Amazonisches Tagebuch, 31.10.2017

Vor bereits wiederum zwei Wochen ertrank der einzige Sohn des überregional anerkannten Schiffsbauers und noblen Freundes Pablo Del Águila, Jaírcinho, auf der Unglücksbalsa der Witwe Muñoz, die dort bereits ihren ersten Mann, Miguel Muñoz, vor guten 7 Jahren zu nächtlicher Stunde verloren hatte. Beide Männer waren schwer angetrunken, als sie starben. Miguel damals griff in eine Stromleitung und wurde an den Rand geschleudert, wo er besinnungslos ertrank. Jaírcinho seinerseits fiel ins Wasser und wurde vom Strom verschluckt. Erst 2 Tage später gab ihn der Amazonas wieder frei, direkt an der Mündung der Collpa. Sein Leichnam war bereits unansehnlich von den Verwesungsgasen aufgedunsen und Teile des Leichnams, besonders das Gesicht so wie die Genitalien, von Fischen bereits zerfressen. Eigenartigerweise war der Leichnam beinahe vollständig entkleidet. Das hielt so manche neugierige Frau nicht davon ab, von diesem schaudererregenden Anblick ein Erinnerungsfoto zu schießen. Durchschnittlich sterben in unserem Distrikt Fernando Lores etwa 2 Menschen pro Jahr durch Unfälle, nicht durch Suizid, denn der ist praktisch hierzulande unbekannt, also den Wassertod. Alle Jahre eine Person durch Schlangenbiß, immer im Hinterland. Wie mag es meinem Freund Pablo Del Águila jetzt gehen? Den einzigen Sohn vorzeitig zu verlieren, ist für einen Vater ein herzzerreißender Schmerz.

 Von den im heurigen Jahr nennenswerten Jaguar-Aktivitäten lässt sich berichten: das ausgewachsene Männchen, also einen Jaguar-Mann, labt sich nächtens systematisch an den Wachhunden in den verschiedenen Camps. Jüngst besuchte er auch Agustins Anwesen in dessen Abwesenheit. Die Katze tötete den einen Hund und schleppte ihn in den Wald, wo sie ihn in einer Entfernung von etwa 300 Metern zur Hälfte verspeiste. Der Jaguar wusste, er wird nicht alle Muße dieser Zeit zur Verfügung haben, um diesen Appetithappen ungestört zu genießen. Gleichzeitig waren aber auch die jungen Wächter viel zu verstört, um dem Raubtier in der nächsten Nacht aufzulauern. Wir sprechen hier von einem ausgewachsenen, gut ernährten Jaguar-Männchen von der Größe eines Junglöwen. Dieses nette Tier ist, wenn es hungrig ist, fähig, ein halbes Kalb am Schlag zu verzehren. Den Kopf des Menschen sprengt es mit einem Biß, um an das Gehirn zu kommen. Dieses Tier lässt sich auch nicht einfach mit einer Schrotflinte erlegen, doch Kugelgewehre hat hier niemand. Das Weibchen hingegen wurde scheinbar dingfest gemacht – oder auch nicht –, Tatsache ist: mir wurde ein Jaguarjunges, somit ein Waisenkind, für gutes Geld angeboten. Ich habe abgeschlagen. Die Aufzucht eines Jaguarkindes ist ein Projekt, das die Infrastruktur eines Zoos benötigt. Wo nur wird dieses Kind landen? Ich hoffe, sie setzen es wieder aus. Ich hoffe es.

 Die Regenzeit kündigt sich heuer früher als sonst an, erkenntlich an den vermehrten Regenschauern untertags. Jüngst kamen wir gegen 17:00 Uhr von der Collpa zurück und werden am Ende der Böschung von einem riesigen, horizontumspannenden Regenbogen in prallen Farben und voller Stärke erwartet. Ich lasse unseren Taxifahrer Jesus anhalten, um dem Regenbogen ein Jungscharlied darzubringen. Bevor ich noch ansetze, macht mich Michael auf ein seltsames Phänomen aufmerksam: „Papa, da steigt gerade auf der rechten Seite ein lustiges Männchen mit schwarzem Regenschirm auf den Regenbogen hinauf, wie auf einen Baumstamm. Es hat den Regenschirm aufgespannt. Jetzt macht es den ersten Schritt. Ein winziges, lustiges Männchen.“ Ich blicke nach rechts zum angeblichen Ort des Geschehens, als eine dicke Fleischfliege mit voller Wucht gegen meine rechte Stirnseite prallt. Ich taumle zurück und stoße unwillkürlich einen harmlosen Fluch aus. Das Zeichen genügt mir. Die Vision ist nicht für mich bestimmt. „Laßt uns wieder einsteigen, Kinder.“ Jesus gibt sich vollkommen geistesabwesend. Ich frage mich, was hat er überhaupt mitbekommen? Die weitere Rückfahrt ins Dorf verläuft ohne Zwischenfälle.

 Mit der sich ankündigenden Regenzeit kommen auch die Flußkröten wieder ans Ufer. Ihr staccatoartiges Rufen beschert uns tiefen Schlaf. Irgendwann mischen sich auch die Käuzchen ein. Regen, das ist Hochzeit für die Natur und all ihre Geschöpfe.

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  1. Gewitter

    Es regnet jetzt beinahe jede Nacht. Die Tagestemperaturen fallen auf angenehmes Maß. Wir schlittern in den Fluß der ungemessenen Zeit, in dem die Kinder, die im Regen unbeschwert ihre Runden ziehen, unbesehen heranwachsen. Mit dem Regen kommen tagsüber nachfolgende Wolkenzusammenballungen, so schwer, daß auch sie ihre Last bereits untertags abladen müssen. Gesetzmäßigkeiten. Derweilen liegt das Land im Fußballfieber: Nur mehr eine Partie gegen Neuseeland in Lima trennt die Selección von der erstmaligen WM-Teilnahme in Russland, nach mehr als 40 Jahren. Der landesweiten Hysterie tut auch die Dopingüberführung des Kapitäns Paolo Guerrero, der so in den beiden entscheidenden Partien fehlt, keinen Abbruch. Von Vorbildwirkung spricht in diesem Land der informellen Diktatur sowieso keiner.

