Amazonisches Tagebuch 2022

(Ich bin ein bißchen spät dran, ich weiß, bitte um Nachsicht, es ist viel los).

Veränderung seit der elementaren Zeremonie bei Don Francisco, dem Capanua-Indio, hält nach wie vor merkbar an. Signifikante Veränderungen in der Welt- und Selbstwahrnehmung, im Fühlen wie im Erinnern. Gewisse Medizinen, wie sie die Indios handhaben, lassen sich mit jenen der Mestizen nicht vergleichen. Zudem sind diese Indios bis über beide Ohren hin Geheimniskrämer. Das war zwar ohnehin schon bekannt, doch die Wirkung dieser Pflanzen, die sie dem Trunk beimischen, ohne Flucht, wie unter freiwilligem Zwang (ich zwinge mich selbst) an diesem elementar nüchternen Ort, der bereits beim Betreten an ein Schlachtfeld gemahnt, zu erleben, spricht eine durch und durch ernste Sprache und bringt elementare Botschaft, während ich bereits nackt unter Hitze am Boden liege, auf seltsame Art erbreche und auf nicht berechenbare Weise versuche, mit diesem metaphysischen Druck der Anwesenheit Gottes und des Engels Ayahuasca zurande zu kommen. Die Botschaften zermalmen. Die Zehntausenden Toten in Ukraine lassen sich zuerst nicht zuteilen, es steht nur das Ende der Welt im Raum, doch seit damals, Ende Jänner, hat sich bewahrheitet, was der Geist der Medizin mir nahebringen wollte. Wir haben es mit dem real existierenden Bösen zu tun, mehr denn je, und ich kann jetzt nur mit dem Papst mitgehen, der nicht ohne Grund in dieser vielbeachteten Solemne die Menschen in der Ukraine und in Russland dem Herzen der unbefleckten Muttergottes (wie man es im katholischen Sprachgebrauch ausdrückt) anempfahl. Jede einzelnen Aktion des Pápas jetzt ist von tiefem Ernst erfüllt. Nicht ohne Zufall reiste er vergangene Woche in einer Schnellaktion nach Malta, um in der Grotte des Heiligen Paulus zu beten, so wie in der Marienbasilika, die im gesamten Mittelmeerraum spezielles Flair aufweist. Malta, die Insel des Glaubens in Zeiten, die wie ein Generalangriff des Bösen anmuten. In Europa hielt man diese Entwicklung zu Gewalt, ja Völkermord, für unmöglich. Europa steht unter tiefem Schock. Ein grauhaariger, blutlos wirkender Schlächter wird zum neuen Oberkommandieren erwählt. Was wird hier im Donbass geschehen? Zehntausend Tote bereits jetzt. Und derweilen laufen unsere Zerstreuungen weiter, zehntausende Zuschauer gestern und vorgestern beim Masters in Augusta, eine Oscar-Verleihung mit gröberer Panne, die auch nur als komplexe Absurdität bezeichnet werden kann, und die Masters-Turniere von Indian Wells, Miami und Monte Carlo in schneller Reihenfolge. Und Nick Kyrgios, der Bösewicht, dem man es auf Schritt und Tritt ansieht, wie er an Ketten reißt (eigenen Ketten), um doch nicht gewalttätig zu werden, ein australischer Tennisspieler, der sich von der Anwesenheit Ben Stillers, des Schauspielers, hochgradig inspiriert fühlt, sodaß er mitten in seinem Kampf (als solches kann man die kampf- und gefühlsbetonten Tennispartien heutzutage nicht anders bezeichnen) gegen den glatzköpfigen Franzosen Mannarino mitten in der windumtosten kalifornischen Wüste einen Dialog (Dialog!) mit dem freundlichen Herrn, der in der betuchten ersten Reihe dem Match beiwohnt, eröffnen wollte. Dieser Mann, Kyrgios (um kurz vom Leitfaden abzuschweifen), ein Aussie, der zu fluchen versteht wie ein verdreckter Rohrspatz, sagt sich also, das alles ist schwachsinniges Theater, wir sind alle nur Komparsen in einem weltweiten Theater, wir zählen nichts, und ich, sehr verehrte Damen und Herren, werde heuer Rolland Garros, das zweite Grand Slam-Turnier dieser Saison 2022, nicht spielen, denn ich krebse schon viel zu lange in der Fremde herum, ich will heim nach Fürstenfeld, heißt, in mein Känguruh-, Aborigines-, Alligator- und Weißer Hai am Pazifik-Ufer-Land. Ich will heim zur Familie. „Familie“, sagte Nick Kyrgios. Meine Stühle hat er noch nicht zertrümmert, bei mir hat er freien Eintritt. Zumindest für gute Medizin.

Was in der Ukraine geschieht, ist sehr wohl Völkermord. Wie wollen wir damit umgehen? Und jetzt, bitte, stellen wir uns nur vor, was an den Börsen geschieht. An den Börsen laufen momentan Milliardengeschäfte in ungekannter Größenordnung, noch viel aufgeblasener als in den vergangenen zwei Jahren des globalen Virusverbrechens. Der globale Faschismus tritt klar zum Vorschein, eine Gier, die sich zuletzt selbst auffressen wird, wenn die Völker dem Aufschrei einer nicht mehr zu zügelnden Panik verfallen. Nick Kyrgios will so schnell als möglich heim auf seine Insel, solange noch Flieger fliegen. Die Halbfinalpartie gegen Reilly Opelka in Houston ist ihm unwichtig wie nichts. Der angebliche Bösewicht, der ja nur leidet. Er leidet wie ein armer Teufel. Ob Wladimir Putin leidet, weiß ich nicht. Doch er sieht massiv wesensverändert aus, so wie der kranke Amokläufer und Staatsverräter in Mar a Lago, und beide, man darf es nicht vergessen, hielten beim Treffen in Berlin vor drei Jahren ein mehr als einstündiges Tête-à-Tête ab, von denen nur die Dolmetscher wissen, was beredet wurde. Der Hochverräter, der auf offener Szene mit einem Cyberattacker und Mörder von, z.B., Anna Politkovskaya, verschwiegen konferiert, so wie er auch keinerlei Probleme hatte, in Pnom Penh mit dem an chronischem Hochblutdruck laborierenden, durchund durch ungustiösen Familienmörder zu flirten und das ganze als eine Liebesaffaire hinzustellen. Der grenzenlose Wahnsinn ist nicht Wahn, sondern Lüge, und diese Lüge kommt nicht zufällig und unpersönlich zustande, sondern durch eine Gefahr, die furchtbarer nicht sein kann. Deshalb der Papst in Aufruhr. Und die Bischöfe läuteten zeitgleich alle Glocken und gedachten zeitgleich mit ihm. Zeitgleich, bitte schön.

