleine im letzten Jahr 90 Millionen Dollar verdient, durch zwei Partien im Tennis ein paar Zehntausend. Bald wird der Schweizer GOAT, der mit Frau und 4 Kindern in einer rundum verglasten Luxusmansonnière von mehreren hundert Quadratmetern am Hang lebt, nach Hollywood überwechseln. Schauspielerisches Talent kann man ihm nicht absprechen, immerhin gibt Robert de Niro in dem über eine Minute langen Clip für den Schweizer Tourismusverband den Gesprächspartner auf Distanz ab („Hi Bob!“). Naomi Osaka in Videokonferenz mit Merryl Streep? Undenkbar, leider. Dominic Thiem im Videochat mit Jonny Depp? Da gackern doch die Hühner! Nun gut. Lassen wir das. Aber Federer ist ein Phänomen. Er wird heuer, so raunen es die Auguren, nach Wimbledon zurücktreten, in standesgemäßer Form, Corona hin oder her.
Zu Corona kann ich nur sagen (und damit halte ich auch ein für alle Mal meine Klappe): Es gibt laut kompetenten Schätzungen rund 320.000 pathogene Viren, die von Tieren auf Menschen überspringen können. Jetzt haben wir ein Virus seit dem Dezember 2019, und was für ein Theater. Und wir haben das Klima, das auf uns zukommt. Wir haben Afrika, das auf uns zukommt, und Indien, und überhaupt die gesamte Überbevölkerung auf diesem Planeten. (Ein Gräuel für Naomi Osaka und jeden gestandenen, traditionsbewußten Tiroler). Und wir haben den Nihilismus und den Relativismus, der Josef Ratzinger ein Gräuel war. Der Relativismus, der ganz salopp in Talkshows und kokainfeuchten Parties predigen darf: „Es geht alles.“ So wie „No-Limit-Poker“ in Südkorea, Mazedonien, London oder Las Vegas, die mehrfach mit Chinesen, doch auch erklecklich vielen US-Spielern bestückt sind. Spielsucht ist nicht ohne, sogar in der Dritten Welt unter den Analphabeten, die in den rauchgeschwängerten Spielhallen den einarmigen Banditen unrettbar in die Falle gehen. Sogar Curanderos können spielsüchtig sein. Oder vielleicht betreten sie derartige Lokalitäten für psychologische Studien, wer weiß? Immerhin, das, was da auf uns zukommt, hat sich gewaschen, und wir können uns nur darauf vorbereiten. In aller erdenklichen Weise darauf vorbereiten, auf das zu Erwartende wie auch auf das Überraschende. Da kommt mir einer der jüngsten, zum wiederholten Male vorgetragenen Weisheitssprüche des „Ozeans der Weisheit“, Mister Tensin Gyatso, nur recht. „The purpose of life is to be happy!“ Ich mag ihn. Ich könnte nichts gegen ihn sagen. Ja, wahrhaftig. Genau bedacht, ist der Mann in Gelb einer jener wenigen Menschen, über die ich noch nie Schlechtes oder Kritisches gedacht habe. Mal nachdenken: Wer von all den Vielen war mir schon seit je über jeden Verdacht erhaben? Sei mal ehrlich, Wolfgang! Also: Gauthama Siddharta, Jesus, Pater Pio, Mahatma Gandhi, Baghavan Ramana Maharshi. Alle Märtyrer und Märtyrerinnen überhaupt. Die Widerstandskämpfer gegen den Hitlerismus. Der lächelnde Papst Albino Luciani samt seinem dritten Nachfolger, dem jetzigen, dem Argentinier. Über Ingmar Bergman und ein paar andere Regisseure könnte ich auch nichts sagen, ebenso wenig wie zu ein paar Schauspielerinnen wie der Wessely oder der Hörbiger. Also, sollte ich zusammenfassen, könnte ich sagen: die von Grund auf Ehrlichen. Ehrlichkeit ist eine Zier! Ja, da haben wir’s. Ich mag ehrliche Leute! Die ganz besonders. Apropos Ehrlichkeit: Die Vögel sind ja auch ehrlich, und ob ich das Verhalten des Kuckucks als Unehrlichkeit qualifizieren müßte, will ich mir nicht erlauben. Die Natur hat es so eingerichtet. Immerhin habe ich grad vor ein paar Tagen in Kritzendorf bei Klosterneuburg zum ersten Mal einen (es war mit Sicherheit immer derselbe) abends und nächtens rufen hören, es war ganz nah. Was ich früher, in meiner Kindheit, romantisch als den Kuckucksruf zu erkennen vermeinte, war der Ruf der Wildtaube, die von weither ihr immer gleiches Lied zu singen versteht. Den Kuckuck nehme ich als Tröster und Weissager von den letzten Tagen des Mai mit. Kuckuck, du, der du uns die Uhr zurufst. Es ist spät, mein Freund, verlier keine Zeit! Ich werde es mir merken. Und schmunzle über Schabernack, selbst wenn er dir gilt. Ist es nicht so?