    Während die Gewitter sich nächtens entladen, mischen sich jedoch am jenseitigen Ufer andere Lichtschauspiele in die gespenstisch aufzuckende Kulisse, Farben, die den Blitzen nicht zueignen, und auch nicht den dichtgeschichteten Wolken, die vielleicht von anderen Blitzen im Hintergrund mehrfach erleuchtet werden. Die uns seit Jahren eingefleischte Angst vor den Organräubern in ihren unbekannten Flugobjekten flammt jäh wieder hoch, und schon wieder zirkulieren Gerüchte über verschwundene Menschen. Gerüchte, die sich letztendlich nie bewahrheiten lassen, denn in unseren Breitengraden verschwindet täglich jemand. Eine Verschwinden ohne Nachricht, zumeist nach Lima, bisweilen in den Untergrund, bisweilen zu den Ölfirmen, bisweilen nach Kolumbien. Und auch die Alten verschwinden zeitweise aus ihren Hütten und werden nicht mehr gesehen, mag sein, dass ein Alligator sie beim Waschen am Fluß schnappt, oder eine Boa, oder sie einfach nur hineinplumpsen, weil sie das Gleichgewicht verlieren und wie ein Stein versinken, ohne Schreckens- oder Hilferuf, lautlos, und als man aufblickt, dorthin, wo sie sich gerade noch mit ihrem Kübelchen das Wasser über den Kopf gossen, steht oder hockt da niemand mehr, und man fragt sich, war ich selbst sosehr in Gedanken versunken, daß ich Onkel Hilario bei seinem Zurückschlurfen nicht bemerkt habe? Hilario, der Unvergessene, der mit 94 starb, aus eigenem Entschluß, nach einem angehängten Gnadenjahr, in dem er Coca-Cola, das ihm den Appetit aufs Leben zurückgab, zu schätzen und zu genießen gelernt hatte. Ja, die meisten verschwinden im Fluß, spurlos. Die Organhändler hinterlassen jedoch eine Metzgerei, und die Siedlung steht im Schock. Die Polizei arbeitet zusammen mit der Flugüberwachung diskret im Hintergrund, zumeist ergebnislos, denn mit den Organhändlern ist es zehn Mal so schwer wie mit den cocaleros. Hier geht es um fachgelagerte, eisgekühlte, chirurgisch von Fachleuten, also Ärzten, extrahierte Organe. Millionenware. Ärzte im Dienst der Mafia. Ich habe noch nie derartige ausgeweidete Leichname gesehen und hege Zweifel. Pelacaristas in fliegenden Untertassen. Und auch mit Außeriridischen halte ich es nicht, schon gar nicht mit denen, die, wie gesagt, Menschen zu Versuchszwecken entführen zu müssen meinen. Armseliges Universum, kann ich da nur sagen.

    Tatsache jedenfalls, die Ornitholoen würden sich freuen, kämmen sie jetzt mal auf die Idee, so wie die tschechischen Biologen bei uns vorbeizuschauen. Wir haben eine ganz augenscheinliche, farben- und gesangsprächtige Rückkehr der Vogelwelt, daß es eine Freude ist, also das genaue Gegenteil des leidgeplagten Europa, das irgendwie den Bach hinunterzutreiben droht. Alles, was ich momentan von Europa lese, führt mir eine fremde Welt vor Augen, über die ich mich sorge. Zu allem Übermaß gewinne ich den Eindruck, in dieser sogenannten modernen Welt sei ein Atomkrieg zwischen den Geschlechtern ausgebrochen und es bestünde die kollektive Übereinkunft, hinkünftig keine Kinder mehr zu gebären, denn Kinder sind doch die reinste biologische Zumutung. Wir erklären der Heterosexualität den Krieg. Hoch lebe der wiedergewonnene Lesbianismus. Zum Glück weiß hierzulande aber auch wirklich keine und keiner von dem, was da in den Büros der USA und Europas tobt. Man würde es nicht glauben. Hier gebiert jedes Mädchen mit 19 sein erstes Kind, und sein Stolz blüht beim erstmaligen Ausführen am Markt auf, kennt quasi keine Grenzen. Gestern, Samstag, zählte ich beim Morgeneinkauf fünf junge Väter mit ihrem Sprößling im Arm, die Gattin im Schlepptau. Wahrhaftig, der Zeitenfluß zeigt hierzulande ein anderes Gesicht, und schon gar nicht eines der waffenstarrenden Tollwut wie in den USA, über die zu berichten die peruanischen Medien aus mehrerlei Gründen aufgegeben haben. In einem armen Land wie dem hiesigen existiert die Außenwelt nur bedingt. Wie es sich mit Neuseeland verhält, kann und will auch keiner erklären. Wieso ist Neuseeland morgen, wo sie doch hintennach sind? Das konnte keiner der peruanischen Ballesterer erklären, auch nicht Jefferson Farfán, der in Katar sein Unwesen treibt und, wie man erfährt, Hublots anstelle von Ferraris sammelt. Hauptsache also, sie sind heute gelandet und geraten mit dem Jetlag aus dem siebten Himmel bis Mittwoch, dem Tag des apokalyptischen Endspiels im Nationalstadion von Lima, nicht in Panik. Klar, die Strassen des gesamten Landes werden am Mittwoch leergefegt sein. 28 Millionen Menschen werden, in die Farben ihrer Bicolor gewandet, ab 21:15 mitfiebern. Ich werde mir alles vom Bett aus anhören. Die Spatzen pfeifen dir sowieso alles vom Dach: Neymar hat bei der Pressekonferenz geweint, Lionel Messi hat nur mehr in Moskau nächstes Jahr seine letzte Gelegenheit, Gott zu werden. Es sei ihm vergönnt. Meine Söhne leiden mit. Abraham wurde gestern bei seinem Match in St.Valentin, Mostviertel, gefoult, der Täter sah rot, meine Schwester, die beste Ärztin von allen, Abrahams Tante, sah angesichts der Verletzung auch rot und ich werde morgen einfliegen, mit meiner Mafia, um reinen Tisch zu machen mit den Pabneukirchnern. Wenn die Sirenen heulen, werde ich mich nicht mehr wie als Kind in der Tuchent verkriechen. Das nächste Mal, wenn die Sirene am Dach der Volksschule heult (in Österreich, wohlgemerkt, nicht in Peru; in Peru gibt es keine Sirenen oder nennenswert hörbaren Feueralarm), werde ich mich, so wie ein unvergessener Herr aus Freiburg im Breisgau, kampfgemäß adjustieren, so wie es dessen Vater tat, im Krieg, als er zum ersten Mal einen britischen Bombenalarm als Kind hörte: „Endlich Krieg, endlich Action!“ Endlich überschlagen sich die Ereignisse. Ob auf Cap Canaveral, in Monza, in Dallas oder auf Ground Zero ist egal. Und bitte nur mit ordentlicher Skibrille, nicht mit Intellektuellenbrille. So sagte es mir ein kluger Mann der Mathematik. „Mathematik kann man, wenn man es zu etwas bringen will, nur ohne Brille betreiben. Nicht wegen des Schweißes, sondern wegen des fehlenden Druckes auf den Nasenflügeln. Das ist doch nachvollziehbar, oder nicht?“ Der Mann wußte, wovon er sprach. Mit ihm habe ich zu denken gelernt. „Dr.Himmelbauer, sicherlich haben sie schon von der Problemstellung gehört: Quadratwurzel aus Minus Eins.“ „Hat dies etwas mit der Atombombe zu tun, Dr.Odebrecht?“ „Ah, oh, uh. Lassen Sie mich kurz überlegen. Ah, oh, uh. Ja, Sie haben Recht. In jenem Bereich der Quantenmechanik, der in die Atomsequenz einfließt. Interessant, daß ausgerechnet Sie mir so etwas auftischen. Ich sehe, ich mit meiner M-Theorie bin mit Siebenmeilenstiefeln unterwegs und zertrample so manchen feinschmeckenden Pilz. Zürnen Sie mir deshalb nicht.“

    Ich schätze solche Dialoge in Otorongo mehr als alles andere, mehr auch als den besten Earl Grey. Diese Reden werden niemals sterben.