Doch um zum Thema dieses kleinen Aufsatzes umzuschwenken, hier das Neueste aus unserem kleinen Dschungelanwesen: Wie schon angeschnitten, im Jänner, der sich auf unerklärliche, ja ich möchte sagen: magische Weise mit dem letzten Dezember nachhaltig zu vermischen scheint, erstmalige Sichtung eines zyklopenartigen Waldteufels, von dem ich nur peripher aus einer Erwähnung Agustins wußte. Das direkt nach einem nächtlichen Blitzeinschlag mitten im Kloster, 15 Meter hinter der Küche, am Wochenende. Meinen Freund, die Eule Jens, hob es aus seinem provisorischen Nachtlager, während mich die Schockwelle des nachfolgenden Donners sprichwörtlich aus dem Bett wehte. So kam der Waldteufel, der nur um Erlösung fleht, in unseren Landstrich. Der Himmel, so sagte mir Mutter Ayahuasca, gewährt ihm nur 24 Stunden auf dieser Welt, dann wird er wieder weggebeamt. Bray Llucema, dem schon genug Seltsames auf seinen Taxifahrten auf der Dschungelstraße begegnet ist, gar nicht verschreckt, nur maßlos erstaunt, so als handelte es sich um einen Vetter des Yashingo, des Herren des Waldes. Und Anfang März, Jens war schon weg, keine 200 Meter von seiner 7-Hektar-Parzelle entfernt, als ich hinauswandere, um die Schandtaten des Holzverbrechers und -Diebes Andrés Gonzales zu überprüfen, aus dem Gebüsch links und ins Gebüsch rechts etwas, das aus 25 Metern Entfernung wie ein überdimensionaler, einförmig schwarzer, dahingleitender, sabbernder Blutegel-Stamm wirkt, gute 40 Zentimeter dick, eine Sacha Máma, die deutlich über zehn Meter messen muß. Ich falle augenblicklich in Hypnose und wache im Stehen wieder auf, als von ihr schon keine Spur mehr ist. Ich sah nicht ihren Schwanz. An derselben Stelle spielten vor Jahren zwei Marder am Weg, zum ersten Mal, daß ich sie sah. Europäische Marder. Kein Unterschied. Und so grüße ich alle Freunde in Nah und Fern erst mal von meiner Zwischenstation San Martín de Porres, Quilca, hier in der ausgelagerten Atacama-Wüste, in Pazifik-Nähe. Wir sind in der Osterwoche, gestern war Palmsonntag. Christus zieht auf einem Esel in Jerusalem ein. Wie es damals war, kann sich keiner vorstellen. Vor allem nicht, was in ihm vorging. Wirklich nicht. Amen. 

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  1. Die schweren Kaliber

    In dieser täglichen Welt des Aufruhrs meldet sich jeden Morgen eine leise Stimme. Sie murmelt mir sanft (immer sanft) zu, ob ins Ohr oder direkt ins Gehirn macht keinen Unterschied: „Mache es heute vielleicht ein Stück besser!? Hadere nicht mit dir und deinen sogenannten Irrtümern. Akzeptiere vielmehr, daß sich die Welt deiner Kontrolle entzieht, erst recht auf die Ferne. Kümmere dich lieber um deine höchstpersönlichen Angelegenheiten. Konzentriere dich auf sie. Da gibt es genug, was höchstpersönlich ist, und damit meine ich nicht nur dein Herumstöbern im Geheimnis „Frau“, und auch nicht deine Familie, allgemein wie speziell, sondern, du weißt es ja selbst nur allzu gut, diese störende, brachliegende Komplexität in der Gier und im Haß. Das ist noch mehr als tibetische Psychologie. Das ist existentielle Tatsache, energetische Tatsache, und es ist das Schlachtfeld des Erzfeindes. Das hat mit deiner Gedankenverfassung zu tun. Wegen deiner hochgeputschten, gewaltbeladenen Gefühle findest du nicht die Muße, und so auch nicht die Konzentration, da genau hinzuschauen. Du kannst nicht dauernd projizieren. Schleiche dich nicht elegant über deine Gefühle hinweg, nur weil du überall Verbrecher siehst. Du warst auch oft genug Verbrecher. Also mogle nicht. Schaue dir das alles unter der Lupe an und gestehe. Die Schwächen gehören sehr wohl strukturiert. Nimm dir die Zeit. Es giebt genügend brachliegende Felder. Schau dir diese Leute hier in Lima an. Selbstgenügsam wie nur was. Wenn sie überhaupt eine Uhr tragen (einer von fünfzig; vielleicht etwas weniger), dann eine chinesische Plastikuhr um maximal 80,- Soles. Was sagt dir das? Wir wissen beide zur Genüge, was es dir sagt, oder?“

    So in etwa reden Mutter Ayahuasca und Konsorten, jeden Morgen, direkt nach dem Aufwachen, wenn ich mich anhebe aufzustehen. Das ist der eine Trost, der uns gespendet wird, dann, wenn wir nicht hudeln. Die Selbstbesinnung, wo Ärger, Zorn und Wut schlafen. Die wohltuende Selbstgenügsamkeit, in der sogar Hunger und Durst unbekannt sind. Selten genug, aber doch, in Phasen, jeden Tag. Es gibt sie, diese Gelegenheiten. Diese segensreichen Augenblicke der Stille und des Friedens. Manchmal wirkt es geradezu verwunderlich. Der rückwärts gerichtete Blick erspäht Unerklärlichkeit auf breiter Front. Das wohl ist Verstehen aus Anspruchslosigkeit. Weisheit, die aufgehört hat zu fordern. Das ist die innere Festigkeit. Eine, die niemandem mehr, erst recht nicht einem Feind, Rechenschaft schuldet. Aber erst recht nicht jenen, die, wie sie vorgeben, es doch nur gut mit einem meinen und deshalb befugt sind, einem die Welt und uns selbst zu erklären. Jene, die uns helfen wollen. (Von den selbsternannten Heilern ganz zu schweigen; diese Irren…) Es sind wenige, die wirklich imstande sind, einem etwas für den Weg mitzugeben, doch unter den Toten sind es viele. Über den Spruch Robin Williams‘ stolpere ich im wichtigtuenden Gesichtsbuch bereits zum wiederholten Male, kombiniert mit seiner – des Schauspielers – Visage: „Jeder Mensch kämpft eine Schlacht, über die du absolut nichts weißt. Sei deshalb freundlich. Immer!“ Hier spricht ein Toter, der bereits zu Lebzeiten das traurige Gesicht eines Clowns zeigte. In welche Untiefen tauchte Robin Williams hinab, daß er diesen Suizid nötig hatte? Und er ist damit bei Gott nicht der einzige. Es ist ungeheuerlich, was sich die Menschen in ihrem Leiden und gegenseitig antun. Das ist ein Riesengebirge. Und keiner will davon reden, erst recht nicht die Faschisten, die einem täglich und immer ungefragt ihren Leispruch um den Kopf schmettern: „Das System ist alles. Konsum ist alles! Das System wird von Konformen ernährt, und das ist gut so. Das macht Sinn. Krieg macht Sinn. Zerstörung macht Sinn. Endgültig von dieser Welt zu verschwinden macht Sinn.“ Das sind die Kaliber, und genau genommen ist es in diesen Momenten notwendig, ehrlich und ernsthaft zu beratschlagen: „Wie bin ich in diese Situation gekommen? Wie kommt es, daß hier direkt neben mir ein Mörder die Ohren und das Denken vollsabbert?“ Antwort: „Durch Leichtfertigkeit und Verharmlosung.“ Ja, richtig. Das ist dasselbe Kaliber wie von einer „entschiedenen Verwirklichung einer noblen Lösung in der Ukraine“ zu schwadronieren. Das sind die Despoten, die über, am Anfang, Zigtausende Leichen gehen. Nach fünf Jahren sind es 50 Millionen. Der Krieg als Vater aller Dinge. Was für eine Ungeheuerlichkeit. Genau die Worte eines Systemfaschisten wie Clausewitz, ein Deutscher. All diese Leute bringen es nicht zuwege, einfach dazusitzen, die Hände im Schoß. So wie die Insassen meiner Klinik am Steinhof in Wien. Lang ist’s her. Diese Leute sitzen im Winter in den Studienbibliotheken Wiens und kratzen sich gedankenverloren den Handrücken. Und niemand weiß, was in ihnen vorgeht, doch sicher nicht Mord und Totschlag. „Es ist alles so finster!“, murmelte die strohdumme, sprachlose Tante, die schon lange tot, doch unvergessen ist (sie starb im März 2015), dann war sie nicht mehr ansprechbar. Sie war bereits seit einer Woche nicht mehr auf der Toilette. Dann riefen die hilflosen Eltern ihren Bruder zuhilfe. Der wies sie ein in die Klinik. Dort behandelten sie sie mit Elektroschocks. Das brachte sie wieder zu sich. Und die Ärzte, in Ermangelung besserer Medizin, drohten ihr mit wiederholten Schockbehandlungen, wenn sie sich eigensinnig die Exzentrik dieser Reglosigkeit wieder erlauben sollte. So redeten sie, wahrlich. Das wollte die Kuhmagd nun doch nicht und versprach Besserung. Und so ließ man sie frei. An Suizid hat diese arme Frau nie gedacht. Sie starb einsam und verlassen. Die millionenfache Schande dieser sogenannten Moderne. Moderne? Ein Irrsinn. Es gibt keine Moderne. Und es gibt nur Fortschritt, wenn er zur Freiheit führt. Was ist Freiheit? Unsterblichkeit. Was will ich mehr? Amen.