August
Der kaiserliche Monat bringt uns neue Aussichten. Wir lernen Selbstbescheidung. Ein Kind begegnet mir mitten im Wald. Es ist 9 Uhr, ein Sonnenvormittag. Von etwaigen Eltern fehlt jede Spur. Ich lasse das Kind so, wie ich es antreffe. Ich verlangsame nicht einmal meinen Schritt. Besser so. Ich grüße es nur im Vorbeigehen. „Hallo!“ Das Kind erwidert meinen Gruß unaufgeregt: „Hallo!“ Damit ist klar, ich habe es nicht mit einem Kind zu tun. Dem Wesen gehören Platz und Moment. Ich bin nur passager. Umso wichtiger daher, mir nicht den Schreck in die Glieder fahren zu lassen und ganz normal weiterzugehen. Die Begegnung dort, wo meiner Gattin vor Jahren eine ausgewachsene Anaconda über den Weg lief, ihr, der sie, moderne Frau, die sie ist, in Sportschuhen aus Lima und mit Kopfhörern im Ohr beschwingt dahergetanzt kam, um 10 Uhr Vormittags, für eine ausstehende Visite im Kriegslazarett. Die lange Brücke vor der Tangarana-Kurve. Dort, wo sich die jungen Cascavels häuten. Gut. Mittlerweile haben sich die Verhältnisse ja doch kräftig verändert. Ich wüßte nicht, was noch vom Alten Bestand hat. Alles Altgewohnte hat neue Qualität, und genau besehen müßte ich ja eigentlich sagen (bekennen!), das Alte kommt nicht mehr wieder, und so auch nicht mein Drang nach hintantgehaltener, seit ewig bestehender Rache, möge sie sich noch so berechtigt geben. Einige maßgebliche Leute sind gestorben. Leute, die mir wirklich nahe standen. Das verändert alles, und den Rest besorgen Zeitgeist, Zeitklima und Medizin. Ein Umbruch findet statt und zugleich, so darf ich sagen, eine Reintegration. Eine Reintegration aller Toten in das Buch des persönlichen Lebens. Die Rekapitulation der Szenen eines Lebens ist mehr als nur die Rekapitulation der „Szenen einer Ehe“. Das Album der denkwürdigen Ereignisse füllt sich jeden Tag weiter. Bergman kannte das ja alles. Es ist nicht anders möglich. Und es ist mehr als das Trauern um die verstorbenen Eltern und all ihrer Bekannten und Freunde. Sie sind nunmehr alle tot, bereits seit Jahren. Bald werden es 10 Jahre sein, dann 50, dann 100. Der Revanchismus verpufft, so wie der Zorn über die unausrottbare Dummheit, die Vermüllung auf Schritt und Tritt. Ich exekutiere nicht mehr. Selbstbescheidung ist eine der höchsten Künste. Selbstbescheidung. Nicht Resignation. Doch langsam verstehe ich beides. Resignation aus Müdigkeit. Ich verstehe den Tod von Friederike Mayröcker nunmehr in aller ihr gebührenden Ehre hinzunehmen, sie, die auch den Preis aus Stockholm verdient gehabt hätte und die sich über Handke, den Gudrun Harrer – es sei mir bitte erlaubt – in ihrer typisch besserwisserischen Art als „Eigenbrötler“ abstempeln zu müssen vermeinte, nur nobel äußerte: „Ein Klassiker. Danken wir Gott, dass wir ihn haben. Ich bin nur Experimentatorin. Totengedenkerin.“ So sei es. Und so nehme ich den Tod meiner Freunde in aller mir möglichen Dankbarkeit hin und erinnere mich an ihre Zeit, damals, vor 25 Jahren und mehr. Ich bescheide mich im Gebet. „Du hast es so eingerichtet, somit sei es so. Es geschieht, auch wenn es nicht deine Absicht ist.“ Und dann, im Gebet, verschieben sich die Größenverhältnisse, und ein Vorhang hebt sich hoch. Einer der Versöhnung. Selbst wenn sie mit dem Spruch, „Nichts hat Bestand“ beladen ist. Nein, auch die Erde hat nicht Bestand, dann, eines Tages, den niemand kennt, wenn von dieser „Krone der Schöpfung“, die von sich behauptet, „Mir ist alles erlaubt“, auch nicht die geringste Spur mehr auszumachen sein wird. Dann, wenn auch die Erde – und mir ihr der Mond, wenn er noch existiert – sich im Feuer der Aufblähung auflösen wird.
