Bei Sinnen sein?

Der Tag schreitet voran. Zeitweise fährt er, zeitweise rast er. Und bei Nacht? Mäandert er in fremden Gefilden. Bin ich mir selber fremd? Jawohl! Doch sei’s drum. Für einen Buddhisten (sie melden sich verstärkt zu Wort, ich verstehe sie von Abend zu Abend besser, wenn ich mich in meine Hütte in Otorongo zurückziehe und den Herrn aus Amdo studiere; hier ist das Wort „studieren“ ohne Abschweife am besten angebracht) ist das Sich selbst fremd Sein keinerlei Stein des Anstoßes. Sie nennen es die Ich-Anhaftung, die Wurzel allen Übels. Das ist ja das Spannende an diesem Abenteuer: durch ein geheimnisvolles, bisweilen erschreckendes Leben zu kreuzen, eines Tages ohne Furcht, hartnäckig errungen. Keine Angst mehr um das eigene Leben, keine Angst mehr vor der Zerstörung des Ichs. Und auch nicht in seinen stolzen 90ern, lebensverdrossen und lebensmüde, wie es Tolstoi von sich bekannte. (Respektvolles Lob und Ehrerbietung ob seiner Freimütigkeit) Wenn ich heute freimütig bin, stürzen sich sofort die Barracudas von allen Seiten auf mich, so wie anno dazumal, als einmal ein Herr bei Agustin in Ayahuasca in eine Krise schlitterte und im Freien sich hinlegen wollte. Sofort war er von 4 (vier!) Harpyen umringt, die ihn mit Ratschlägen malträtierten. Zu allem und jedem bilden die Leute sich ein, Kommentare und Ratschläge abgeben zu müssen. Sie liegen auf der Lauer, wenn einer einmal kollabiert. Das ist ein Gebot der Nächstenliebe, sagen sie, oder auch nicht. Bei den Indios darfst du in Ruhe krepieren, doch das will keiner mitansehen. „Tu doch was!“, schreien sie dich an, oder „Tu das nicht! Spuck nicht so laut! Speib nicht so laut! Mach nicht soviel Skandal!“ Und dann wundern sie sich, daß die Leute mehr und mehr ins Asyl sich zurückziehen. Doch Asyl ist nicht automatisch Rettung. Asyl ist erst dann Asyl, wenn es gesichert ist, eine souveräne, untangierbare Zone. Das ist Otorongo. Der Ort darf mit jeder Ankunft eines schizophrenen Patienten (um dieses Wort einmal ungestraft zu strapazieren) seine souveräne Lage und erst recht seine verläßliche Geistigkeit beweisen, inmitten des allgemeinen Chaos und nächtelanger Stürme innen wie außen. Der zerrissene Kranke, wie er leidet, verzagt am eigenen Ich, doch mehr noch an der Sozietät, die eine Befragung des eigenen Ichs aus Ratlosigkeit mit allen Mitteln unterbindet. Sie untersagt Stille und Bedürfnislosigkeit. Sie fördert Surrogate mit aller Kraft. Sinnlose Surrogate sonder Zahl. In keiner Instanz werden die entscheidenden Fragen gestellt, zumindest nicht laut und öffentlich. Die Kornkreise in England, die seit 30 Jahren jeden Sommer erscheinen, nicht. UFO-Sichtungen nicht. Nicht der Gedanke, was, wenn wir nicht die Einzigen sind in diesem Kosmos? Diese Frage unterbindet auch die katholische Kirche mit Macht. „Was, wenn wir nicht die Einzigen sind? Was, wenn wir nur eine inferiore Spezies sind, unendlich inferior? Zivilisationen, die uns um Milliarden Jahre voraus sind? Milliarden von Jahre. Für diese Wesen, so Stephen Hawkins, können wir doch nur Bakterien sein. Die entscheidenden Fragen werden allesamt unterbunden. Die einzigen, die diese Fragen zulassen, sind die Toten. Unsere Toten. Denn unsere Toten sind uns ein paar Schritte voraus, entscheidende Schritte. Die Toten wissen bereits alles, und dergestalt sind sie die besten Lehrmeister. Die faschistische Lüge ist doch evident: Kaum bist du gestorben, wirst du aus dem Gedächtnis gelöscht. Du hast nichts mehr zu sagen, und das ist gut so, sagen die Totenverachter. Endlich ist er/sie weg. Deshalb der Massenmord, denn alle Faschisten anpeilen. Tote, leblose Leichen haben nichts mehr zu sagen, ein Problem weniger somit. Und manche Lebende sind damit einverstanden und sagen, ich als Tote(r) brauche unter der Erde auch keine Leichenstierler, ich will meine Ruhe, endgültig, und das bekomme ich nur garantiert, wenn ich verbrannt und meine Asche (meine??) im Meer oder im Fluß zerstreut wird. Ich weiß, wie die Leute sind. Särge sind ihnen nicht heilig, Sarkophage noch weniger. Sie meinen überall herumstirrlen zu müssen, überall. In meinem Privatleben, in meinem Seelenleben, in meinem Körper, ob lebendig oder tot. Die Toten sind ihnen nicht heilig. Sicher nicht. Und sie selbst meinen, sie könnten sich das alles ungestraft leisten, da sie doch den Triumph des Überlebens auskosten wollen. Sie, die Unsterblichen. Sie wollen sich mit mir nicht versöhnen. Sie wünschen mir ein möglichst langes Fegefeuer an den Hals, oder noch schlimmer. „Fahr zur Hölle!“, schreien sie mich an, wie sie den Abzug betätigen oder den Hebel zur Falltür betätigen. Die Toten zählen nichts mehr, erst recht nicht jene, die das ursprüngliche, nicht faschistische Leben bewahren wollten, so wie die First People auf allen Kontinenten.