  2. Was Indios von uns halten

    Einige Indios in Peru schenken Ayahuasca aus. Wie überall in diesem äquatorialen Land politischer Anarchie ist nicht alles koscher, was Indiogewand trägt und wichtigtuerisch munkelt, man sei ein Wissender, die Anderen nur Dumme. Die echten Rothäute dieses gottgesegneten Landes der drei Regionen zeichnen sich im Umgang mit den suchenden Westlern („Gringos“ somit) durch wohltuende Bescheidenheit aus. Sie tun zuweilen so, wie wenn sie den Sinn des Spanischen nicht ganz verstünden, oder als ob sie schwerhörig, traumwandlerisch oder allgemein auf undefinierbare Weise gestört sind. Die Konversation jedenfalls läuft mit Sicherheit nicht so wie man es sich zweckgerichtet wünscht, punktgenau und zielgerichtet. „Was kostet der Tag, wie oft servieren Sie Ayahuasca, wie ist das Essen?“ Der Indio blickt den Gringo mit schleppendem Auge und von Speichel triefenden Mundwinkel an. Zumeist jedenfalls. Zeitweise wiederum läuft es andersrum, der Indio wandert mit einem durch das Camp. Der Blick des Besuchers erhascht ringsum Gewöhnungsbedürftiges. Unordnung, Wracks, marode Hütten, Gehege mit exotischen Tieren, die den Damen sofort leid tun. Ein Faultierjunges ohne Mutter, beispielsweise, oder ein Ara, der frei ein uns aus krabbeln kann. Die Besucherin fragt, ob sie den Ara aus seinem Käfig hochheben könnte. Der Indio feixt herum und blickt in unbestimmte Ferne. Die Dame tut, kurzentschlossen. Der Ara nimmt auf der Schulter Platz, die Dame trifft Anstallten, sich mit dem exotischen Tier fotographieren zu lassen. Alle blicken süß in die Kamera, nur nicht der Ara. Der schnellt wie auf einer Reckstange nach unten, krallt sich in der Schulter fest und säbelt mit seinem Krummschnabel wie mit einem scharf geschliffenen sarazenischen Krummschwert einen Hemdknopf ab, in Sekundenschnelle. Der Frauenschrei gellt durch das Camp, die Dame versucht den Vogel mit einem Schlag von ihrer Schulter zu fegen, denn die Schulter ist von Krallen penetriert. Blut wird sogleich triefen, das ist allen klar, auch wenn niemand sich anhebt, wissenden Kommentare zu deponieren. Irgend etwas hält die Zuschauenden zurück. Sie realisieren, sie sind bei Indios. Was, wenn einer Amok läuft und Rachegedanken wegen eines lapidaren hysterischen Anfalls züchtet? Doch wer ist der Feind? Sind diese Indios unsere Feinde? Und wenn ja, wo sind sie denn überhaupt? Das Camp wirkt wie ausgestorben. Wo ist die Küche, wo die Essensdüfte? Alles wie ausgestorben. Der Meister selbst ein Gespenst in Badeschlapfen und Pyjama, gefährliches Gesicht. „Haben Sie schon einmal einen Mrnschen getötet, Don Guillermo?“ „Ja, ein Mal, im Krieg. Indiokrieg.“ „Haben Sie schon einmal getötet, Don Francisco?“ „Gut möglich. Vielleicht sogar öfter als ich weiß. Warum fragst du?“ „Was bedeutet Jesus von Nazareth für Sie, Don Guillermo?“ „Nicht das, was du über ihn denkst, Doktor. Und bitte, wenn du schon bei mir auftauchst, dann bitte ohne Kreuz. Du verstehst schon, was ich dir sagen will, oder?“ „Ja. Tschuldigen Sie.“ „Keine Sorge. Hat nicht weh getan. Und außerdem ist es umständlich beim Baden. Du verstehst schon, was ich meine.“ „Ja, danke. Tschuldigung.“ „Bist halt ein Schauspieler, Doktor, doch ich habe dich schon durchschaut. Agustin sagt, du bist gefährlich. Stimmt das? Gehörst du wirklich zur Kirche, oder tust du nur so?“

    „Don Francisco, dürfen wir in Ihrer Zeremonie Wasser trinken?“ „Was geht das mich an, junge Frau? Sie sagen bitte nur am Ende der Zeremonie, wenn ich fortgehe, laut und deutlich „Danke schön!“ Haben Sie mich verstanden?“ „Don Francisco, ab wann gibt es morgen Frühstück?“ „Frühstück?“ Der Blick des Meisters wirkt entgeistert. Deutlicher Schnitzer, oh weh! „Tschuldigung, bitte. Vielleicht nur eine Banane und ein Glas Wasser. Die Leute müssen morgen noch zurück nach Otorongo, breiter Weg. Bitte um Verständnis.“ „Kein Problem. Banane, Piña und Mango. Geht das in Ordnung?“

