Angst und Wahrheit

Mit dem wehenden Wind, der drohende Hagelgewitter irgendwo in dieser alten Heimat ankündigt, setzt irgendwann doch Besinnung ein, ein Haltmachen. Ein Moment kriecht hoch, ein wohltuender, wo etwas in mir Sprache findet, seine Rede findet. Dieses Etwas bin natürlich ich, das verschreckte Kind. Alle meine Patienten sind verschreckt. Das ist das Wesen der Krankheit, zuinnerst. Dieser in den Birken und Trauerweiden rauschende Wind am sonnigen, doch gedräuten Sommervormittag stimmt mich nachdenklich, oh Gott, was habe ich nur verbrochen in diesem bereits langen Leben! Wie sehr habe ich Zeit vertrödelt mit Unnötigem! Gefangen war ich in Süchten, Zwangshandlungen und Zwangsgedanken. Die Liste meiner Irrtümer und Verfehlungen ist elendslang, doch all das, was geschehen ist, läßt sich nicht mehr, sosehr ich es mir auch wünschte, ungeschehen machen, auch wenn die Ungeschehenmachung nur einem verzagten, hehren Wunsch nach Gutem, nach Unschuld, und nicht einer Versuchung Satans, wie es die Padres meiner Wahlheimat, Peru, predigen, folgt. Die Last der Bedingungen, die Last eigener Triebe wiegt schwer. Wie nun kann ich es besser machen? Immerhin, so steigt die Ahnung auf, mit Ehrlichkeit. Sei ehrlich gegenüber deinen Gefühlen. Die Gefühle sind das Erste, bereits wenn dir noch die Gedanken, die Erkenntnisse fehlen. Traue deinen Gefühlen, sagt die Mutter, auch wenn es solche der Tränen und des Schluchzens, das sich neuerdings aus heiterem Himmel bemerkbar macht, sind. Tränen haben mit Angst zu tun, und Angst mit Wahrheit. Ist es nicht so, mein Kind? Doch niemand – das ist es doch, was dir Angst macht! – hält inne. Alle funktionieren. Niemand spricht über seine Gefühle, sein Innerstes. Das Aufgeschrecktsein mitten in der Nacht, diese unerklärliche, nie und niemals für möglich gehaltene Panikattacke, dieses Grauen, das sich vor mir da schleierhaft auftut. „Du hast seit je in einer Illusion gelebt, und dies notwendigerweise. Alles nur eine Vorspiegelung. Ein Spiel der Zeitvertrödelung.“ Dieser plötzliche Gedanke verursacht augenblicklichen Schwindel, so als schwände jede Kraft zur Aufrechterhaltung. So muß es jenen gehen, die einen Schlaganfall erleiden, denke ich da. Ein Schlag, den niemand gewollt hat, so auch nicht mein Freund Herbert, der Autist, der Gutmütige und Verschrobene. Der, der unter Selbstgesprächen und Gestikulierungen von der Kirche immer alleine nach Hause strebte.  Herbert, der stets Aufgewühlte. Was nur ließ ihm keine Ruhe? Vorgestern, zur Sommersonnenwende um 16:58, gedachte ich seiner, im Schwimmbad, dem Paradies meiner Kindheit, aus dem sie mich vor 12 Jahren, bei einem Nostalgiebesuch, verweisen wollten, weil ich nach peruanischer Sitte mit der Kurzen Baden gehen zu dürfen vermeinte und zusammen mit Arcturio die breite neue Kinderrutsche hinunterrutschte. Das gefiel dem Badewaschel nicht. Eine Zumutung für die historisch immer schon sozialistische Gemeinde, ein Nichtbeachten der Badeordnung. Ja, im Land Hitlers gibt es Badeordnungen aus gutem Grund, denn wir wollen menschlich zusammenleben. Menschlich und in Frieden. Und überhaupt wollen wir, wenn schon nicht zusammenleben, so doch ewig leben, zumindest so lange, wie es uns freut. Wenn wir eines Tages des Lebens überdrüssig sind, lassen wir uns, wenn möglich schmerzfrei, wegputzen, wenn möglich von einem Moment auf den anderen, so wie jene Koryphäen der Alpenrepublik, die alleine oder in Begleitung des besten Freundes bewußt nach Zürich