Doch die Toten sind meine Lehrmeister. Erst durch sie verstehe ich. Beginne ich zu verstehen. Klar, ich stehe erst am Beginn, und ich werde immer am Beginn stehen. Das Wissen ist unendlich. Das Wissen ist das Mysteriöseste, was es auf Erden gibt. Ich schreibe es in der Steigerungsform, weil es mich, einen Menschen, betrifft. Das Bewußtsein ist mir angelegt. Doch was ich mit ihm mache, nicht. Wie ich es einsetze, nicht. Bewußtsein ist die Hartwährung des Universums, wie Castaneda es nannte, doch Lernen ist kostbarstes Mittel und Wissen kostbarstes Gut, wie Mühle und Mehl. Aus dem Weizenkorn wird Mehl und aus Mehl mit Wasser, Ei und Hefe kostbares Brot, Symbol des Lebens. Wissen ist Brot, Lebensmittel für weiteres Arbeiten. Das Wissen hält niemals an. Es reflektiert sich nicht selbst. Das ist der große Irrtum: die Wissensreflexion. Das Phrasendreschen vom Katheder herab, so wie altertümlich in den Kirchen. Es ist zum Speiben! Es gibt viel zu lernen, no na! Wer es ernst meint mit dem Lernen, lernt sofort, da draußen wabbert Unendlichkeit. Unendlichkeit, die ich niemals erfassen werde. Jene, die vorgeben, Wissen sei nur eine Frage der Zeit („Es ist nur eine Frage der Zeit und der eingesetzten Forschungsressourcen, bis wir diese Frage geklärt haben…“), diesen Leuten gefällt es, Gott zu spielen. Sie verdinglichen im Handumdrehen das geringste Erkenntnisdetail. So handeln die Faschisten. Sie handeln entsprechen ihrer Doktrin. Die Doktrin (die „Endlösung“) ermächtigt sie zu jedem Verbrechen. Der Ungeheuerlichkeit ist keine Grenze gesetzt. Pater Pio äußerte einmal eine Ungeheuerlichkeit anderer Natur, und niemand, wirklich niemand, wollte sich zu dieser Ungeheuerlichkeit äußern: „Es gibt mehr Dämonen auf dieser Welt als es jemals Menschen gegeben hat…“ Dieser Spruch ist in mehrerer Hinsicht zentral. Er redet von Dämonen (so wie auch Dostojewski von Dämonen schrieb), und er redet von ihrer Sonderzahl. Damit ist das Problem benannt. Das Problem des Menschen. Und eine Reihe von Fragen steht ebenso augenblicklich an. Eine ganze Reihe von Fragen. („Wer sind sie? Woher kommen sie? Was ist ihre Absicht? Absicht in jeder Hinsicht“) Diese Frage aus San Giovanni Rotondo finde ich gespiegelt in Lhasa und in Dharamsala: „Was ist Samsara? Was ist die Absicht der Hölle?“ Und ich finde diese Frage abgebildet, ausgekeimt, in Paris, aus dem Mund eines pfeifenrauchenden Zyklopen, eines Existentialisten. „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Jean Paul Sartre, ein interessanter Zeitgenosse zur damaligen Zeit (auch für Ché Guevara), mußte eine Perspektive, Erfahrungen(!) „gewonnen“ haben, die ihn dazu bewegten, so zu reden. Der Herr aus Nazareth redete nicht so, obwohl sie ihn am Ende auspeitschten, wie man es sich nicht vorstellen kann und soll. Manche Heilige erzählen von jenem Ort, Inferno, doch von einem Ort kann man doch beim besten Willen nicht sprechen. Das ist zu trivial. Wir sollen und müssen vom Leiden hier und jetzt sprechen. Nur das zählt. Nur das. Was tun wir, wenn wir klug sein wollen? Was tun, wenn wir klug sind? Was haben wir gelernt? Das, sagt Don Juan Matus, ist die intimste Frage. Sie ist nur ein kleiner Markstein auf der Straße, die in die Unendlichkeit führt.

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5 Antworten

  1. Der Blitz des Verstehens

    Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Sollte es denn überhaupt, irgendwann, gesprochen werden? Das letzte Wort, wie sollte es an Dramatik, wie sollte es jemals an himmelschreiender Dramatik überboten werden? Das letzte Wort gebührt wohl ohne jeden Zweifel einem von höchster Stelle Gesandten, einem Messias, dem es um Weltenrettung geht. Das letzte Wort ist eingewoben in Weltgeschichte oder, noch höher gegriffen, in Weltengeschichte. In kosmische Ungeheuerlichkeit.