  2. Räuber Hotzenplotz

    Einer meiner Vorzugsschüler kommt aus Weißrussland. Er ist Anhänger von Bate Borissow, doch dies ist an dieser Stelle unerheblich. Der junge Mann hatte im Rahmen eines deutsch-russischen Freundschaftstreffens im russischen Kulturinstitut beim KGB angeworben und wurde für einsatzfähig befunden. Seitdem rollt er für Wladimir Putin den roten Teppich aus und erstattet mir über einen geheimen Kanal Bericht. Ich hielt Anfangs von diesem Mann große Stücke, denn er trällerte mir nicht die Ohren voll mit Anekdoten aus dem Schach- oder aus dem Liebesleben, und Ayahuasca schon gar nicht, denn das war einfach lebensgefährlich. Wir unterhielten uns zumeist über jede Verschwörungstheorie auf Gottes Erdboden, und eines Tages überfiel er mich mit seinen Vatikan-Leaks, die ich mir dann auch noch aus Gutmütigkeit anhörte. Dann, als er mit dem Wurzelsepp, wie schon durchgesickert, Freundschaft geschlossen hatte, fuhr er wieder heim nach Borissow, wo sein Großvater, den ich kennenlernen durfte und nie mehr vergessen werde, mittlerweile verstorben war und seinem einzigen Enkelsohn ein nennenswertes Erbteil hinterlassen hatte. Damit war mein KGB-Leutnant ein für alle mal verloren. So dachte ich.

    „Dr.Himmelbauer, ich habe ein historisches Fachhaus erworben, mit weitläufigem Garten, in der sächsischen Schweiz. Es wird generalrenoviert. Das kostet mich 12 Monate, sechs Tage die Woche. Die Abteilung hat mir eine Kommilitonin aus Moskau zukommen lassen, wir sind bereits verheiratet und haben ein Kind gezeugt. Ich schwenke für die nächsten fünf Jahre um, seien Sie mir nicht böse, ich nehme alles zurück. Doch als Wiedergutmachung schicken Sie mir bitte eine LKW-Ladung von Ihrem Buch. Das müssen Sie fertigstellen, bevor Sie abkratzen. Versprechen Sie mir das?“ So ähnlich zumindest drückte sich mein Kollege aus. Mittlerweile hat er mir auch noch einen Satelliten über Otorongo stationiert, wir haben also mal das rote Telefon abgesichert. Die Vatikan-Leaks habe ich noch nicht ganz verdaut, aber das wird sich spätestens mit dem Franciscus-Besuch in Puerto Maldonado in ein paar Monaten klären. Da ja Kardinal Schönborn mittlerweile auch dem Aufsichtsgremium der Vatikanbank angehört, kann ich wieder ruhig schlafen und brauche nicht zu fürchten, irgendwann einmal in einem Netz von klerikalen Lügen von unsichtbaren Mächten ausgesaugt zu werden. Solange wir Ayahuasca trinken, besteht Hoffnung. Die Connections funktionieren.

    Dieselbe besteht auch bei meinem Freund Antonio, dem treuesten von allen. Mittlerweile, seit Twin Peaks, Staffel Drei, weiß ich, Einarmige sind von Geistern besetzt, höre auf jeden Rülpser, sobald sie wie die Lämmergeier auftreten und mich nach der nächsten Zugsverbindung nach Trippstrill anquatschen, erst recht, wenn sie sich den Anschein der Angetrunkenheit geben. Solche Einsichten sind also direkt mit Meister Antonio verknüpft, meinem Grand volontier von Otorongo, dem ich demnächst eine erdbeben- und tsunamiresistente Stahlpyramide mit Panzerglas bauen werde, zumindest hat es mir la Madre so gezeigt. „Der Einarmige“, so sagte sie, „hat es dermaßen faustdick hinter den Ohren, es wird dir noch schwindlig, wenn du es eines Tages, wenn du stark genug bist, erkennen wirst. Bis dorthin mußt du dich zusammenreißen und jeden Abend für ihn beten!“ Meister Mapacho schlägt in dieselbe Kerbe. „Ich kann es dir nicht ersparen, jetzt gibt es Mama Eugenia-Dosen im Monatstakt. Anders hältst du den Einarmigen nicht aus! Du brauchst mich nicht für dumm verkaufen. Jetzt liegst du vorerst einmal mit Atomhusten darnieder. Aus gutem Grund. Schauen wir, wie du dich da herausrappelst. Dann gibt es mich, ohne Zeugen, nur mit Judith. Dann können wir begutachten, ob du dem Einarmigem das Wasser reichen kannst.“ Tatsächlich. Schrecklicher Klartext. Zum Glück funktioniert meine Putz- und Waschbrigade in Tamshiyacu wie in Otorongo wie geschmiert. In 10 Tagen kommt Brigitta mit ihren Lämmleins. Dann liegen wir wieder am Boden, sobald wir von den Anden runterkommen. Dann wird der Gescheckte sich wieder ins Fäustchen lachen. „Schreien die Gringas sosehr, weil sie wissen, sie stehen auf meinem Speiseplan, oder sind sie so rollig, daß sie es gerne mit mir aufnehmen möchten?“ Solche vorangetriebenen Überlegungen werden Brigitta jedenfalls nicht anfechten. Sie wird ihr neues Schloß beziehen und den doppelten Sicherheitsriegel mit Wohlwollen austesten. „Alles wie geschmiert. Wolfgang, ist der Revolver entsichert? Kannst du mir garantieren, dass er im Nachtkästchen nicht von alleine losgeht?“

    Wann ist Nikolaus? Bald.

  3. Ja guter Freund, mit großer Freude werde ich in mein neues Schloss einziehen, es ist ja bereits das siebte Jahr wo ich in den Dschungel komme, deshalb wird jetzt ernst gemacht, keine leeren Worte. Ich werde wohl nicht den Revolver benutzen den das ist einer Hexe nicht würdig, ich habe andere Mittel zu meiner Verfügung. Mein dunkler Freund der Mapacho er wird mich hoffentlich auch beschützen. Ein klein wenig Gänsehaut wird auch an Bord sein. Das Geschrei im Tempel ist wohl auch sicher wie das “ Amen im Gebet “ das kennt man doch von der vorherigen Zeremonien. Nikolaus und Weihnacht im Dschungel, was für ein Fest. Bis bald…

  4. Salvator Mundi

    Die Nachricht des heurigen Jahres ließ also bis vergangene Woche, 14.November, auf sich warten, dann wurde sie, entsprechend kalibriert, veröffentlicht. Auch ich reihe mich hiermit mit Dank in die Reihe der Applaudierenden ein. Leonardo da Vincis „Salvator Mundi“, entstanden etwa um 1500, ziemlich in der Nähe der „Gioconda“, erzielte bei Christie’s einen Auktionserlös (samt Steuern und Tantiemen) von 450,3 Millionen Dollar. Das Bild berührt. Es berührt mehr als alle anderen, auch mehr als alle anderen Meisterwerke Leonardos, finde ich. Nur allzu bezeichnend die stille Andacht, in der die Beschauer vor dem Werk stehen, wo sie gefilmt werden. Eine Andacht, inniger als vor einer ausgestelleten Monstranz mit dem „Allerheiligsten“. Nein, das Allerheiligste steht in Gestalt eines Gemäldes auf Holz vor uns, geschaffen von genialer Menschenhand. Sie zeigt den Retter der Welt. Das nenne ich heilig. Nicht eine Monstranz mit einer Hostie. Das Gemälde ist heilig und bringt Heil. Dem Anblickenden, dem davon Wissenden, und, ich hoffe es, Gott walte vor, auch dem Besitzer.