    „Wolfgang, wo sind hier die Speibkübel?“ „Gibt es nicht. Und außerdem ist dieser Erdboden von Kratern durchzogen. Das ist offensichtlich ein Schlachtfeld. Das sieht ein Blinder. Keine Wände. Von den Sancudos hat er kein Wort gesprochen. Ihr könnt sicher sein, daß die Mücken gar nicht auftauchen werden, trotz der vielen Teiche. Seht nur, er trägt Caterpillar-Stiefel, Arbeitshose und Sweater. Die Mesa spartanisch, nur die Madre-Flasche und der Parfum-Tornister, eine Kerze. Tut mir leid, das wird Krieg und wir werden heute Nacht sterben.“ „Wolfgang, für mich bitte eine sanfte Dosis. Du weißt schon.“ „Meister, für die zarte Dame bitte eine Vorsichtsdosis.“ „Ja, wissen wir bereits.“

    „Wasser Trinken ist bei dieser Medizin, Hongohuasca, nicht angeraten“, rät die Assistentin des Meisters, eine Französin, einer französisch sprechenden Kanadierin direkt nach der Einnahme geistesgegenwärtig. „Es zerreißt dich sonst.“ „Was wird da beredet?“, fragt meine Tschaggunserin. „Kein Wasser trinken…“ „Prost, Mahlzeit“, antwortet die Eule. „Zu spät!“ Gut, bei den Indios bezahlt man die Rechnung an Ort und Stelle. „Wenn wir die Zeremonie beenden und ich mich verabschiede, bedanken Sie sich bitte laut und deutlich und wünschen uns eine gute Nacht. Wir halten das hier so. Haben Sie verstanden?“ Der Wink mit dem Zaunpfahl aus dem Mund des Indiomeisters spricht Bände. Es wird am Schlag erkenntlich, dies hier ist ein Herr, der auf gute Manieren Wert legt, auch in Ayahuasca. Er weiß offenkundig zur Genüge, wie grobschlächtig Gringos auftreten können; selbstherrlich und fordernd. „Wir möchten endlich Fleisch! Wozu bezahlen wir 200,- Dollar am Tag? Eine Frechheit, uns bei Hänschen Schmalhans darben zu lassen! Ich will jetzt ein Steak! Wenn die Küche das nicht servieren kann, werde ich Schadenersatz einklagen. Der Spaß hört sich hier auf!“ Die Indios werden darauf nicht antworten, sondern sich unsichtbar machen, doch Don Agustin wird grummeln und seine Tiefkühltruhe öffnen oder einen Arbeiter zum Markt im Dorf schicken, um geräuchertes Wild ausfindig zu machen.

    Für manche Besucher in Amazonien ist die Teilnahme an la Purga zuweilen eine Mutprobe, Sport, oder einfach high life, Mode. Sie möchten gerne wissen, was bei dieser einmaligen Gelegenheit zum Vorschein kommt. Sie möchten Visionen erleben. Dafür legen Sie ja ihr Geld ab. Erleben. Wenn nichts passiert, sind sie enttäuscht. Und wenn es sie zerreißt, war es kriminell, ein Schelmenstück von Irren (einheimischen wie Westlern), die einfach irregeleitet sind, einem Kult anhängen, einer Droge, die keine weitere Bedeutung hat. Die Wenigsten begreifen die religiöse Ader dieses Rituales. Die Verbindung mit einer Muttergöttin oder, im mindesten Fall, mit einem weiblichen Engel, der uns in die Arme nimmt, ob wir dies nun wollen oder nicht. Ein Engel, der bei Null beginnt. Bei Null, das heißt, mit der wie aus dem Nichts hereinbrechenden Frage: „Warum bin ich überhaupt am Leben, und warum gibt es überhaupt all diesen Scheiß hier herum, einem Scheiß, der mir jede Lebensfreude raubt?“ Bereits diese erste Frage aus dem Reich der Metaphysik  macht uns unruhig. Mit einem Mal beginnen wir zu schimpfen, zu speiben, zu spucken, zu fluchen und zu röhren. Wird es schlimmer, schreien wir. Wird es noch schlimmer, brüllen wir. Und wenn es ganz schlimm wird und wir fühlen, wir werden jetzt von einer Handgranate, die wir versehentlich, weil wir meinten, es handle sich um eine appetitliche Zwetschke, geschluckt haben, zerrissen werden (und das heißt, unwiderruflich zerrissen werden), dann also beginnen wir zu rasen, und kein Dr.Ojê reicht uns freundlich die Hand, kein Priester erteilt uns den Segen Christi, nein, nicht jetzt in dieser ganz persönlichen Stunde, wo ich erlebe, aus mir brüllt ein Untier, ein Teufel, ein Dämon. Die Indios läßt das kalt. Sie liegen in Deckung, im Dunklen an den halbhohen Holzwänden, an denen sie geradezu wie Fledermäuse zu kleben scheinen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Sie lungern ganz entspannt hier mitten in der Hölle der Gringos, wie die Steinstatuen der Tolteken, die unverstandenen Wächter der Denkmäler und Pyramiden, am Eingang der Kultstätte mit angezogenen Knien und Ellbogen eingezwängt zwischen zwei Steinen wie die schlimmsten Müssiggänger am Boden lungern. Der Chefassistent, hoffnungslos übermüdet, schläft sogar, samt Schnarchen. Ja, er schnarcht, ganz kindlich unverblümt. Es vergehen 25 Minuten, 25 Folterminuten. Jedes Geräusch wird zu einem Fingerzeig für die Anwesenheit des Todes. Ich weiß es ganz genau. Und ich weiß, jeder hier in der Malocca, jeder hier in diesem Tempel weiß um die Anwesenheit der magischen, unerklärlichen Welt von Mutter Ayahuasca. Manche sehen Christus. Sie können sich ganz und gar nicht erklären, warum sie jetzt Christus auf Golgotha erleben, live. Sie, die Atheisten und modernen Freidenker. Sie, die an Homosexualität, Abtreibung und Pornographie nichts Anstößliches finden. Die Kirche, diese parasitäre Institution von Perversen, an ihr hingegen schon. Was also hat der sterbenden Jesus in meiner Vision zu suchen? Das liegt sicherlich an infiltrierenden Einflüssen, derer ich noch nicht wahr geworden bin, an diesem Ort. Kann mann nicht auch mit Christus Teufelei bewerkstelligen? Möglich ist alles.