    Kosmische Ungeheuerlichkeit, auf irdische Verhältnisse heruntergebrochen, kann nur in Unerklärlichkeit, Absurdität und in einen letzten Aufschrei einmünden, so wie der letzte Aufschrei – selten dieser selbst nur allzu oft; zumeist ist es ein Verröcheln, ein stummes, nunmehr sprachunfähiges Resignieren – eines sich in die letzte Schlacht stürzenden Edelmannes, der meint, er kämpfe im Morgenland für eine gerechte Sache, wie zum Beispiel die Befreiung der Heiligen Stadt (Jerusalem). Dieser letzte Aufschrei, wie er ungezählte Male zu hören war und immer sein wird, ein Aufschrei, der das Weltengewand, das immerzu leidende, blutende, mit dem Wort des Menschen durchtränkt und einfärbt. Das Wort wird Fleisch und das Wort wird ebenso Asche. Der Logos wirkt unzweideutig in beide Richtungen. Das Wort hat noch Bestand im Verdämmern, im Einschlafen, im Weinen und Betteln. Der sprachunfähige Bettler, dem die Kraft zum Wort nunmehr fehlt, er hebt die Hand, eine bittende Geste, und dort, wo selbst zum Handerheben die Kraft fehlt, wie bei den verhungernden Kindern im Wüstensand Somalias oder Äthiopiens, dort bleiben nur große, weit geöffnete Augen, vom Tod gezeichnet der ausgemergelte kleine Körper. Diese Kinder haben sich in natürlicher Entscheidung todesgeweiht zurückgezogen und warten, was weiter geschieht. Das Aufziehen der Agonie, die sie hinwegtragen wird. Das ist der Prozeß des Sterbens, wie er die Welt beherrscht. Die Agonie des Sterbens, wie überall. Nicht das Walten des Plötzlichen. Das Plötzliche ist die Ausnahme. Die Gewehrkugel, die unter meinen Füßen explodierende Mine, das Zersplittern einer Granate mit einer Geschwindigkeit, die das Auge nie und nimmer fassen kann. Und das Einschlafen, das ewige Einschlafen im Schlaf ist ein Segen, ein Geschenk des Himmels für Auserwählte, so wie für den unvergessenen Fred Leuchtenmüller, der gegenüber der Langenharter Kirche seine Ford-Werkstätte samt Tankstelle all die langen Jahre (Jahrzehnte!) betrieb. Ich höre ihn noch, wie wir im Bus durch Quebec fahren, 1996, und ich höre ihn wenige Tage vor seinem Tod auf der Post, wie er im Pyjama eine Besorgung erledigt und beim Hinausgehen über die automatische Tür erschrickt. „Hö, was ist das?“ Ein Ausspruch für die Ewigkeit. Dank seiner, dank dem Fred, der bei uns im Haus zu tarockieren pflegte, habe ich verstanden, in welchen Sphären der auf den Tod Wartende schwebt, ein Wartender, dem die über alles geliebte Gattin – die bildhübsche; auch sie war mit in Quebec – bereits vorausgegangen ist. Da habe ich verstanden. Ich wußte im selben Moment, das ist das letzte Mal, daß ich ihn sehe, und sein Abschied, in dem er sowieso niemanden mehr erkennen und zum letzten Mal grüßen will, nahm epische Ausmaße an, und wie immer bei epischen Ausmaßen verstand absolut niemand von den wartenden Postkunden, was hier direkt vor ihren Augen geschah. Der Abgang eines honorigen Bürgers und demütigen Spenders der Caritas, dem man diese Herzenstiefe niemals angesehen hätte, denn seine Jovialität und volle Baßstimme übertünchte alles, doch seine Augen blieben immer klar und freundlich. In diesem Moment vollzog sich Gewaltiges, und das Unfaßliche ist ja, daß sich dieses Unfaßbare in jeder Sekunde vollzieht, das Aufscheinen und das Verlöschen. Es ist unfaßbar und droht den Sehenden zu verschlingen. Hier wird nicht va banque gespielt. Hier wird überhaupt nicht gespielt. Hier spielt niemand und nichts. Hier vollzieht sich etwas, und es vollzieht sich seit Äonen. Und es wird sich vollziehen und es wird sich am Ende aller Zeiten vollzogen haben, wenn es überhaupt jemanden geben sollte, der so sprechen darf. Der Blitz schlägt. Er erschlägt. Er rafft hinweg. Es geschieht, und es geschieht nicht als ein Mordakt wie aus der Hand jener Verbrecher, die sich damals am stolzen Volk der Japaner zu rächen verpflichtet sahen. In dem Moment, als der eine und wahre Blitz herabfuhr, vor undenklichen Zeiten, wurde im Meer Leben geschaffen. Der Moment der ersten reproduktiven Zelle. Und mit ihr war das Licht eingepflanzt in diesem Planeten. Doch selbst dieses Pathos mag überzogen sein. Bereits damals existierte der Mond, dieser unübertroffen magische Begleiter unserer Heimat. Der kosmische Trrabant, der uns immerzu sein Gesicht zuwendet. Der treue Begleiter, der treue Freund. Einer der rätselhaftesten Aussprüche Castanedas, den ich lange, lange nicht verstanden habe, war jener, das Universum würde sich durch das bewußte Leben seiner selbst bewußt. Ich interpretierte dies als klassische Gotteslästerung. Heute, heute, sehe ich es tiefer. Heute habe ich nichts mehr zu verteidigen, oder wenn, dann wenig. Zu schützen, ja, doch nicht zu verteidigen. Ich habe meine Ölplattform in der Nordsee abgebaut, oder sagen wir besser, verlassen. Sie steht noch immer einsam dort, wo sie immer stand, eine gigantische Maschine, von der ich schon gar nicht mehr weiß, wie ich sie in den 500 Jahren gebastelt habe. Wie und mit wem. Und die Tiere werden sie vereinnahmen und verwandeln. Heute bin ich ephemer und bekenne mich dazu. Dunst, den der Wind verweht. Und keiner wird sich meiner erinnern, so wie sich keiner, absolut niemand, an jene Wolken erinnert, die er Tag für Tag sieht, diese Dunstschleier des Himmels. Und von drüben, vom gesegneten (und auf Ewigkeit gesegneten), schneebedeckten Hochplateau, blasen sie mit ihren Langhörnern herüber zu uns, Nachklang und Vorspiel der einen und wahren Erscheinung, wie sie sich am Himmel gezeigt hat und wieder zeigen wird, an jenem einen Tag, den ich erwarte.

     

     

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  2. Rettung. Auslöschung.