„Ich lebe in Bildern. Ich sehe alles in Bildern, meine ganze Vergangenheit, Erinnerungen sind Bilder. Ich mache die Bilder zu Sprache, indem ich ganz hineinsteige in das Bild. Ich steige so lange hinein, bis es Sprache wird.“
Möglichkeit einer Insel
Hommage à Michel Houellebecq, zum Zweiten
Keiner imponiert mir mehr als dieser Écrivain. Der gegenwärtige Nummer Eins-Protagonist der Grande Nation. Der, der ans Ende geht, selbst unter dem Preis der Selbstbeschädigung. Der Kettenraucher (vormals). Der Höfliche (solange es ihm möglich ist). Der, der alle Fragen höflich beantwortet, sogar noch die indiskretesten. Michel Houellebecq’s Schreibstil zeigt auf seine Weise Einzigartiges. Der Stil alleine bereits. Vom Sujet noch ganz zu schweigen. Der Existentialist unserer Zeit. Einer, der genau weiß, wieviel die Uhr geschlagen hat. Dieses hypersensible Gesicht, dieses schlohblondgraue Haar, das jeden Moment mit der Hitze des Denkens in jäher Stichflamme hochlodern könnte (egal, ob in Polen, in Irland oder im Kosovo), wie staubtrockenes Laub, das sich selbst entzündet. Diese nasale Stimme. Diese nimmermüden, nunmehr doch nicht mehr dermaßen unstet herumwandernden Augen, die doch schon seit Langem nichts Sehenswertes mehr wahrnehmen müssen, nur mehr die öden Studioeinrichtungen von Fernsehketten, die meinen, sie wären es sich selbst schuldig, den Propheten der Endzeit jedes halbe Jahr zu Wort kommen lassen zu müssen. Die Endzeit der Grande Nation, la France. Das Land des TGV und der Ariane. Das Land der Fremdenlegion und der Staatspräsidenten, die abends im Motoroller zu ihrer Geliebten eilen. Das Land der ***-Restaurants. (Houellebecq liebt den Guide Michelin).
Der Mann bekennt: Die Liebe ist am Ende. Wir leben im Zeitalter der Einsamkeit, der Isolation. Wir leben in den nihilistischen Minuten der Masturbation, im günstigsten Fall in jenen der Prostitution. Wir leben im Fiasko des Christentums, im Fiasko der Geldwirtschaft sowieso. Alle Option gingen seit langem verloren. Wer noch brächte die Kraft auf, eine Insel zu erschaffen? Die Insel der Zweisamkeit. Die Insel des Dialogs, dem es nicht an Wortmangel gebricht. In dieser Phase der äußersten Anstrengung helfen nur die Erkenntnisse der Stunde in Gedichtform. Die völlige Nacktheit vielleicht. In dieser Stunde hälfe nur mehr … Bedürfnislosigkeit. Bedürfnislosigkeit, die sich dennoch Gewisses erlaubt, so wie einen Audi-Allrad oder – Bruderschaft zu Handke – gute Wanderschuhe. Alles für den Bedarfsfall, der mir vielleicht – wie sehr nur erhofft! – gleich um die nächste Ecke biegt, mit ausgebreiteten, einladend wirkenden Armen. „Da drüben, Herr Kollege, geht es zur Westküste. Das Donnern dort haben Sie mit Sicherheit noch nie gehört. Wollen Sie es nicht versuchen?“ „Die Monsterwogen von St.Nazaire genügen mir“, denkt sich der Dichter da ganz spontan, „doch vielleicht ist die Küste, die er meint, menschenleer? Das wäre vielleicht doch den Versuch wert. Menschenleere!