    „Don Guillermo, eine grundsätzliche Frage, wenn Sie erlauben: Warum schenken Sie Ayahuasca aus?“ „Doctor, eine gute Frage. Sie müssen wissen, ein Indiocurandero handelt nach Prinzipien, allerdings sind diese für Gringos unsichtbar. Ayahuasca ist ein Gefallen. Die Gringos wollen la madre trinken, also schenken wir sie ihnen ein. Doch direktes Lernen geschieht nicht in la madre. Das geschieht in einer Diät. Die Diät zeigt innerhalb kurzer Zeit, wer du bist. Du lebst ein Jahr zurückgezogen, so wie unsere Novizen, Männer wie Frauen. Die Pflanzengeister regeln alles.“ „Ein Jahr also…“ „Selbstverständlich! Wenn du es ernst meinst, nimmst du das erste Jahr gerne in Kauf. Den Frauen fällt das Jahr leichter als den Männern. Es scheint so, als wandle sich die allgemeine Verrücktheit der Frauen an einem bestimmten Punkt in zivilisierte Weisheit. Wir akzeptieren keine Hexen. Unsere Frauen sind keine Hexen, auch die alten nicht, auch wenn sie verrückt erscheinen. Doch welche Frau wirkt nicht verrückt? Das aber ist unerheblich. Das einzige, was zählt, ist die Pflanzengeisterlehre. Die Geister werden von Gott geschickt. Die Geister haben ihr Pouvoir, ein ziemlich weitgestricktes, doch der Allmächtige kommt immer wieder vorbei zu einer kurzen Schau. Wenn du eine gewisse Zeit ernsthaft in Diät verbracht hast, weißt du, wenn er auftritt. Und das ist nicht der Gott der Kirche. Die Weißen, das wage ich zu behaupten, haben eine falsche Auffassung von Gott, doch das bleibt ihnen überlassen. Auf dem Weg der Medizin reden wir auch nicht über Gott, sondern wir lernen und handeln. Es muß niemand überzeugt oder belehrt werden. Das alles regelt die Medizin. Wenn wir singen, weißt du, sofern du ein gutes Gehör hast, sofort, wo jeder einzelne steht. Das ist dir ja schon klar geworden. „Wenn wir sagen, jemand „singt“, dann meinen wir, er ist ein Meister, oder zumindest ein Geselle, der kurz vor der Meisterprüfung steht. Doch bei den Gringos lasse ich keine Gesellen zu. Bei den Gringos hast du 20 Teufel in der Malocca. Du weißt, wovon ich spreche. Und du hast auch schon erlebt, wohin es führt, wenn ich meinen eigenen Prinzipien zuwiderhandle.“

    „Stört Sie mein Kreuz unter dem Hemd?“ „Ja, weil es an diesem Ort unnötig ist und für uns eine Provokation. Das weißt du ganz genau. Du wolltest wissen, wie Ricardo reagiert. Gut, jetzt weißt du es. Ich fordere dich aber ganz und gar nicht auf, es abzulegen. Du wirst selbst genau wissen, was sich geziemt. Doch keine Sorge. Das ist ein Detail, das mich nicht behelligt. Ich weiß, du bist kein Spanier, sondern einer von uns. Ein Landsmann, der am Morgen seinen Chilicano genießt.“

     

     

  3. Unhaltbarkeit

    Zwei Besucher, ein Paar, verabschieden sich. Eine Woche des Regens, intensiver Innenschau und ausgewählter Dschungelwanderungen durch Teiche und Lacken. Ein Otorongillo schlägt eine Mutterhenne mitten am helllichten Tag und verzehrt sie auch noch an Ort und Stelle, so groß ist sein Heißhunger. Die Kückenwaisen haben mittlerweile eine halbbarmherzige Ziehmutter gefunden, das ängstliche Piepsen und Betteln wird wieder ruhiger, die Kücken sammeln sich um die Stiefmutter, die im Minutentakt in ihre neue Rolle hineinwächst. Das ist im Hühnervolk nichts Seltenes, wissen wir doch, es handelt sich um durch und durch exzentrische, jedoch nicht gewalttätige Kreaturen. Der Leithahn geht nicht gegen die Junghähne vor. Er stampert sie nur fort von seinem Harem, an den sich die jungen Bemperer und Möchtegerns heranschleichen. Das Fortstampern straft den allgemeinen Eindruck der Verlangsamtheit eines Hühnerlebens Lügen. Hier wird Sport betrieben, über 200 Meter, High Speed. Der Leithahn erfüllt Pflichten, die nicht selbstverständlich sind. Er zeigt den Hennen einen passenden Legeplatz, Futter stellt er sowieso bereit, und er trägt die Verantwortung gegenüber Hühnerhabicht und Viper. Die Viper hat keine Chance, auch die Hennen stürzen sich auf sie und zerhacken ihren Kopf. Doch der Hühnerhabicht, ein adlergroßer, in Europa unbekannter Paradiesvogel, der hier in diesem Landstrich wegen genügender Hühnerzucht in allen Gärten und Hinterhöfen im Übermaß gedeiht, der Gávilan also ist Privatsache. Sie stehen sich Auge in Auge gegenüber, der Hahn auf dem Fischtisch-Gestänge, ungedeckt und mutig, und der Räuber auf einem Baumast, manchmal sogar halb versteckt. Minutenlang, bewegungslos. Der Hahn weiß um die Hinterhältigkeit des Beutevogels, gerade jetzt, wo wieder ein Schub Kücken herumrennt. Der Leithahn hat ein scharfes Auge, das zeichnet ihn aus. Er sieht auch die 300 Meter in die Höhe, wo der Räuber kreist. Kein Geier, sondern der Grauweiss-Schwarz gefiederte Blitz, der sich wie ein Turmfalke herabfallen läßt, wenn er sich unbeobachtet wähnt, und dann in Bodennähe, in 50 Zentimer Höhe, ohne Flügelschlag mit 200 km/h daherschießt. Die relative Baumoffenheit erlaubt es ihm. Er hat alles geometrisch berechnet. Er weiß sehr wohl auch um die Rolle des Menschen. Er weiß, seine Gegner sind Arbeiter und keine Jäger. Und er weiß auch, die Menschen haben Gewehre und keine Blasrohre. Doch diese Arbeiter sind in Pflichten eingebunden und können es sich nicht leisten, wegen ihm stundenlang auf Lauer zu liegen. Das alles weiß er. Er kennt das Geflecht der humanen Sozietät und deren Dynamik, so wie der Otorongo, der in der Nacht nach seinem Beutezug, weil er Blut geleckt hat, gleich nochmals vorbei schauen will. Er kommt dem 16-jährigen Burschen auf 10 Meter nahe, jenseits des Stacheldrahtes, und er knurrt böse. Denn er weiß genau, der Junge hält zum ersten Mal in seinem Leben eine Schrotflinte in der Hand. Peruanisches Modell, einschüssig, der Junge zum ersten Mal auf Ansitz, doch neben ihm lauert der Vorarbeiter, Don Luis, mucksmäuschenstill, auch er die Flinter im Anschlag. Das Jaguarweibchen sieht und hört und riecht zwei Menschen. Es weiß, die beiden würden nicht zögern abzudrücken, und das ärgert die Katze. Sie zieht ab. Einen Monat später ist auch sie tot, aus Don Agustins Hand. Käfig. Grosswildkäfig, mit Hund als Lockvogel. Der Hund, als die wütend fauchende Katze bereits im Nebenkobel gefangen war, freigelassen, stiebt zitternd davon und kommt zunächst mal eine Nacht nicht wieder. Da ist die Katze bereits tot. Der Schamane ordnet seinem Arbeiter an, der Katze aus nächster Nähe in den Kopf zu schießen. Eine Patrone genügt nicht. Der Jaguar wurde abgehäutet und zerlegt. Jaguarfleisch. Das war noch nie am Speisezettel. Gringos waren nicht am Platz, nur Ron Wheelock bekam bei seinem Anstandsbesuch bei seinem Altmeister den Rest vom Schützenfest vorgesetzt, panierte Fleischstücke von Katze. „Etwas zäh, doch lecker. Ähnlich dem Alligatorfleisch.“