    Das Dichte im Sein, wie ich es zumindest zeitweise empfinde, ist seine Undurchdringlichkeit. Die Philosophen, so auch mein hochverehrter Lehrmeister Wucherer-Huldenfeld, nennen diese wahrgenommene Undurchdringlichkeit “Kontingenz”. Das Leben ist undurchdringlich. Es dominiert uns. Wir sind ihm ausgeliefert. Das Herz schlägt von allein. Gegen das Altern ist kein Kraut gewachsen. Der Schmerz existiert. Der Schmerz ist die ultimative Wahrheit, sagt George Orwell in “1984”. Das Leben ist ein Fluß. Wir treiben in ihm. Keiner sitzt am Ufer und wackelt mit den Zehen. Die Kinder schmeißen leergetrunkene Plastikflaschen in den Fluß. Das ist ihre Form der Selbstvergewisserung von klein auf. Sie wissen bereits im zartesten Alter, wie sie mit ihren Faxen und ihren Drohgebärden die sie beobachtenden Gringos zur Verzweiflung treiben können. Eine leere Coca Cola-Flasche, sorgsam verschraubt, darf über Bord auf dem Fluß des Lebens dahintanzen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Der Genuß eigenmächtiger Handlung. Das ist der Sinn des Lebens. Das Leben als Müllproduktion. Das ist die Farce des Menschseins und gleichzeitig der Triumph des Vampirs. Das Paradies wird vermüllt, so wie auf den Salomon Inseln. Müll. Überall. Hier läuft etwas grundsätzlich falsch. Dies ist der programmierte globale Tod. Es ist der neue globale Faschismus im Tarnkleid des Konsumismus, sagte der unvergessene Pier Paolo Pasolini, ein waschechter, ehrlicher Kommunist, so wie sein Freund Alfred Hrdlicka. Was hier falsch läuft, sagte der Wiener Bildhauer seinerseits, hat ein Gesicht und einen Namen: Es ist die Mördernatur des Menschen, sein Sadismus, also das Böse schlechthin. Hrdlicka ist in Mauthausen und am Albertinaplatz in Wien 1. verewigt. (Dieses Wort kann ich in diesem Zusammenhang ruhigen Gewissens gebrauchen). Verewigt. Und um die Schwester Restituta-Büste im Stephansdom nicht zu vergessen! Schwester Restituta, meine Vorzeige-Heroine, enthauptet von den deutschen Mörderbuben im Wiener Landesgericht, direkt hinter der Universität.

     

    Das Dichte, das ist der Krieg. Der Krieg ist total. Der Kriegsschauplatz ist überall. Krieg ist eine Frage der Waffen. Es gibt vielfältige Waffen, Blick und Wort zählen dazu. Auch in den Phantasien tobt Krieg. Krieg erfaßt jeden Menschen. Deshalb sagt ja Herr Gyatso, wer Wut und Haß in sich überwunden hat, ist der wahre Held. Und Don Juan Matus sudert seinem Schüler Castaneda die Ohren voll mit seinem Herumreiten auf der Forderung des Krieger-Seins. Das klingt vielleicht sogar ein bißchen japanisch. Stichwort “Samurai”. Ich kann mit Sicherheit sagen, daß ich mit den Japanern sympathisiere. Ein wohlgeordneter Staat mit Identität und sozialem Zusammenhalt. Das Meiste, was aus Japan kommt, hat Qualität: die Autos, Seiko, Sushi, der Shinkansen auf seiner schnurgeraden unterirdischen Magnettrasse mit über 500 km/h. Die Japaner kennen den Begriff von Kodawari. Er bezeichnet die Philosophie, Dinge über ein Maß hinaus zu perfektionieren, das bei uns längst als vollkommen gilt. Praktiziert man dies, erschließt sich dahinter eine neue, vorher verborgene, Welt. Also: Packen wir’s an. Es gibt immer was zu tun, höre ich bei Hornbach (oder Obi). Was gibt es vorrangig zu tun? Klar doch, Projekt “Lebensrettung”. Oder liege ich da falsch? “Wer sein Leben gibt, wird es gewinnen, wer sein Leben gewinnt, wird es verlieren”, höre ich postwendend aus Palästina und halte inne. Da muß also was dran sein. Sollte ich demnach mein Projekt umtitulieren? Gut. Halten wir mal inne. Was will ich denn eigentlich? (Frage zum wiederholten Mal). Vielleicht sollte ich diese Frage gewissen Autoritäten stellen, die mich besser kennen als ich mich selbst. Mutter Ayahuasca, beispielsweise. Ihr falle ich nicht lästig. Ganz und gar nicht. In ihr merke ich doch auf unübertreffliche Weise, wie die Musik spielt. Ayahuasca ist ein Ritus, somit Transzendenz, und Transzendenz ist heilig. Wer Ayahuasca trinkt, sucht wissend oder unwissend das Heilige, somit das Heil. Der Heil Suchende sucht den Heiland. Der steht immer an der Tür, dieser gewissen Tür, wo dahinter scheinbar das Nichts auf uns wartet. Doch der Heiland genügt. Das Dahinter geht mich hier und jetzt nichts an. Was mich angeht, das hat er ja deutlich formuliert. Die beiden obersten Gebote. Und daran darf sich mein Wollen ausrichten. Jawohl, Herr Schneider. Da möchte ich doch wohl kurz mal einen Punkt machen: Was tun, wenn das Grauen im Morgengrauen, in der Stunde des Wolfs, in der Stunde der Hinrichtungen, auf mich überzugreifen droht, sodas mir Angst und bange wird? Da hilft nur Beten. Wie diese gewissen Leute in Uniform doch dieses Wort immer auszusprechen pflegten, o meine Güte: in Hochsprache, verlangsamt, deutlich, doktrinär. Die Kampfansage an das Böse im Zuhörer. Ich war nur allzu oft und lang genug der Überzeugung, die da, die vom “Beten” reden, wissen überhaupt nichts. Sie wollen nur manipulieren und schlechtes Gewissen einreden. Heute, da ich langsam immun werde gegenüber diesen giftbeladenen Einflüsterungen, übernehme ich die Verantwortung bei meiner eigenen Stanley Livingstone-Dschungelexpedition in Schwarzafrika. Niemand hat mir mehr etwas zu sagen, gleichwohl höre und merke ich zeitweilig und immer öfter auf. Was reden die Leute da wirklich? Warum höre ich gerade das, was ich da höre? Warum denke ich gerade das, was ich denke? Woher kommt meine Angst? Was ist das eigentlich? Warum, sagt der Buddhist, sucht er Zuflucht bei Buddha, seiner Lehre und in seiner Gemeinschaft der Praktizierenden? Das exakt nämlich war die Antwort des Herrn in Gelb auf die Frage des Herrn in Weiß, 1986 in Assisi, “Was, Eure Heiligkeit, ist die Soteriologie Ihrer Praxis?” Schallmeier, der Pole. Wirft, er kann es sich nicht verkneifen, mit griechischen Fremdwörtern um sich. „Was ist der Heilsaspekt Ihrer Praxis, Eure Heiligkeit?“ Ich sehe die Szene oft in Ayahuasca, auch, weil der Pole ja seit 18 Jahren auf der Weltenbühne fehlt und Tote mein Hauptthema abgeben. Der Mann aus Dharamsala wirft sich also kurz in Position und hebt in seiner Mutterspache (1a-Fachdolmetsch war vorhanden) an, siehe oben. Ergänzung: „… das, so scheint mir, ist doch in Ihrer Praxis nicht anders, Eure Heiligkeit, oder?“ Der Pole fühlt sich ertappt und herausgefordert. Der Mann in Gelb sieht es sofort. Er hat es geradezu erwartet. Der Einwurf ist klar. Deshalb ergänzt er höflich gegenüber dem höflich denkenden und also schweigenden JP II. “Der einzige Unterschied, wie Sie wissen, Eure Heiligkeit, ist jene der Herkunft des Heilsbringers. Gauthama Siddharta, der Erwachte, war ein Mensch aus noblem Geschlecht, Jesus von Nazareth hingegen, wie Sie bekennen, war Mensch gewordener Gott.” “Doch wie, Eure Heiligkeit, kann endgültiges Verlöschen für Sie Trost und Heil bringend sein? Wie kann der Begriff des Nirwana menschliche Angst besänftigen?” Und hier richtete sich der Herr in Gelb samt seinen billigen Trademark-Brillen nochmals auf, vollführte eine Geste mitfühlenden Verständnisses und sprach höflich: “Dies, ehrwürdiger Heiliger Vater, ist eine Sache der Mentalität. Vergessen wir nicht, Buddha lebte 600 Jahre vor Christus, und seine Lehre entstand in Indien, einem Land mit Jahrtausende alter Kultur. Diesem Land wohnt ein anderes Verständnis von Vergänglichkeit und Kontinuität inne…” Ende des Zitats. Ich weiß nicht, ob damals Tee serviert wurde. Ich jedenfalls hätte um eine kräftige Tasse gebeten, mit Milch.