    Nun, der Besitzer hat ein Problem. Wollen wir ein wenig beim Besitzer bleiben. Von woher kommt er? Diese Frage kostete mich eine Abenteuernachtstunde, diesmal allerdings ohne Ayahuasca. Von woher kommen die Besitzer, der Besitzer? Ich gehe einmal davon aus, daß die Besitzer einen Bezug zu Christus haben. China, Indien, Asien scheiden aus. Australien nicht. Ebenso die gesamte moslemische Welt. Russland nicht. Russland ist christlich, und der Vorbesitzer war auch Russe. Möglicherweise gibt es hier eine Connection. Wäre ja nicht so schlecht. Meine Zählwerkrecherchen, die ich hiermit verwegen präsentieren möchte, haben somit ergeben: Spanien 1x, Frankreich 1x, England 2x, Italien 1x, Deutschland null mal. USA 5x. Ich schränke den Kreis der Käufer auf 10 Kunden ein, fünf davon aus den USA. Bill Gates und Warren Buffet zählen dazu. Ja, ich halte Bill Gates wegen seines hinlänglich kolportierten Leonardo Faibles für einen ganz heißen Tipp. Die anderen 3 US-Anbieter sind Fondseigner. Ich rechne mit einer Wersteigerung des Gemäldes binnen 14 Jahren um 40%, inflationsbereinigt. Als Untergrenze.

    Allerdings, der Besitzer hat ein Problem, und zwar kein kleines. Das Gemälde kostete 4,5 Kubikmeter 100,- Dollar-Scheine. Mit anderen Worten, jemand, der 450 Millionen Dollar in bar abtransportieren möchte, braucht für 4,5 Kubikmeter einen Transportbus. Das geht mit dem Gemälde, das keinen Quadratmeter mißt, wesentlich einfacher. Der Eigner hat somit ein Problem. Das Gemälde in Zürich in einen Depottresor, den man für 50 Jahre angemietet und im Voraus bezahlt hat, einzulagern, ist ja wohl unwürdig. Das ist jedem klar. Man möchte ja mal abends vor dem Gemälde sitzen und ein Glas Roten trinken. Und der Besitzer wird vielleicht seine Herzdame in der Linken streicheln, und die Herzdame ist dermaßen vertrauenswürdig, daß ihr jeder Gedanke an einen Rassiermesserakt beim nächsten Rosenkrieg abhold sein wird. Ich denke, das wird nicht der Fall sein. „Salvator Mundi“ wird keinen Rasiermesserangriff aus Frauenhand und auch nicht aus Moslemhand erleiden. Auch Benzin und Feuerzeug, egal, durch wen, werden nicht zum Zug kommen. Der Herr (und die Queen scheidet aus, ebenso Kate Rowlings) wird also ein Glas Roten trinken und in das magische Gemälde versinken wollen. Ich wäre gerne dabei. Doch was anfangen mit diesem jüngsten Erwerb, wenn ich in der Arbeit bin? Irgendwann wird auch die treueste Putzfrau verstanden haben, bei mir hängt ein neues Gemälde. Und je mehr Panzerglas ich um es aufschichte, umso argwöhnischer werden die Besucher. Von den Freundinnen und Freunden ganz zu schweigen. Eine undichte Stelle, und innerhalb von 48 Stunden weiß es die ganze Welt. Was also tun? Es einem Museum verleihen? Dann hat der Louvre ein Problem, dann hat jedes Museum ein Problem. Dann haben wir ein Versicherungs-, ein Bewachungs- und ein Transportproblem. Wie das Gemälde von New York nach Paris schaffen (ist viellleicht schon geschehen)? Oder nach Washington State? Oder nach Kalifornien? Oder nach Madrid? Oder nach London? Am Schlag wissen 50 Leute davon. Zwei Flughäfen sind beteiligt, zudem die Security-Teams. 450 Millionen auf einem halben Quadratmeter sind eine nette Verführung. Kann man unter die Achsel klemmen und weg bin ich. Die Diebe, einstweilen die potentiellen, die bereits ihre Recherchen bei heißglühenden Drähten anstellen, werden sich sagen, gut, wenn alles gut läuft, erhalte ich über meinen Verhökerer 10%, also 40 Millionen. Netter Happen. Kann man ja auch nicht liegen lassen. Halber Quadratmeter, unter die Achsel geklemmt, und weg bin ich. Stell ich bei mir am Dachboden ab, eingenäht in eine Matratze. Dann lasse ich 20 Jahre Gras drüber wachsen. Dann schauen wir weiter. Das oder so ähnlich die heimlichen Genüsse der Möchtergern- oder schon professionellen Diebe à la George Clooney, Brad Pitt und Konsorten (Oceans 11, 12, 13).

    Was also fangen wir mit dem Stück an? Ach ja, ich vergaß zu erwähnen, der Italiener ist ein Vertreter der Vatikanbank. Mit päpstlicher Genehmigung. Wertanlage plus „Jesus zuhause“. Gut. eine Hypothese. Kann man nicht a priori von der Hand weisen. Wie auch immer, der neue Besitzer hat ein Problem. Diese Herren in der Preisklasse > 50 Milliarden haben wohl immer ein Investitionsproblem, doch sieh an: das läßt sie ruhig schlafen. All diese Typen sind jenseits der 70, und manche sogar jenseits der 80. Milliardär zu sein scheint eine Lebensversicherung zu sein. Und sie sind sogar noch ziemlich hell auf der Birne! Erstaunlich! Das mag auch auf unseren Herrn erst recht zutreffen. Der ist bereits 500 Jahre alt, und beglückt mich immer noch mit seinem Allwissenheits- und Gnaden-Blick. Endlich der Blick des Herrn, sagten sich zehntausende, die das Gemälde andächtig bestaunten. „Endlich der Blick des Herrn!“ Ich wäre gern dabei gewesen.

    So, das wär’s mal aufs Erste. Was gibt es noch zu berichten? Die Argentinier haben ein Problem mit einem ihrer drei U-Boote, an dem auch der einzige weibliche südamerikanische Offizier an Bord ist. 44 Personen Besatzung. Kurzschluß im Batteriesystem, Luft nur für 7 Tage. Das U-Boot konnte entgegen anders lautenden, auf Hoffnung setzenden Berichten, nicht auftauchen. Das tut weh. Ein Drama mehr. Hoffen wir bei Jesus, es geht sich noch aus. Ohne Blasphemie. Die Amerikaner sollen sich beeilen, bitte sehr. Herr Trump, ich bitte Sie, werfen Sie die Maschine an, wenn Sie es nicht ohnehin schon getan haben! Auch heute werden sich wieder 4.320 Menschen das Leben nehmen. Unbekannte Menschen. Die 44 Argentinier sind auch unbekannt. Wen kenne ich schon? Der Tod ist die längste Zeit unpersönlich. Schlimm genug.

    Deutschlands Regierungsverhandlungen wurden abgebrochen. Alles nur eine Farce. Die Worte des FDP-Chefs fand ich dennoch bezeichnend und sehr wohl am Platz. „Vertrauensverlust, Werteverleugnung“. Das läßt alles tief blicken. Patt-Situation in Deutschland. Lassen wir uns überraschen, wie sie sich aus diesem Schlamassel herausmanövrieren. Mitleid habe ich keines mit diesen Typen. Alles dick bestallte Berufspolitiker, hüben wie drüben. Aber das soll nicht das Thema sein. Das Thema, das ist und soll immer sein „Der Retter der Welt“.

    Salvator mundi (Leonardo da Vinci (zugeschrieben))

  5. Was bleibt

    Was bleibt, das ist das doppelt Geschriebene. Das Gesehene und das Beschriebene. Das doppelt und dreifach Geschriebene. Das dreifach Bedachte. Das Gestandene, das Gebeichtete. Das Geschriebene, das Gelöschte und das nochmals Geschriebene. Wo ein Wille, da ein Weg. In jedem Moment trennt sich die Spreu vom Weizen.