    Papst Franciscus will unbedingt in den Kreml reisen und mit dem Zaren sprechen. Eine sehr gute Idee. Er wird nicht mit dem Patriarchen sprechen, denn der ist aus Opportunitätsgründen bis über beide Ohren von Sinnen. Anders kann ich es nicht nennen. Einer, der an Christus glaubt und das Evangelium predigt, heißt den Krieg (was ja nichts weiter als Morden und Rasen und gröbste Verletzung der Menschenwürde in unvorstellbarem Ausmaß darstellt) in der Ukraine für gut und berechtigt. Er heißt das Ermorden von Kindern für berechtigt. Dieser geisteskranke, pervertierte Patriarch Kyrill I. Ich bete zu Gott, daß dieser Besuch gleich morgen stattfindet. Ohne große Leibgarde. Allitalia, kleine Maschine, der Papst im Fiat 500 zum Kreml. Dann die Tischordnung, diesmal keine 20 Meter Respektabstand. Das wird der Papst nicht akzeptieren, nicht solche Krankheit. Er wird ihm auf Tuchfühlung naherücken, und der Zar wird sich unwohl fühlen. Das wird geschehen. Das würde geschehen. Er würde tief in seinem Herzen denken, „Dieser alte Mann ist mir nicht geheuer, den kann ich nicht umbringen oder für meine Geschäfte einspannen, nicht mit Gas und Öl. Das ist ein Amokläufer in Weiss, ein Jesuit, einer von der Gesellschaft Christi, das stinkt zum Himmel, besser wieder fort mit ihm, doch was mache ich mit meinem schlechten Gewissen?“ So wird er denken, der Herr Wladimir, von dem immer noch genügend Leute in Europa meinen, er habe doch auch seine Gründe, so zu handeln. Manchen erzählen mir Gräuelgeschichten. Insider. Russen, Kasachen. Sie sagen, die Ukraine war nicht koscher. An den Vorwürfen gegen Hunter Biden ist was dran, und das ist nur die Zuckerglasur. Drunter ist noch viel mehr. Die USA unterhalten in der Ukraine mehrere Labors und Gefängnisse. So murmeln die Insider, und was kann ich Anderes als dies alles zur Kenntnis zu nehmen. Doch das macht niemanden von den Zehntausenden Toten, erst recht die unschuldigen Kinder, wieder lebendig. Das alles ist unhaltbar.

    Wir sehen die Perversität unseres Systems nun erst recht. Wir sehen doch hautnah, was hier weiter geht. Sport geht weiter und erst recht die Finanzgeschäfte. Das System muß am Funktionieren erhalten bleiben, denn sonst haben wir innerhalb einer Stunde die globale Apokalypse. In Frankreich Wahlen, in den USA auch, zum obersten Gerichtshof, und der oberste Gerichtshof hat gestern ein Memorandum veröffentlicht, welches die Abschaffung der freien Abortion landesweit in den Raum stellt. Großer Aufschrei. Derweilen besucht Joe Biden eine Panzerabwehr-Fabrik. Und in England nimmt man das Wort „Nuklearwaffe“ neuerdings auch wieder in den Mund. Nur der Prime Minister, selbstverständlich, nicht die Queen (undenkbar…). Das alles hat Konsequenzen. Ökonomische sowieso. Wollen wir uns das Szenario an den Börsen ausmalen? Doch über die moralischen Konsequenzen, wer redet davon? Herr Schönborn in Wien, klug, wie er ist (und in meinen Augen nunmehr auch glaubwürdig), hat davon gesprochen, dieser Krieg beim Nachbarn Ukraine wird uns noch Jahrzehnte beschäftigen. Ich kann ihm nur zustimmen. Die Ungeheuerlichkeit dieser Schändung eines ganzen Volkes ist unfaßbar. Die Städte und Dörfer eines Kulturlandes in Trümmern, schlimmer als in Dresden und Hamburg. Und genügend Staatsleute stehen dieser gröbsten Schändung indifferent gegenüber. Und in diesem europäischen Szenario spricht natürlich niemand über Afrika. Mali, Sudan, afrikanisches Horn, die an Hunger Sterbenden und Gestorbenen. Skelettkinder. Und die Filmindustrie geht weiter, und alles Andere mehr oder weniger auch. Derweilen ruhen die Toten in ihren Gräbern, auf alle Ewigkeit. Und das hat heute Morgen mein System auf zarte Weise nachhaltig erschüttert. Plötzlich war der Himmel anwesend. „Ewigkeit und Unendlichkeit. Deine Stellungnahme wird unausweichlich sein.“ So sprechen die himmlischen Autoritäten und mein toter Vater, und stimmen mich demuetig, neben all dem Schüttregen. Amen.

     

     