     

    Thomas Bernhard, dessen letztes Werk just den Titel “Auslöschung ” tragen sollte (Bernhard hatte seine Gründe), starb nur knappe eineinhalb Jahre später, nach jenem epochalen Dialog.

     

    Pier Paolo Pasolini.jpg

     
  3. Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?

    Abseits, das ist Nacht. Abseits, das ist Stille, vielleicht sogar ewige Stille. Abseits, das ist Lautlosigkeit, höchstens ein geflüstertes Wort. Abseits, das ist nicht Einsamkeit, doch Für-sich-Sein. Und Abseits ist Unberührbarkeit. Abseits ist Freiheit des Denkens, Freiheit des Schlafens, Freiheit der Himmels- und Erdanbetung. Freiheit ist immer schon Abseitigkeit. Jene, die sich allem Gerede, allem Gerede, entzieht. Das Gerede hat ausgespielt. Abseitigkeit, das sind die Autisten, jene, die sich in den bereits geheizten Studienbibliotheken an bereits kalten Novembertagen einsam und geistesabwesend den Handrücken wundkratzen, unbesehen. Sie sind nicht geistesabwesend. Sie wollen nur unerreichbar sein. Und keiner der geschäftig vorbeischusselnden Studierenden will sie wahrnehmen. Sie haben Schluß gemacht mit der Lüge. Endlich sind sie bei sich angekommen. Sie haben Genügsamkeit gelernt und Stille. Kein Gerede mehr. Sie fahren den ganzen Tag über mit der Straßenbahn durch die Stadt. Drinnen ist geheizt. Sie mummeln sich ein auf ihrem Platz. Sie suchen sich die längste Strecke und zudem eine, die ihnen gefällt, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht den 49er hinaus nach Hütteldorf, oder den Fünfer vom Westbahnhof zum Prater. Oder den 64er hinaus nach Pötzleinsdorf, von der Oper weg. Oder jenen hinaus zum Zentralfriedhof, wenn es nur nicht so traurig wäre. Sie schauen schweigend zum Fenster hinaus. Keiner hat eine Ahnung, was hier alles geschieht. Abseitig sind die Jenseitigen, jene Lieben, die mir in ihrer eigenen Wohnung weggestorben sind. Und manche wurden erst nach Monaten gefunden, da waren sie bereits ausgedörrt. Das sind keine Einzelfälle. Abseitig war Paul Celan, als er sich in der Seine ertränkte, oder Franz Georg, der in der Wimm in den uferlos glatten Zuführwasserkanal der ÖBB sprang, er als Nichtschwimmer. Der erste Suizidant, von dem ich als Kind Notiz nahm. Und abseitig waren, leider, die guten Freunde von der Schildkröteninsel, Anthony Bourdain und David Carradine. Fürwahr, so zu sterben muß man erst einmal zusammenbringen. Alles zum Krepieren und Speiben. Doch lassen wir das. Es gibt die unbezahlbaren Toten und es gibt die noch unbezahlbareren Noch-Lebenden, jene, die unter dem Deckmantel der Liebe all ihrer Hoffnung beraubt wurden, und die dann meinten, sich zu Tode rauchen zu müssen, so wie Ch.S., meine Gföhlerin. Und es gibt die Verbrecher. Und es gibt die unruhigen Nächte, wo es wenigstens – welche Weltenrettung! – dunkel ist, auch wenn das Hafenlicht unten am Fluß nie ausgeschaltet wird. Wo sind die alten Zeiten, als es von Mitternacht bis um Fünf keinen Strom gab. Ich sehne mich nach Finsternis, nach jener des Waldes. Ich sehne mich nach dem Paradies, und ich sehne mich wie dieser mondsüchtige Pater Pio nach Christus im Himmel, mögen da die Klugen kommentieren, wie sie wollen. Es ist sowieso bald Stille. Und das Pferd galoppiert durch lang vergangene Zeiten. Und ich bin mir sicher, diese segensreichen Zeiten werden wiederkehren. Diese Zeiten der absoluten Einfachheit, mit vielleicht 100 Millionen Menschen auf diesem Erdball. Wenn überhaupt. Über den Rest brauche ich mir keine Gedanken machen. Sicher nicht. Über Amen’ho-tep macht sich ja auch keiner Gedanken. Und der war ja auch nicht irgend wer.