“ Und so geht er los, in seinem Parka, ohne Pitbull an der Leine und ohne Zigarettenpackung in der Tasche. Und ein paar Hügel später, als er die letzte Düne überwunden hat, schon längst vom unaufhörlichen Donnern und Rollen, das die gesamte Insel direkt wegzufressen droht, unwiderstehlich angezogen, bietet sich ihm wie in einer verzerrten Perspektive der wildesten Phantasie William Turners die ganze brüllende Gewalt des Atlantiks, und jetzt, hier und jetzt, kapituliert Michel Houellebecq, nestelt nach seiner Zigarettenpackung in der Außentasche seines grünen Parka, doch nein, kein Tabak mehr, nur mehr Hilflosigkeit und Beschämung, und der Dichter, nicht ratlos ob dieses Momentes, der doch ganz allein (welch Geschenk!) ihm gehört, ihm hier, dem Einzigen weit und breit, er verweilt nicht unschlüssig und nicht in stiller Zynik, als stelle er sich die Frage: „Na und? Und was weiter?“, nein, er weiß, was dieser Augenblick inmitten zeitloser Ewigkeit von ihm erwartet und bescheidet sich. Der Dichter, nur mehr Mensch, ein einzig Gemeinter, hier und jetzt, er zieht sich mit Bedacht vollkommen aus, und so, nackt, wandert er dem Aufprall des Ozeans, dem keine Macht widersteht, entgegen, entgegen soweit er kann. Und die Gischt hüllt ihn ein und tauft ihn aufs Neue. Der Gott, Neptun, der ihn einhüllt mit dem kalten, erfrischenden Dampf einer Gischt, die alles zermalmen könnte, selbst die stärksten Basaltfelsen von Choquequirao. Die Zermalmung. Und alles fällt ab, alle … Anhänglichkeit.
Nizza
Die Promenade des Anglais ist voll amerikanischer Schwarzer,
Die nicht mal die Statur von Basketball-Spielern haben;
Sie begegnen Japanern, die den „Weg des Säbels“ verfolgen,
und semi-kalifornischen Joggern;
All das gegen vier Uhr nachmittags,
Im sinkenden Licht.
(1999, lange vor dem Attentat auf derselben Promenade)
Zur Möglichkeit einer Insel
Heutiger Samstag, 27.November 2021. Der TGV ist unterwegs, heute ohne Selbstmörder auf der Strecke. Dennoch: Heute durchatmen. Viel ist passiert.
Es sind gestorben: Monsignore Hubert Gratzer, der Zerrissene, ein Mann der Kunst. Er liegt in Reichenau, seiner geliebten Wahlheimat, begraben. Professor Bernhard Winkler, Zisterzienser in Wilhering, Kollege Ratzingers. Einer der freundlichsten Menschen meines Lebens. Hier im Dorf eine ganze Reihe von Bauern und Bäuerinnen, so auch Donja Magdalena, meine Nachbarin zu Otorongo. Fürwahr, in keinem Jahr fuhr der Tod reichere Ernte ein als heuer. Niemanden interessiert das Virus, denn der Tod als Selbstläufer ist allgegenwärtig. Oder sollte ich besser sagen: das Morden ist allgegenwärtig. Denn wir haben Impfdurchbrüche und Impfnebenwirkungen, die sich gewaschen haben, augenfällig bei der Jugend. Die Bevölkerung sieht offenen Auges, was hier geschieht, und driftet ohne weiteren Aufschrei ab, so als ob das Virus auf jenes Maß zurückgestutzt werden sollte, das ihm von Natur aus zukommt. Ein Naturphänomen. Naturphänomene jedoch sind, um das kurz hier anzusprechen, nicht der Müll, der Lärm und das Morden an den Bäumen, auch nicht der allgemeine Diebstahl. Das Rasen des Bösen ist die eigentliche Gefahr auch – und erst recht – in den Reihen der Kirche. Die Kirche stirbt, und mit ihr ein Lügengebäude. Und daneben diese erschütternde Feigheit, diese Speichelleckerei. Würden wir uns doch nur dazu durchringen, nichts mehr zu tun. Es wäre die halbe Ernte der Rettung. Nichts mehr tun. Eine Utopie. Die Utopie, die mich in Atem hält. Nichts mehr tun.