    Was bleibt, das ist die Trauer. Ich werde mein Leben lang um meinen Freund Cecilio trauern. Jetzt, im Alter, verstehe ich meinen Vater noch mehr. Was muß er um seine Freunde trauern. Alle sind schon gegangen. Welche Freunde hat er noch? Wer seiner Freunde, der ihn besucht? Keiner. Somit: Keine Freunde. Leider. Wer, der einen handgeschriebenen Brief noch schreibt? Wer, der Handschrift aus der Hand gibt? Die Witwe von Cecilio bestieg gestern um Viertel vor Sechs das Morgenboot. Sie wirkte gefaßt. Das lockerte mir etwas den Griff am Herzen. Sie wirkte gefaßt. Sie übernimmt ihres Gatten Agenda, zuvorderst den Mehl- und Backpulvereinkauf. Der Bedarf an Kunden bleibt unangetastet. Don Dinacio, selbst im fortgeschrittenen Alter, knapp an die Siebzig, wird sich beileibe keine aus Gier geborenen Fehden einhandeln. Es könnte ihn teuer zu stehen kommen. Dinacio macht zwar jeden Tag ganz ungeniert auf der „Budel“ Tageskasse, doch Fehden handelt er sich nicht mehr ein. Zu viele Tote hat er zu beklagen, so auch einen seiner Söhne.

    Don Pablo del Águila hat nun auch noch den Tod seiner Gattin zu beklagen, Leukämie. Der Sohn ertrunken, die Frau hinweggerafft. Wie kann man so etwas überstehen? Es raubt mir den Atem. Ich muß ihn besuchen.

    „Der Retter der Welt“ gelandet in Quatar! Wer hätte das gedacht? Ich habe meinen Mund zu voll genommen, wieder einmal.

    Und eines, neben vielem, das bleibt: Papst Franziskus, als Beichtender öffentlich am Beichstuhl im Petersdom hingekniet. Er nimmt das Sakrament, das ihm unser Herr, der Erlöser, gespendet hat, in Anspruch. Es ist Zeit. Er hat gewissenhaft bedacht und bereut. Die Fotographen hinter ihm trauen ihren Augen nicht und handeln reflektorisch. Diesmal kein Attentat draußen am Vorplatz. Nur unser Hauptdarsteller, der sich hinkniet vor einem Fenster. So erhalten Dschungelhosenfurze Nachricht und Gelegenheit, zu danken.

  6. Der Geruch des Wassers

    Sonntagvormittag, eigentlich Sonntagmorgen. Ruhende Sonne. Eine Wallfahrt zum Badeplatz, dem Paradies der Nixen. Heute soll er den Kindern gehören, der ganze Platz mit seinen Ufern und Böschungen, Wiesen, Auwäldern und versteckten Liebesplätzen. Heute ist Sommer für die Ewigkeit, gleißender Himmel, wärmende Erde. Die Körper der Kinder blühen auf, sie hüpfen aus Bray Llucemas Motokar, unter Geschrei, von den Seiten und vom Hinterbau, auf dem sie die Fahrt über, schon außerhalb des Dorfes, wo kein Polizist mehr sichtbar, auf stramm gestreckten Zehenspitzen gestanden sind, auch Ronald, der zwutschkerlhafte Nachbarsbub, der von Arcturio wie von einem Ziehbruder liebevoll bedacht wird, mit abendlichen Hamburgern vom Hauptplatz, Play Station 3 und Badevergnügen. Man hüpft hinein in dem, was man gerade an- oder nicht anhat, hier schert sich sowieso kein saturierter „Badewaschel“ um irgendeine Badekleidungsvorschrift, denn so etwas kennt man nur im faschistischen Europa. Hier hingegen, im Paradies, stürzen sich die Frauen in ihren Jeans wie Walrösser in die Fluten, wie sehr genießen sie es, diese ungestörte Ruhe, um ungestört prusten und die eigene Lebenssituation einmal entspannt überdenken zu können, hingekniet im fröhlich dahinsprudelnden Trinkwasser, ohne Furcht vor Putzerfischen, denn heute ist alles Friede, Friede, ewiger Friede, an diesen sonnendurchfluteten Sonntag, wo du meinst, du bist alleine in der Welt, und Dank, unendlicher Dank kommt auf, an die Schöpfergöttin dieser unbeschreiblichen Vollkommenheit, die die Kinder hüpfen und Salto schlagen und hineinbomben läßt, wie es Kinder seit tausend Jahren tun, eine „Bombe“, mit angezogenen, umarmten Knien, und forttauchen mit den Fischen, und in den Verästelungen der Baumstammwurzeln herumkriechen und sich unter Wasser herumschlängeln, ja, der Himmel ist gnädig, die Sonne scheint freundlich, alles ist göttlich. Noch Jahre danach zehre ich beim Anblick der Fotos von der Pracht dieser Flutung und dem Atem des Lebens, der mich durch unbekannte Zeit hinweg anweht, anweht, so wie mich auch die Basaltfelsen in Sacsayhuaman anwehen, der Inkafestung Pachacutecs, wie sie sagen, doch ich glaube da keinem. Ich glaube nur dieser Pracht, den Wiesen, und schon liegt Salomon in der Wiese, und andere glückselige Deppen machen es ihm nach, selig trunken von all dem Frieden an einem stillen Winkel, wo es kein Trillerpfeifenekel gibt wie neuerdings in Machu Picchu, wo du Kuh spielen mußt und über die Wege dirigiert wirst, solange du dich nicht zur abgelegenen, geheimnisumwitterten Inkabrücke vorwagst und in deiner Phantasie über dem 800 Meter hohen Abgrund zu fliegen beginnst. Ja, so lassen wir doch die Kinder regieren und kehren zurück in die Vorzeit des Hände in den Schoß Legens, gewandet mit einer Schürze, so wie die Australianer, die nichts anderes taten als herumzuwandern, Nomaden der reinen, edlen Rasse. Laßt uns wandern in unbekannter Vorzeit, als selbst die Inkas noch nicht über das Chaos nachdachten und Spanien noch nicht existierte.

    So sei er bedankt, der Sonnengott, der uns Licht und Wärme spendet und mich aufrichtet inmitten der grauen Regenzeit, in der es nächtelang dahinrauscht. Ein Lichtstrahl wird mir geschenkt, das Jauchzen eines Kindes. Ja, waren wir doch alle Kinder, Kinder des Sommers, Kinder der Zeitlosigkeit, unausgelöscht, ewig bestehend, das glockenhelle Lachen, die Freude im Wasser, die Freude auf den heißen Steinplatten, als der Tod nicht existierte und nicht die Angst. Paradies, ich will dich nie verlieren.