     

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  4. Die Unbedankten

    Die Unbedankten sind jene, die, wie der Herr sagt, im Himmel ihren Lohn erhalten. Und er wird reichlich sein. Der Herr spricht vom armen Lazarus, vom bamherzigen Samarither, ja sogar vom gerechten Schächer, der selbst ein Mörder, wie der Herr am Kreuz hängend, und nun, in seiner Sterbestunde, seine Taten bereuend und den Gerechten in ihrer Mitte mit klarem Blick anerkennend. Die Unbedankten, das sind für gewöhnlich die kleinen Leute, die Armen, die Kranken. Wer dankt schon einem Kranken? Die Unscheinbaren. Jene, von denen die Geschichte, die uns eingetrichtert wurde, eben nicht spricht. Die in den zahllosen Kriegen Gemeuchelten, und die von Tyrannen und Wahnsinnigen Vernichteten, so wie in Kambodscha, Uganda und allen anderen Kontinenten, die Antarktis einmal ausgenommen. Doch gerade diesen Menschen gebührt Dank. Sie waren Menschen als Kinder Gottes. Wir könnten Gott in ihnen erkennen. Jawohl. Sie haben uns in einer Weise geholfen, die sich vielleicht unserem selbstvoreingenommenen Blick entzieht. Doch jetzt ist es zu spät. Doch ich kann ihnen nachrufen, dorthin, wo sie jetzt sein mögen. Bei Gott ist nichts unmöglich. Dank ist immer möglich. Ich könnte in mich gehen, alle Orte, an denen ich war. Überall gab es Menschen, besondere Menschen. Und erst recht könnte ich meinen ehemaligen Feinden danken (doch was heißt schon „Feind“?), jene, die partout eine schlechte Meinung von mir hatten oder haben wollten, was heißt, sie wollten mich partout verurteilen. Das tue ich doch auch. Mein Gott, was und wen ich nicht schon alles verurteilt habe! Menschen Verurteilen, genau das sollten wir tunlichst unterlassen, sagt der Herr. Wie recht er hat! Danke vielmehr all diesen Leuten! Damit haben sie dir doch einen Gegenstand des Überlegens übergeben. Was hättest du ohne Menschen zu denken, was zu erkennen ohne Personen? Selbst dem Mindesten gälte eigentlich noch Dank, denn dieser Mensch ist gottgewollt. Sollte uns dies nicht zu denken geben?