  4. Mein einsamer Freund

    Mein einsamer Freund sitzt auf dem Hof seines Vaters, doch ohne Besitztümer. Die gingen durch Ehestreitigkeiten verloren, nennenswerte Grundstücke, die an einen Schotter- und Schwerfahrzeugmogul, den Hasenöhrl, veräußert werden mußten. Die Liebe hatte Schulden gemacht und beanspruchte einen luxuriösen Lebensstil sondergleichen. Das alles war damals in den ländlichen Gefilden des Enns-Donau-Winkels unbekannt. Die Frau meines einsamen Freundes war die Tochter eines farbigen US-Amerikaners, eines Besatzungssoldaten, der in Österreich nach 1955  noch eine Weile hängen geblieben war, sosehr gefiel es ihm hier bei uns, auf der Insel der Seligen. Daß mein guter Freund in der Hölle seiner Ehe nicht irre wurde, zählte für mich damals, als ich als junger Spund dieses Verhältnisses kundig und Zeuge wurde, zu den sieben Weltwundern. Überhaupt wie er in der Anwesenheit dieser völlig skrupellosen Frau, die in reihenweisen haarsträubenden Skandalen geradezu zu baden schien, mit ruhiger, gefaßter Stimme zu sprechen vermochte, forderte meine allergrößte Hochachtung, auch wenn ich nicht verstand, was er überhaupt an dieser Amokläuferin, zu der er Jahrzehnte später, als er alles verloren hatte, immer noch eine Form von Liebe empfand, gefunden hatte. Es mußte wohl das Geheimnis unverständiger Liebe gewesen sein. Er hat drei Kinder mit ihr. Die eine Tochter, eine Krankenschwester in Steyr und Gönnerin Otorongos, wird einmal seinen Hof, den ich schon als Kind kannte, erben. Doch die Gattin, die dann das Weite und neue Liebhaber suchte, war nicht der einzige Schicksalsschlag des guten Lotsches. Er hatte in der Volksschulzeit seinen Bruder durch Motorradunfall verloren. Der Bub, zu Fuß von der gut zwei Kilometer entfernten Schule heim kommend, wurde direkt vor der Haustüre auf der Schotterstraße von einem die Kurve hereinrasenden Fahrer überfahren. Er starb im Krankenhaus. (Kommentar des Vaters, dieser selbst Arzt: „Ich lag neben dem Erwin auf dem Tisch. Blut zu Blut. Es fand sich in der Eile kein anderer Spender. Der Schädel war offen. Ich sah das Gehirn pochen und dann, wie es stehen blieb. Alle Liebesmüh vergebens. Was für ein Schlag für die Resi.“) Drei Jahrzehnte später war der Sepp selbst mit dem Motorrad unterwegs. Autobahn. Plötzlicher Verkehrstopp. Der Fahrer hinter ihm rast daher und in ihn hinein, will noch ausweichen und reißt ihm das linke Bein ab. Der Sepp am Boden verblutet. Der Himmel spricht und schreitet ein. Ein Unfallchirurg direkt hinter ihm sieht den tödlichen Unfall, greift zu seiner Notarzttasche samt Zubehör und sprintet zu meinem Cousin, bindet ihm den Fleischfetzen ab und ruft den Hubschrauber. Der Sepp, immer noch bei Bewußtsein, weiß sogar seine eigene Blutgruppe, geistesgegenwärtig. Das war seine Penibilität in praktischen Angelegenheiten, die ihn immer noch auszeichnet. Er fragt sogar nach dem Namen seines Lebensretters. Der injiziert ihm das Narkosemittel, satte Stunden später wacht der Sepp im Krankenhaus, als alles bereits vorbei ist, wieder auf. Als Amputierter ging er noch arbeiten, Lagerhaus St.Valentin, später Poschacher Schotter- und Ziegelfabrik in Mauthausen. Der ehemalige Großbauer auf einem Millionenhof lernte Bescheidenheit, mußte sie lernen, auf die brutale Art. (Stichwort: „Einen Krüppel können wir hier nicht gebrauchen…“ Der Psychoterror des österreichischen Alltags). Heute lebt der Sepp allein. Er richtet sich alles selbst. Er war immer menschenscheu und ist menschenscheu geblieben. An der Inneneinrichtung des Hofes hat er nichts Weentliches geändert. Stube und Küche sind wie zu meiner Kindheit. Nur die übergroße TV-Konsole, die den Raum beherrscht, und seine Capatain Kirk-Kommandozentrale mit vier griffbereiten Fernbedienungen, das gab es früher, als wir noch am Esstisch Tip-Kick spielten und um 19 Uhr dem Traummännlein aus dem Radio aus den 50er-Jahren lauschten, nicht. Der Sepp trinkt heute noch wie zu Kindheitstagen vor dem Schlafengehen seinen halben Liter heißen Kakaos aus der griffbereiten Tasse. Diese Halblitertasse gabe es in unserem Haushalt damals nicht. Das war ein weiterer Faktor des Staunens auf Seppens Hof. Den eigenen Vater hatte er damals schon früh verloren, der angesehene Huemer, der auf einem Hof saß, der, Unikat genug, den gleichen Namen trug. Der Huemer-Vater hatte seinen Hof von einem erbenlosen Vorbesitzer gekauft, der ebenso wie er selbst hieß, ohne verwandt zu sein. Deshalb heißt der Sepp in seinem Paß Huemer-Huemer. Wunder über Wunder. Ich erinnere mich noch genau, wie der Bauer, stes eine noble Erscheinung, damals starb. Es gab eine improvisierte Totenfeier bei uns, die Resi-Tant natürlich in Tränen aufgelöst. Sie hatte den Gatten in seinem Rosengarten gefunden, am Rücken wie zur Mittagsruhe friedlich liegend, die Augen noch offen, die Rosenschere umklammert auf dem Bauch, um die Mundpartie ein ansatzweises Lächeln. (Kommentar des Vaters, der ihm an Ort und Stelle den Tod bescheinigt hatte: „Ein gnädiger Tod schlechthin. In seinem Paradies, dem Rosengarten hinten, im allergrößten Frieden. Vielleicht hatte den Jakob das Gras gereizt und er legte sich einfach hin, um hinauf in den Himmel zu schauen. Da ereilte ihn der Sekundentod, ohne Schmerz. Sowas muß man erst einmal hinkriegen. Der Allmächtige hatte es so gewollt. Der Jakob ein Heiliger.“ Und die Augen wurden ihm feucht. „Der Sepp hat das Gemüt seines Vaters geerbt. Deshalb weint er so leicht. Das ist bei Bauern unüblich. Brauche ich nicht extra betonen.“ Und die Stimme wird heiser.) Im Hof, wo wir im Sommer traditionell beisammen sitzen, hat mein First-Class-Cousin einen selbstgebastelten Warmwasserboiler stehen. Der Sepp war nie in einem Schwimmbad. Das ließen Pflichtgefühl und Menschenscheuheit nicht zu. Der Sepp war ein Meisterbastler, sogar in schweren Metallangelegenheiten. Er hatte eine Werkstatt, die eines Schmiedes zur Ehre gereicht hätte. Er hatte sich alles selbst beigebracht. Es gab am Hof nichts, wo er nicht selbst Hand angelegt hatte, vom Brunnen bis zum Mauerwerk bis zu den Arbeitsgeräten. Dem Traktor sowieso. Mit diesen Fähigkeiten war er mir um Lichtjahre voraus, wie überhaupt mit seiner Lebensgestaltung. Ein durch und durch praktisch veranlagter Landwirt, der nur Radio hörte. Mit Büchern hatte er nichts im Sinn. Wie denn auch? Un dann kam diese exotische Farbige für ein paar Jahre, wie eine Sarazenin in Schottland. Und alle kommentierten hinter vorgehaltener Hand: „Womit hat der Sepp das verdient? Das wird keiner verstehen.“ Meine Taufpatin, mittlerweile 94 und seit 74 Jahren Seppens Nachbarin auf hundert Meter, erinnert mich bei jedem Besuch an ihn. „Wolfgang, besuch ihn. Er wartet auf dich, auch wenn er es niemals gestehen würde. Der Sepp ist wirklich einsam.“ Der Sepp weiß, daß ich mir leise Sorgen um ihn mache. Trotzdem hustet er weiter. Er hat alles geregelt. „Dann werde ich bei meinen Eltern liegen, und bei meinem Bruder. Ohne Frau. Gut so! Die ganze Sippe liegt in St.Pantaleon. Gut so!“ Amen.