  7. Des Lebens Duft den Blinden

    Wie zart und huldvoll schwebt Weihnachten diesmal heran, ein Hauch der Zeitlosigkeit im windstillen, wolkenbedeckten Äther geradezu. Es scheint, die Sonne wäre auf Urlaub gegangen. Schon seit Tagen läßt sie sich nicht blicken. Dazu die Windstille. Die Tierwelt, wären da nicht die geschäftigen Baukar-Webervögel, für die schon seit Wochen die Hochzeit des Jahres begonnen hat, schlummert so wie die Kinder in ausnahmeartigem Rückzug in Betten, Nesten, Höhlen und Nischen. Vorgestern, beim Hineinmarsch mit Brigitta, geradezu eine Galerie von frisch ausgehobenen Erdhöhlen am Weg. Die Gürteltiere nutzen das frisch getränkte, aufgelockerte Erdreich, um nach Leckerbissen zu graben. Kalendergetreu macht uns auch das putzig-drollige, übermütige Stachelschweinpaar seine nächtliche Aufwartung, und wieder einmal ist eine der jungen, unerfahrenen Hündinnen Opfer der beiden Spaßgesellen, die, prinzipiell als Paar auftretend, sich in ihrer Tollererei im Inneren des Kloster-Anwesens von nichts abhalten lassen wollen. Zwei Tage lang läuft Flaka mit Stacheln in der Schnauze herum, bis es Guillermo im abendlichen Holzschaukelstuhl gelingt, das nervöse Ding mit einer japanischen Scherenschrittbewegung einzuzwängen, um es so von seiner Qual zu befreien. Auch die Wasserschildkröten im nunmehr erweiterten Becken befinden sich seit Tagen in einer transkontinentalen Tauchfahrt, von der nur die Leithammelinnen hochkommen, um den unbedarften Zaungast, der sich traditionell zu Weihnachten die Lungen mit Copaiba durchputzt, zu inspizieren. Derweilen glänzen, als wäre es der unheilsschwangeren Bedrücktheit nicht genug, auch die beglückenden Kolibris durch Abwesenheit, nicht jedoch – welch nächtliche Wonne – das Käuzchzen, dessen einsamer Ruf nunmehr meilenweit durch den stillen Wald wellt. Ja, wenn das Käuzchen ruft, gehört der Wald ihm. Vom Mond, wie könnte es anders sein, sowieso keine Spur. Man fragt sich langsam, ob nicht auch er der Menschheit grämt und sich in sein Vogelhaus, launisch, wie er sein kann, zurückgezogen hat. Ich habe es mittlerweile aufgegeben, dem Mond nahezutreten. Immerhin weiß ich, er gibt sich in Otorongo launisch, wie ein verstohlener Dieb, ein Geselle, der mutwillig sein gesamtes Auftreten modifizieren und dem Mondsüchtigen, die wir doch alle sind, den Kopf willkürlich verdrehen kann. Der Mond war immer schon außer Reichweite, und er wird es auch sein, wenn eines Tages hier herunten das Inferno ausbrechen sollte. Schon seit Jahren keine Natter mehr, die mir den Weg kreuzt, und auch schon Jahre kein Ameisenbär. Sogar die Habichte sind fortgezogen. Es hängt alles an diesem zeitlosen, außerirdischen Grauwetter. Fiele die Welt jetzt in hundertjährigen Schlaf, ich würde ohne zu zögern sogleich mitmachen. Eine Welt ohne Sonne, – wie niederdrückend. Doch immerhin: im Bett läßt es sich aushalten. Da möchte ich doch sofort auf Marcel Proust, die Pariser Bettexistenz unter den französischen Klassikern, zurückkommen. Er fand ja wohl, nachweislicherweise, seine Konzentration mit dem Schreiben im Bett. Und so begab er sich auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. Ein Klassiker, so wie Gabo Marquéz‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“. Nein, fürwahr, ich hätte keine Schwierigkeiten, die hundert Jahre anzublasen. Wenn in 1.000 Jahren nur mehr ein Dutzend Menschen in Australien übriggeblieben sein werden, werden wir wieder ins Zeitalter des Schlafs eintauchen, wahre Nichtstuer. Die Australianer sind meine unerreichten Heroen, so wie die Ozeangrundler, die kein Plastikweihnachtsgedudle und Geschrei und Gekreische und Gejohle und I-Phones und millionenfachen Müll und Irrsinn und Tod kennen, nur das Herumwandern am Grund des Ozeans, wo sie keiner sieht und keiner, außer mir und meinen Forums-Leserinnen und Lesern, an sie denkt.

    Ich denke, ich denke, was du nicht denkst, und das ist gut. Und ich denke noch nicht wie Jim Morrison „This is the end…“ Und die US-Napalmbomber überfliegen den vietnamesischen Dschungel. Aber das war einmal, und es hat, wie wohltuend, nichts mit mir zu tun.

  8. Dezember 2018

    Gestern, Sonntag, starb Don Mario Pérez Cabanillas, der Inhaber des größtes Allzweckwarenladens in Tamshiyacu, um die Mittagszeit, in seinem Geschäft. Herzinfarkt. Er wurde kaum 45. Don Mario war kein gebürtiger Tamshiyaceño, und dennoch wurde er schnell von den Hiesigen aufgenommen. Er wirkte trotz seiner relativen Fülle jungenhaft und grüßte jeden stets freundlich. Er war mir zugetan und stets einem witzigen Wortwechsel offen. Sein Warenlager war wirklich groß und vielseitig. Von Früh bis Spät konnte man ihn aufsuchen, wenn irgend etwas fehlte. Er führte sogar Duracell-Batterien, hierzulande ein Luxus. Sein Reservoir für vielleicht fünf „Luxuskunden“. Mario lebte praktisch in seinem Geschäft. Das erste, nach seiner Ankunft, war ein großer Schuppen, direkt neben dem Gemeindeamt. Privaträume gab es nicht, nur einen Verschlag, wo die Betten standen. Er hatte zwei oder drei Kinder, auf die ich nie besonders achtete. Seine Frau lag in der Hängematte oder im Schaukelstuhl, wenn sie säugte. Mario selbst hielt seine Siesta ebenfalls im Schaukelstuhl. Er trug immer nur Unterhemd, nie anders, wohl wegen der inneren Hitze. Ein normales Kurzarmhemd war mit seinem Erscheinungsbild unverträglich. Der allgegenwärtige Warengeruch, eine Mischung aus Stoff und Metall, vermischt mit Essens- und sogar zeitwiligem Abortgeruch, in dem er paraktisch 24 Stunden am Tag lebte, störte ihn nicht im geringsten, auch nicht die Musik oder die Morgennachrichten, die manche Peruaner – ein politisch hoch interessiertes Volk – bis um 10 Uhr leidenschaftlich verfolgen. Der Unwille des Volkes in diesen Landstrichen ist sofort militant. Bei Streiks brennen Autoreifen und der gesamte Stadtverkehr ist durch Glasscherben lahmgelegt. Streikbrecher werden verprügelt. Bei Mario liefen also auch die Nachrichten, auf Flachbildschirm, so wie bei Don Sheshico. Mario kam aus San Martín. Er unterhielt eine undurchschaubare, eingeschmierte Logistik, die seinen Geschäftsvorteil darstellte. Pakete kamen in Ballengröße. Vielleicht hatte er Inversionistas im Hintergrund, Leute, die keinen Spaß verstehen. Vor wenigen Jahren schließlich zog Mario um und kaufte sich ein Grundstück an einer unserer Hauptstraßen, immer noch nur einen Steinwurf vom Hauptplatz entfernt. Dort baute er gemächlich den Hinterteil mit Ziegeln hoch, zweistöckig, raumtechnisch Luxus für hiesige Verhältnisse. Die Wände ließ er gleichwohl unverputzt. Sie lebten auf nacktem Beton und Ziegelwänden, jedoch bereits in Betten. Das Blechdach, auffällig, großzügig nach oben gezogen, mit genügend Ventilation gegen die Mittagshitze, die schnell wie ein unerträglicher Bratofen wirken kann. Mario zeigte mir eines Nachmittags, ein Sonntag, wie ich mich erinnere, das gesamte Interieur mit kurzweiliger Geste, wie unter Freunden. Seine Augen, neben dem feinen, unnachahmlichen Schmunzeln sein Markenzeichen, waren immer aufmerksam und schnell verstehend, und ebenso als charakteristische Note die Tatsache, daß er mit seinem Laden verschmolzen war. Zuletzt verkaufte er sogar Bildschirme, als Versuch, der nicht so schlecht zu gehen schien. Musik- und Schinkenvideos lagen sowieso schon immer bereit, und das seit Anfangszeiten. Mario kannte, zu meinem nicht schlechten Staunen, hunderte Titel. Doch sein Schicksal im Hintergrund, seine Nemesis, war seine Frau, deretwegen er bereits vor knappen drei Jahren einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen hatte. Unsere Hauskrankenschwester Irene und meine Gattin transportierten ihn damals diskret ab, im spitalseigenen Schnellboot. Eine echte Geheimaktion. Er überlebte, ohne gröbere Nachwehen, doch wer ihm das Leben gerettet hatte, das wollte er nie wissen. Danach schien sich die Ehe zu bessern, doch mit seiner Frau war selbst als Kunde nie sonderlich gut Kirschen Essen. Was da geschah, wußte keiner so genau. Sie war unwirsch und unfreundlich und improvisierte zeitweise die Preise. Es tut mir leid. Doch das bringt den Mario nicht mehr zurück. Doña Eugenia (78) freilich weiß mehr. Ihr Kommentar gestern abend, als sich die Nachricht von Marios Ableben wie ein Lauffeuer im Dorf verbreitete: „Er war freundlich, doch heimtückisch, so auch gegen meine Tochter, deine Frau. Und dabei wußte er nie, daß sie es war, die die Überfahrt des Bootes nach Iquitos für ihn bezahlt hatte. Doch Gott sieht alles. Und er duldet nicht alles.“