    Demut nennen sie es, diesen Akt der Anerkennung. Zurecht. Nur allzu schnell ist es vorbei. Die Irrtümer gelten als Lehre, erst recht meine Verblendung, mein Blindheit, meine Gedankenlosigkeit. Laß also Gerechtigkeit walten und besinne dich. Besinne dich dort, wo du dich die längste Zeit nicht besonnen, sondern nur treiben hast lassen. Sie alle haben ein Lebensrecht. Du kannst es ihnen nicht einfach absprechen. Wer bist du denn? Die Übeltäter sitzen im Gefängnis. Doch nicht alle sind schuldig. Manche, Vereinzelte, wurden zu Unrecht verurteilt. Besuche die Gefangenen, sagt der Herr. Und bedenke, wir alle sind Gefangene. Der Ungeist hält uns in seinen Klauen gefangen. Um deine Freiheit, sofern sie dir etwas bedeutet (wie sollte sie nicht?), mußt du kämpfen, Tag und Nacht. Sieh doch nur die Armen. Sie starben in Armut, doch einmal, einmal schenkten sie dir ihren Blick, an einem stillen Sonntagmorgen, als du Zeitung stehlen gingst. Du Schlingel! Man darf sich schämen, mein Guter! Und wo sind all die billig bezahlten Sonntagmorgen-Zeitungssack-Aufsteller? Nie hast du mit einem bei seiner Arbeit gesprochen, doch er lieferte dir die Sonntagmorgen-Zeitung. Wäre es jetzt nicht an der Zeit? Und verharmlose die Aufgabe nicht, nur weil es so viele, weil es ein ganzes Leben ist! Merkst du, wie dein Entschluß, heute endlich reinen Tisch zu machen, deine Erinnerung befreit? Lassen wir Demut walten. Nicht Nachsicht. Verzeihung. Vergebung! Sie alle konnten nicht anders. Du ja auch nicht. Aber heute sind wir woanders. Heute sind wir hier. Hier, in diesem Moment. Jetzt ist der Moment gekommen. Jetzt kann ich nur ausrufen: „Danke für dieses Leben. Danke für all das unbeschreiblich Gute, das ich die längste Zeit nicht verstanden habe, nicht sehen und anerkennen wollte.“ Was uns nicht umbringt, macht uns nur stärker. Wie wahr. Doch wozu? Wozu stark sein? Für das Unbekannte! Das Unbekannte hat Gewicht, obwohl ich noch nichts von ihm weiß. „Da kann schnell etwas kommen“, sagte meine selige Mutter. Sie meinte natürlich Schicksalsschläge. Ich will diesen Begriff jetzt nicht überstrapazieren, doch manche unangenehme Sachen treffen einen schon eher wie ein Schlag. Also von solchen Schlägen ist die Rede. Sowas muß man erst einmal aushalten. Also wappnen wir uns. „Verteidige dich nicht, aber schütze dich!“, sagt mir eine Toltekin vor 25 Jahren in Guadalajara, von der ich ja gar nicht wußte, warum sie überhaupt so frech mich, den gänzlich Unbekannten, ansprach. Ich bildete mir damals ein, sie, die Unbedarfte, die Pseudo-Zeugin Jehovas, bildete sich ein, mich zurechtweisen zu müssen, weil ich notorisch blind wäre und sie sowieso am längeren Ast säße. Damals rümpfte ich die Nase. Was weiß sie schon? Wie schwingt sie sich auf, mir solches um die Nase zu reiben? Heute weiß ich es besser. Nimm dich nicht so wichtig! Nimm dich ernst, aber nicht wichtig. Dergestalt erweist du deinem Menschsein Ehre und Würde. Heute. Sieh es heute ein und wende es an, heute und für weiterhin. Dann können wir weiterreden. Amen.

     

    Atlanten von Tula, Tolteken-Kultur

  5. Nein, das sind keine Irrtümer

    Der Herbst bringt Nachdenklichkeit, erst recht heuer, wo die Dinge, die inneren wie die äußeren, vielleicht unbeabsichtigten Verlauf nahmen und sogar zu kippen drohten. Vielleicht ist die Gefahr vorbei und meine Seele geläutert. Oder war dies nur ein Vorspiel für eine grausame Entwicklung der Unwissenheit? Unwissenheit schützt vor Torheit nicht. Auch der eine Tor stirbt, so wie Parzival, der letzte Ritter der Tafelrunde, der den Heiligen Gral suchte. Sein Ende kennen wir nicht. Der eine Tor aus der Gemeinschaft der Apostel des Herrn, er, ein Jüngling noch unter dem Kreuz, Johannes, ihm vertraute der Herr, welch wundersames Geheimnis, im Sterben die eigene Mutter an. Die Mutter, so die apokryphe Überlieferung, die den Sohn um 12 Jahre überleben sollte. Sie war somit etwa 59, als sie, so das für manche anstößige Dogma, körperlich in den Himmel aufgenommen wurde. Wie auch immer. Ich wäre damals jedenfalls gerne dabei gewesen, bei mehreren Gelegenheiten. Sei’s drum. Mutter Ayahuasca hat mir leider dieses Privileg noch nie gegönnt, sie hat wohl ihre Gründe. Wenn mir jemals noch diese Ehre zuteil werden sollte, hätte ich wenigstens die Antwort griffbereit in der Tasche: Palästina, direkt bei Christus. Dann wüßte ich mehr. Doch was heißt schon wissen? Es würde mich erfassen, mit Haut und Haaren, so wie vor vielen Jahren (12 sind’s schon wieder) damals in Rosenau am Hengstpaß, Oberösterreichische Kalkalpen: Eine Dame hat eine Gotteserscheinung: „Vergangene Nacht, Herr H., begegnete ich Gott Vater. Ich kniete vor ihm hin und legte meinen Kopf in seinen Schoß. Er strubbelte mir liebevoll durch das Haar und sagte: „Hab‘ keine Angst, meine Tochter!“ Herr H., ich habe keine Fragen mehr.“ Wie schön. Welche Gnade! Gnade muß ich ja auch erst einmal anzuerkennen lernen. Die meiste Zeit beschwere ich mich ja geradewegs und nur allzu leicht, über alles Mögliche, allerlei Unsinniges. Es zettert und wettert in mir. Wegen jedem Furz rege ich mich auf. Der Schlüsselbund geht scheinbar unauffindbar verloren, eine Katastrophe. Gleich bricht auch schon die Paranoia durch: Du hast den Schlüssel stecken lassen und vergessen abzuziehen. Irgendein Nachbar hat ihn sich sofort eingenäht. Fremde Schlüssel können ja immer zu irgend etwas gut sein. „Bete zum Heiligen Antonius!“, rät die Klosterschwester. Währenddessen ist der Schlüsseldienst, das „Haus der Schlösser“, bereits angeläutet, für die Garage, sicherheitshalber. Sie kommen heute noch. Das Haus der Schlösser kann einfach nur ein gutes Geschäft sein. Ich kenne da ein paar Geschichten. Keine repräsentativen, aber irgendwie doch lukrative. Man muß also nicht unbedingt Verteidiger der Mafia sein. Käme mir auch nicht in den Sinn. Der Himmel bricht somit unaufhaltsam herein an diesem heutigen Heiligentag, diesem Dreigestirn vom 31.Oktober bis Allerseelen. Hautnah. Zum Haare Zerraufen. Was will ich dagegen machen? Ich kann es nur tragen. Was ist das schon? Mein Gott, was ist das schon, wenn Gott selbst wirkt? Derweilen sterben Frauen und Kinder. Ich meine, das ist doch zum Verzweifeln. Was, wenn nicht das? Was geschieht denn hier? Hier und jetzt, auf diesem vergleichsweise winzigen Planeten, auf dem wir alle leben. Kaltes, gezieltes Morden, und auf Wallstreet publizierte Morgan Stanley gestern vorgeschriebenerweise Gewinnprognosen, höchst positive, wohlgemerkt, eine Steigerung von 7% bei allen einschlägigen Playern der Branche, die man nur als nihilistische Zyniker (auch die weiblichen CEO’s) bezeichnen kann, am Schlag, denn es wird massiv in Waffen investiert. 120 Milliarden Dollar, vom Weißen Haus offiziell ins Geschäft gesteckt. Gleich am Tag nach dem Hamas-Überfall mit 1.400 brutal ermordeten Israelis (auch Babies) nahm die Maschinerie des Mammon in Manhattan Fahrt auf, die Auguren der vorweggenommenen Apokalypse ließen ihre Fingergelenke knacken. Das Geschäft des Krieges, jederzeit willkommen. Es ist einfach gestrickt, ohne gröbere Fallen. Waffen zwecks Rache. Alle mischen mit, Hunz wie Kunz. Derweilen weinen Andere.