     

     

     

     

  5. In deutschen Landen

    Der Tod der Königin erreicht uns zu Beginn des Gottesdienstes. Die Königin, la madre, antwortet. Sie führt uns vor, wie es ist, wenn alles still steht, sogar der Krieg, nur wenige 100 Kilometer im Osten entfernt. Wenn plötzlich keine Kommentare mehr lanciert werden, zu Klima, Faschismus und Weltökonomie. Schon gar nicht mehr zu diesem Virus, das doch so viele im Handumdrehen in haltlose Hysterie zu versetzen vermochte und die Mitmenschen wahllos ungehemmt anschnauzen ließ. Der Tod der Königin steht über allem. Einzige Fehlleistung, gravierend, der Sekretär des Prince of Wales informiert dessen Entourage von der bevorstehenden Kündigung. „Herzlos“, nennen die derart Betroffenen diesen Schritt, haben sie doch dem neuen Monarchen über Jahrzehnte die Treue gehalten. Das ist das häßliche Schandgesicht des britischen Kapitalismus. Der neue Prinz, der künftige Thronfolger, wird sich sein eigenes Büro gestalten und das ihm passende Personal auswählen. Warum, um Himmels willen, ist er nicht fähig, die Entourage seines Vaters zu übernehmen? Wenn die beiden Windsors auch nur ein Minimum an Format beweisen wollen, dann übernimmt der Sohn die Lakaien des Vaters, anstatt sie zu massakrieren, indem er sie vom selben Vater direkt oder indirekt vor die Tür setzen läßt. Das ist das Sakrileg in dieser Totenwoche der Queen, und sie waltete leider dieser ausgeborenen Dummheit nicht vor. Es ist schon schlimm. Denn das sind Menschen. Die Queen war ein Mensch, und kein schlechter. Daß sie Fehler beging, steht außer Frage. Jeder von uns begeht Fehler. Manche sind kapital, manche sind von großer Wirkung, manche von kleiner, und manche sind subtil, so klein und versteckt, daß wir sie erst Jahre später, dann, wenn wir ein klein wenig weise geworden sind, aufzustöbern und einzugestehen fähig sind. Was sind wir denn Anderes als Getriebene, Zermahlene, Täter und Opfer in einem, Zerrissene, oft genug Haltlose und Rasende?! Doch der Tod der Queen führt uns vor, was göttliche Barmherzigkeit sein kann, oder, um es genauer zu formulieren, wie wir, die Suchenden, ein Gefühl, eine Ahnung in uns aufflackern wissen, was der Friede eines gottgefälligen Lebens am Ende aller Tage uns, den Zeugen des Todes, bedeuten kann. Abschiednahme in Frieden. Wie formulierte es der neue Regent? „Auf daß mir Gott, der allmächtige, für den Rest meiner wenigen Tage Kraft und Weisheit gebe, dieses unser Volk nach bestem Wissen und Gewissen zu leiten!“ So hatte die Queen damals, 1952, als 26-Jährige natürlich nicht gesprochen. Doch sie war das weltliche Oberhaupt der englischen Staatskirche, und als solche besuchte sie 4 Päpste im Vatikan, allesamt unter herzlichen Umständen und in Begleitung ihres knorrigen Prinzgemahls, der üblicherweise die Gastgeschenke mit Kennerblick und Humor aussuchte. Den fünften Papst, Pius XII., besuchte sie ein Jahr vor ihrer Inthronisation, 1951. Der Pole und der Deutsche, letzterer ziemlich genau nur ein Jahr jünger als sie, statteten ihr auch Gegenbesuche ab. Die Männer, so wird kolportiert, waren stets tief gerührt. Fürwahr, diese Monarchin prägte eine Epoche, und sie hatte die Statur, uns mit ihrem Tod in Ayahuasca tief zu berühren. Und ein sehr guter Freund aus Amsteram rief aus: „I’m speechless!“

    Diese Frau hatte Humor, wirklichen Humor. Auf diesem Niveau unerreicht. Sie spielte in wahrhaft herzigen Sketches für das Fernsehen mit, wo sie ihre angenehme Stimme lieblich einbringen konnte. Sir David Attenborough, der treue Vasall, ging mit ihr im Park von Buckingham spazieren. Sie wußte zu allen Bäumen eine Anekdote zu erzählen. Sie war herzlich unkompliziert. Eine Vorzeigedame vom Scheitel bis zur Sohle. Neben ihr wirkte so mancher Prime Minister wie ein Rüpel. Die Königin ging von uns mitten im Krieg, so wie der Kaiser von Österreich-Ungarn, ein Mann, der täglich am Morgen knieend zu beten pflegte. „…von Gottes Gnaden…“: Das war die Einsetzungsformel, so wie bei der Queen. Mein seliger Freund Umberto di Castillo war nicht umsonst Monarchist. Er hatte erkannt, daß Franz Josef I. tatsächlich im Herzen an Gott glaubte, auch wenn seine Praxis holprig, widersprüchlich, fehleranfällig und sogar dramatisch sich gestalten sollte. Ein wenig davon bekam auch Her Majesty ab, erst recht aber ihre beiden älteren Söhne, die dem Feuer im eigenen Unterleib längere Zeit gefährlich hilflos ausgeliefert bleiben sollten. Das alles erschließt sich spät, dann, wenn der Krieg vorbei ist und Leichen zu beklagen sind. Manche Kriege dauern nur ein paar Tage, so wie jener absurde auf Falkland, manche Jahre, und manche Jahrzehnte. Der Krieg ist ein Mörder. Nichts schlimmer. Elisabeth II. zog nicht in den Krieg, Elisabeth I. hingegen schon, in einen gerechten, der vor der Küste Englands stattfand, gegen die gigantischen Schlachtbarkassen der Armada, für die Philipp II. ganze Wälder niederfällen hatte lassen. Ein Verbrechen durch und durch. Ein Wunder, wie die Husarensegler der Königin, die Vizeadmiräle Francis Drake, John Hawkins und Martin Frobisher, diesen Kampf damals gewinnen konnten. Mit Wind, Feuer und Todesmut. Die Piraten der Königin.

    Piraten der Königin ganz anderen Gemütes sind jene Damen und Herren aus Deutschland und Holland, die in unverbrüchlicher Treue zur Krone – hier der Mutterpflanze – den Mut beibehalten, der Wahrheit ihrer Existenz ohne Lüge nachzuforschen. Sie segeln nächtens hinaus in das dunkle Meer der Bewußtheit, und sie begegnen nach anfänglicher Übelkeit und sonstigen Krisen zuletzt Schätzen und Welten, die ihnen den Atem rauben. Sie begegnen dem Geist (πάράκλετ), ohne zu wissen, daß er selbst es ist. Doch Tage später wissen sie es, vielleicht sogar bereits nach Stunden, dann, wenn der Keim der Himmelsmacht aufgeht, der Keim des ständig Anwesenden, κψριοσ, dem auch die Königin dient.

     

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fd/Barack_Obama_Michelle_Obama_Queen_Elizabeth_II_Buckingham_Palace_London.jpg

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