    Professor Severiano, der den Marktlautsprecher unterhält, kam mit dem Verlesen der Todesnachrichten heute morgen gar nicht nach. Wieder Dezember, und schon heigt es die Leute über Zahl her, hier in diesem Landstrich. Vielleicht ist es der Regen. Beim Regen lassen alle los. Hierzulande sterben viele vor 60. Der Dezember ist einer der Chaosmonate, neben dem September, wo alljährlich das Gründungsjahr des Dorfes (mittlerweile sind es 135) gefeiert wird. Alle vier Jahre, zu Wahlzeiten, bricht in der Zielgerade der Wahlen, also im September, sowieso der blanke Irrsinn aus, und dies im ganzen Land, nicht nur hier im Dschungel. Und in diesem Dezember, der die Geburt Christi praktisch nicht mehr kennt oder kennen will, zeigt sich jedes nur denkbare Gesicht der Verzweiflung und Ratlosigkeit. Auch die Selbsttötungen und Amokläufe kulminieren im Dezember.

    Bilder vom österreichischen Advent, Wien unter Schnee, der Steffl weihrauchgeschwängert (Geschenk eines Nervenarztes und Freundes), sind hierzulande undenkbar und überhaupt unbekannt. Ebenso das Wort „Spiritualität“. Die Menschen hier sind zerrissen, und das wissen sie, erst recht an einem Sonntagnachmittag, wo sie bei Musik und einer Kiste Bier rudelweise im Bach stehen, vor Trunkenheit bereits wesensverändert. Rasen, das ist hier zeitweilig der Naturzustand. Mea culpa.

     

  9. Atempause

    2018/2019 wird erst recht regenreich. Bereits seit Mitte November fallen tägliche Regenmengen, die Tage haben zudem erfrischenderweise abgekühlt. Eine gewisse Beschaulickeit macht sich im Dorf breit. Sogar das Plastikgedüdle hat irgend jemand abgewürgt. Es wird doch nicht Vernunft wieder Platz greifen? Die totgeglaubte Vernunft. Es regnet somit praktisch jede Nacht. Das beschert neuartige Träume. Mit den neuartigen Träumen renken sich manche Schwächen, wie es scheint, bereits bei leichtem eigenem Zutun wie von selbst wieder ein. Neue Gedanken sprechen uns an. Gelassenheit zieht ein, die alten Besetzungen lassen los, die alten Zwangsgedanken werden lächerlich. Jede Stunde neue Erkenntnisse und Aha-Erlebnisse. In Europa wird noch Fußball gespielt, was hierzulande nicht verfolgt wird. Einziger europäischer Club, der Peruaner interessiert: natürlich jener von Lionel Messi, der FC Barca.

    Die Natur und die in sie eingebetteten Wesen nehmen alles Naß auf, mag es noch so üppig nieseln, wie es will. Kolonien von Brut- und Nistvögeln machen sich überall breit, auch im Dorf. Bereits seit Jahren sieht man keine Buben mehr mit Steinschleudern. Auch die Fledermäuse haben Brutsaison. Ihre unverfrorenen Schandtaten im Schatten von isolierenden Preßspannplatten unter brennend heißen Blechdächern beweisen uns jede Nacht aufs Neue, diese intelligenten Flugtiere führen ein intensives Sozialwesen. Es wird geschnattert, gekrabbelt und gezeugt. Die Geburtsrate von Fledermäusen ist wegen der Kürze der Brutzeit nennenswert, auch wenn die Mutter immer nur ein Junges wirft. Erstaunlich, wie das Kind an der Mutter hängt, praktisch festgekrallt ist an ihr, ein winziges Ding, das alle Flugmanöver der Mutter mitmacht. Was für ein Wirbelwind bereits in den ersten Tagen. Erstaunlich! Der Obermacho der Fledermauskolonie, ein gediegenes tiefschwarzes Monstrum, das sein Terrain protzerhaft mit Urinstrahlen wie unter Hochdruck absteckt und ganz frech es sogar mit dem Menschen, dessen Wohnbereich es mit kunstvollen Flugmanövern und provokantem Sich-Aufhängen an Vorhängen und Mauervorsprüngen erkundet, aufzunehmen bereit ist, sorgt dafür, daß seine Großfamilie, die an die 105 Fledermäuse und mehr mißt, Zugang zu ihrer neuen paradiesischen Wohnhöhle findet, indem er kleinste Schlupflöcher durch das Holzunterdach frißt. Für seine rasiermesserscharfen kleinen Schneidezähne kein Problem. Die Schneidezähnchen sind stabiler als die Eckzähne, mit denen das Tier das Blut saugt. In gewissen Situationen hängen sich die Weibchen an ihren Zähnen und nicht an den Krallen auf. Das Vorhandensein der Fledermäuse hat zwar für die Schweine ganz und gar nichts Gutes, doch für sancudofreie Nächte sehr viel, denn alle Mücken werden von diesen Tierchen im Fluge eifrig geschnappt. Je mehr Fledermäuse, umso weniger Moskitos und somit auch geringere Gefahr für Dengué. Wenn wir heuer noch gute Wasserverhältnisse mit ausreichendem Hochwasser erleben, wird das der Fischpopulation zugute kommen. Die Fische wandern ins Hinterland, um dort abzuleichen. In Hinterland, wo es weit und breit keinen Fischer gibt und nicht geben kann, denn es ist unzugängliches Mangrovengebiet, voll von Boas, Zitteraalen und sonstigem Getier. Hochwasser ist ein Segen.