Es ist das Jahr meiner Toten. In Ayahuasca stehen sie auf. La Madre wirkt. Sie wirkt kräftig, kräftiger denn je. Die Kolonne der Toten reißt nicht ab. So weiß ich schlußendlich, mitten in der Nacht, sie sprechen alle zu mir. Welche Ehre! Und es ist eben nicht nur Pater Pio, der zu mir spricht. Somit: Ehre, wem Ehre gebührt. Ehre jenen, die aus dem Herzen sprachen:
„Wenn ich stehend tot zusammenbreche, einfach so, ohne Abschied, dann gehen mir die Augen auf.“ „Ja, Bernhard. Einmal ist es soweit.“
„Du als Chirurg sollst nicht meinen, die Lust der Frauen wäre dein Weltuntergang. Die Frauen meinen, dein im Beten durchbrechendes Priestertum wäre eine Schande. Das ist es aber nicht. Sieh deine Schwester. Sie denkt nicht so.“
„Du erkennst die Menschen daran, wie sie beten, was sie beten und worum sie bitten.“
„Ich rede mit dem Toni manchmal. Sogar mit Christus rede ich manchmal. Stell dir vor, Wolfgang! Ich weiß, daß all dies wahr ist. Der Himmel ist ganz nah.“
„Junge, du wirst nicht ahnen, was die Freude hier ist! Habe ich mir nicht vorgestellt. Freude ohne Tränen. Stell dir vor! Ist aber so!“
„Jetzt endlich können wir mit einander reden. Jetzt erst fangen wir zu reden an, Geliebter. Ist es nicht so? Heute wissen wir, was unsere Ehe bedeutet.“
„Ich habe auf Knien für meine Tochter gebetet. Zusammen mit deinem Sohn Elias. Für Elias ist Niederknien ganz selbstverständlich. Daran erkennst du wahren Glauben.“
„Die Beichte ist ein Sakrament, das Hoffnung und Gesundheit spendet. Beichten gibt Kraft und stärkt den Geist. Geist im Sinne von Bewußtsein. Bewußtsein, in Gottes Anwesenheit zu leben. Viele halten das nicht aus. Das liegt an der Lüge, also an der Unreinheit.“
„Doktor, speibst du gerade?“ „Ja, mein Herr.“ „Sehr gut! Weiter machen!“
„Doktor, wenn sich Frauen deinetwegen umbringen, hast du etwas falsch gemacht. Wenn ich mich wegen einer Frau umbringe, auch. Doch glücklicherweise ist es nie soweit gekommen. Heute bin ich 88, ein lebendiger Leichnam. Ich habe mein Täubchen frei gelassen. Sie genießt ihre Freiheit diskret, kommt aber immer reuemütig zurück. Womit habe ich das nur verdient? Apropos: Meine Icaros, die sie mir geschenkt haben, sind nicht ohne. Die Leute speiben wie die Feuerwehrschläuche. Erinnert dich das an jemanden?“ „Ja, an Freund Arno.“ „Ach ja!“
„Doktor, Ayahuasca ist viel zu gefährlich. Ich rate dir, schenke Bonbons aus. Die aus der Schweiz. Es genügt, sie kurz in Ayahuasca einzutauchen. Du wirst sehen. Aber übertreibe nicht. Die Schweizerinnen rennen sonst sofort hinaus und stürzen sich in den Abgrund. Aus Wut. Eines Tages wird noch eine Schweizerin mitten in Ayahuasca ihren Feitel zücken und mich abstechen. So wie Don Ramón, mit 94. Besser, du wirst noch ein Heiliger. Heilige werden nicht abgestochen, sondern in Öl gekocht, gehäutet oder geschliffen. Feuer sowieso. Oder sie werden geköpft, so wie die Jesuiten in Japan. Wußtest du davon?“ „Ja, letztens.“ „Ich auch. La Madre hat es mir gezeigt.“
„Onkel, provoziert dich dieser leckere Ceviche denn nicht?“ „Nein, Deborah. Lang zu und genieß es von Herzen. Ich bin es dir vergönnt. Seit 20 Jahren ist Essen nicht mehr wichtig für mich.“ „Ach ja. Ich verstehe, was du sagen willst. Danke jedenfalls für die Einladung.“ „Gern geschehen, Deborah. Jedenfalls werde ich mir diesen Kiosk merken. Tintenfisch in eigener Tinte, dazu noch Baccalaú, das sieht lecker aus.“ „Ja, und der Salat ist ganz frisch und knackig, so wie die Zwiebel. Frische Zwiebel sind für ein Gericht unabdingbar.“