    Wer weint da? Die Toten? Die Totgeglaubten? Die Kinder? Ich kann fürs Erste nur beten. „Beten und Beichten“, murmelte der Heilige Pio stets von Neuem. Er, der Gezeichnete, wußte, was um ihn herum geschah. Es war Krieg, und später, nur 21 Jahre später, war wieder Krieg. Und da gingen Tote um, verschreckte Seelen sonder Zahl, die sich verloren glaubten und nicht wußten, daß sie bereits tot waren. Nein, das wußten sie wirklich nicht. Sie suchten nur ein bißchen Wärme am Kaminfeuer des einsamen, nur von zwei Padres behüteten Klosters am kargen, tief verschneiten Abhang des Gargano im bitterkalten Winter 1915. Für eine kurze Weile. Und heute? Keiner macht sich eine Vorstellung. Kann man ja auch nicht. Ein Erbarmen ohne Vorstellung. „Die Musik wird mir im Jenseits spielen, dann, wenn ich einmal nicht mehr bin“, rieb mir in jungen Jahren meine kartenspielende Großtante, über die ich mich sosehr ärgerte, weil sie beim Schnapsen ohne nachzudenken leichterhand gewann, sphinxhafterweise um die Ohren. Ich war der Überzeugung, sie stand mit einer Teufelin im Bunde. Die hochbetagte, stämmige, stark riechende Großtante in ihrem mehrlagigen Matronengewand durchschaute mich mit stoischem Blick. Heute, 100 Jahre später, beginne ich hier in Lima mich zu fragen, wer war diese Frau, die damals, da, reine Gegenwart, vor dem Tod ja überhaupt keine Angst zu haben schien? Sie war in Tragwein Besitzerin einer funktionierenden Kuckucksuhr. Sie war gegenüber meinem Jähzorn wegen dem Verlieren in Serie immun. Erstaunlich. Was für eine Erfahrung! Ich war damals vielleicht 8 oder 9. Sie war die ältere Schwester meines Großvaters.

    Wir berichten weiter, wenn wir wieder bei Kräften sind. (Ist bereits wieder der Fall. Dank Dir, Du unvergessene Großtante!)

    P.S. Allerheiligen. Blendender Sonnenschein. Die Himmelsmächte brechen herein. Das Schlüsselbundtäschchen materialisiert sich wieder, sogar in Lederpolitur. Mein Sohn Abraham, Liebkind des Herrn des Waldes, überreicht es mir zeremoniell. In der Boxertasche der Winterjacke rechts unten aufgefunden, ganz versteckt, gedankenlos im Weggehen dort hineingeschoben. Es bedurfte Abrahams Erscheinen, um mich umzublasen. Und so führte ihn ein Engel (oder der heilige Anonius) nochmals zur Garderobe, um die Jacke fachgerecht durchzuschütteln und abzuklopfen. Ja, ein Engel führte ihn. Wie tröstlich. Also, wenn das keine Lektion ist! Zum Glück wurde ich nicht irre und haderte auch nicht mit mir selbst. Von Anfang an mutete das Ganze höchst seltsam an. Jetzt verstehe ich ein bißchen mehr, sofern ich das überhaupt keckerweise feststellen darf. Ein Zwergenschritt näher bei Gott. Vielen Dank! (Der eine freundliche Techniker des Hauses der Schlösser, der mir das Garagenschloß auswechselt, ein Gottgesandter auch er, hatte es bereits geahnt. „Schlüsselbund verschwunden? Wem sagen Sie das? Von wegen verschwunden! Letztens fand ich die TV-Fernbedienung im Kühlschrank. Aber das ist noch nicht alles. Sie können mir glauben, Herr.H, ich verstehe Sie! Denn das ist eine nicht endende Geschichte“). Amen. Ja, Amen. Denn eines Tages sind wir tot und merken drüben nicht einmal, daß wir tot sind. Lieber Gott, bitte steh uns bei, jetzt und alle Zeit! Amen.

    Padre_Pio_da_Pietrelcina

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