    Schon lange auch keine UFO-Sichtungen mehr. Die letzten haben dem erschrockenen Volk genügt. Somit auch keine Kindesentführungen, und auch schon lange nicht mehr Mordfälle durch Organhändler am Amazonasufer. Der Regen, so scheint es, läßt heuer das Volk sich auf neue Art besinnen. Wollen wir es nicht verschreien. Doch Friedfertigkeit soll allemal willkommen sein.

     

    Townsend-Langohr (Corynorhinus townsendii)

  10. Todesfälle

    Ende Feber starb Don Achilles Pizango Ruiz, mein Nachbar ums Eck. Der Pflanzenmann, der mich liebevoll mit Setzlingen versorgte. Ihm verdanke ich die Lupuna Blanca, die wir zu Ehren von Erich Rainer 2011 am Ufer der Quebrada in Otorongo setzten. Des weiteren eine erhebliche Anzahl von Chacruna-Sträuchern, die lebhaft gedeihen. Ein Schatz fürwahr. Dann einen Copaiba-Baum, ein, zwei Drachenblutbäume, und eine Lupuna Colorado, nach der ich seit damals nie nachgesehen habe. Achilles hinkte leicht. Er hatte einen Charakterkopf. Er lebte stets äußerst bescheiden. Er war vielleicht schüchtern, doch stets zuvorkommend und höflich. Ich wurde aus ihm nie endgültig klug, eben weil er sich stets vornehm verhielt und nie ausfällig wurde. Seine Frau kränkelte irgendwie ständig und blieb praktisch unsichtbar. Zu meiner Schande wüßte ich nicht mit Sicherheit zu sagen, ob sie schon verstorben war oder ob sie ihn überlebte. Er wohnte mit Aussichtsblick zum Fluß, erstes Haus in der Bolivar, sehr bescheiden, in einem einfachen Ziegelhaus, das er praktisch nie sonderlich umbaute. Im vergangenen Jahr machte ich einen Marsch mit ihm gemeinsam nach Otorongo, um über eine Vergrößerung unserer Chacruna-Pflanzungen nachzudenken. Er zeigte sich zufrieden mit unserer Dünge-Strategie und dem Umstand, daß wir den 30-Minuten-Gehweg von Wildkraut und Blättern frei hielten. „Víboras“, kommentierte er simpel. Achilles starb ohne Vorwarnung. Er war etwa in meinem Alter. Eugenia überbrachte mir die Nachricht konsterniert. Ein Charaktermensch einfach so weggeheigt im Problemmonat Februar. Ein Name mehr, den wir eingravieren in unserer Chronik. Ciao, Achilles. Danke für alles!

    Dann, am 27.Feber, einem Mittwoch, starb Zoila Pinedo, die Mutter von Genarito. Zoila, eine Frau der ersten Stunde, damals, Jänner 1999, Zimmerfrau bei Agustin in Yushintaita. Die treue Seele schlechthin. Immer trauriges Gesicht, immer arm, immer verlassen, direkt gegenüber der Kirche wohnend. Zoila, die hagere Frau. Was für ein schweres Schicksal. Sie arbeitete jahrelang bei mir im Haus, hin und wieder, bei Gruppen, auch in Otorongo. Sie war die Vertrauensfrau meiner Gattin. „Wolfgang, Zoila sucht wieder Arbeit. Auch wenn wir schon voll sind, nimm sie dennoch. Sie wird dich niemals betrügen oder bestehlen, niemals! Doch ich brauche eine Frau für meine persönlichen Sachen, verstehst du? Ich muß ihr manches anvertrauen können, den Schmuck, die Schuhe, das Gewand und mein Bett. Um dein Bett kann sich Shabeli kümmern. Für mein Bett aber reserviere ich mir Zoila. Tu mir den Gefallen. Außerdem ist sie Vertrauensfrau von Mama Eugenia. Die beiden haben vielleicht gelegentlich was zu bereden. Das tut Mama gut.“ So kam Zoila wieder zu uns. Eine verschwiegene Frau, immer leidendes Gesicht, verzagte Miene. Es war verständlich. Schwierige Kinder. Mann fort, allein gelassen. Gebrechlich. Langsam, aber penibel. Ich genoß es, ihr zuzusehen. Ihre Penibilität wirkte auf mich elektrisierend. Liebevolle, sachverständige Penibilität. So richtete sie das Bett meiner Gattin. Auf Katzenfüssen herumschleichend. Diese Frau konnte niemals in ihrem Leben Lärm machen. Dann kam der Schock. Die eine Tochter wird in Pucallpa von ihrem Mann erdolcht. Zoila fährt hin, doch der Leichnam wird nicht frei gegeben. Erst nach einem Jahr gibt man den Sarg frei, wer weiß, was in ihm lag. Zoila nochmals in Pucallpa. „Wolfgang, bitte, die Reise!“ Klare Ansage aus Frauenmund. Sie kehrt zurück. Ein paar Monate später Klarstellung, wie abgestimmt, aus Eugenias und Betzabes Mund: „Wolfgang, Zoila ist schwerkrank. Kehlkopfkrebs. Hyperaggressiv. Wolfgang, bitte das Begräbnis vorbereiten.“ So starb sie. Ich konnte und wollte nicht hin. Diese große Augen, die nehme ich mit. Sie hielten zwei Nächte lang Nachtwache für sie, das eine Mal in der Kirche. Eugenia, obwohl von der Baptistenpartei, wackelte wacker hin, beide Nächte. Am Tag des Begräbnisses langte auch Genaro aus Lima an, mein Yushintaita-Genaro von 1999. Scheinbar hat er im Dorf, obwohl ein Abwesender, informell die Rolle von „La China“ übernommen. Der Chef der Tamshiyacinos vom anderen Ufer. Wir fuhren am Tag nach dem Begräbnis im Ponguero gemeinsam nach Iquitos. Zwei Stunden lang versenkte ich mich in sein Gehabe. Er imponierte mir. Ich verstand, hier wirkt höheres Gesetz. Ich konnte es akzeptieren. Er trauerte nicht sichtlich um seine Mutter. Judith, die sowieso alles weiß, rieb mir ein Detail zu Genaro um die Ohren. Sie hatte recht. Genaros Ruhe, seine Abgebrühtheit, kam von woanders. „Schweinepest bei Menschen, Doktor. Sowas gibt es bei uns auch. Greift das Gehirn an. Führt zu Wesensveränderung. Oft endet es in Selbstmord. Überdosis.“ Mehr wollte ich nicht hören. Februar, der Weltuntergangsmonat.

    Am 2.Feber 2020, 20:50 Uhr, einem Sonntag, war in der alten Heimat bereits ein Kulturmann verstorben, über den es an dieser Stelle nichts Persönlicheres zu berichten gibt. Er verstarb innerhalb von drei Minuten in seinem Bett, ohne Schmerzen, wohl vorbereitet, im 89.Lebensjahr. Wohl aus Wunsch nach Vereinigung mit seiner Gattin, die ihm vor guten vier Jahren bereits vorangegangen war. Antonio, mein Freund für den Weltuntergang, fuhr extra aus Wien zum Begräbnis an. Da hatte der Mann von Kultur, für den die Ewigkeit mehr als ein Begriff war, auch von seinem Sohn in Otorongo bereits Abschied genommen. Amen.

     

     

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