fuhren und sich dort nach der Einschläferung auch noch einäschern ließen. Sie, so wie Herbert Fux, der Halleiner, wußten, das Firmament dröhnt, und es wird niemals aufhören zu dröhnen, und besser, dieser mein Tod in Stille, ohne Jammern und ohne Priester und ohne Hinterlassenschaft, weinende Kinder oder die weinende Gattin, ich schleiche mich aus dem Leben, auf jeden Fall ohne Gewalt, ohne Unfalltod oder Mord, und dies kann nur menschlich genannt werden. Die Wahl der Waffen. Wenn schon Christus vom „Schwert“ sprach, so darf doch noch ich, der völlig namenlose Unbekannte, meinen Tod zeitgerecht wählen. Ich werde niemals Herr meiner Angst und niemals Herr dieser Unheimlichkeit, doch eines kann ich sagen (und ich habe es bereits gesagt), es ist schlimm genug, und darüber will und darf ich wohl offen sprechen. So wie Herbert, der gottesfürchtige Weltmeistertaucher des Valentiner Schwimmbades. Niemand wußte davon, nur ich, als er es mir, dem unverhohlen Staunenden, eines stillen Vormittages, als das gesamte Sportbecken uns gehörte, im Sommer des Jahres 1971 oder 72 selbstbewußt, doch ohne jegliche Überheblichkeit, souverän vorzeigte. Er studierte Atomphysik, doch aus Zwentendorf wurde nichts, da ging er, bereits als Ingenieur in Linz diplomiert, zu den Salesianern nach Graz und von dort, akademisch dekoriert, nach Istanbul, in das St.Georg-Kolleg für Kinder aus noblem Elternhaus. Er beging nicht den Fehler, vom „wilden Kurdistan“ und Karl May zu reden, nein, er hatte mehrere technische Fächer in petto, klarerweise, und wurde von den Müttern mit Süßigkeiten aus dem Bazar umworben. Die Süßigkeiten taten ihm nicht gut, und so nahm das Verhängnis seinen Lauf, und heute ist Herbert Weber, der Unvergessene, nicht mehr, und das, ja, das, das ist wirklich, wirklich schad und einen Schluchzer wert. „Wolfgang“, sagte er eines Tages, „die Gefangenen in Stein (die er besuchte) sind alle arme Hund. Damals, in Israel, mit unserem Erlöser, den ich, armer Sünder, gar nicht in den Mund nehmen will, hätte es das nicht gegeben. Und wenn du mich fragst, ich würde auch alle Türen öffnen, so wie bei der Kremser Hasenjagd. Die Menschen sind doch alle nur Mörder oder könnten es sein. Und wenn du mich nicht verstehst, wirst du mich noch verstehen. Wer es nicht schafft, mit einem Mörder zusammenzuleben und diesen zu bekehren, wie soll sich ein solcher Christ nennen?“ Das war Herberts Format. Und dann riß ihn der Schlag aus dem Leben. Er war nur fünf Jahre älter als ich. Und die Bäume draußen im Garten rauschen immer noch. Der Wind bläst unablässig. Was nur mag er künden? Doch da kommt zeitgerecht der erste Schutzengel des heutigen Tages. Er flüstert mir eine Botschaft zu. „Je mehr du motiviert bist von Liebe, umso angstloser und freier werden deine Handlungen sein!“ Sowas hat es in sich. Gute Medizin. Aho!

Bernhard Winkler und K.H., beide +. Amén.

0 Antworten

  1. Die Stille in der Wüste von Arakis

    Bilder, wie sie mein Gehirn durchziehen. Seltsame, fremde Bilder. Nie Bilder von Wasser und auch nicht von Feuer. In fremden Welten unterwegs sein. Es verwundert mich. Ich höre Stimmen von Menschen, nie von Tieren. Noch nie hat ein Adler in meinen Träumen seinen gellenden Schrei erschallen lassen. Ich träume auch nie von Tieren und auch nicht von Katastrophen. Es hat den Anschein als entführte mich die Göttin der Nacht weit zurück in ferne Kindheit und in jene hoffnungslose Stadt, in der, wie man sagt, der Wein zuhause ist. Alles in Schwarz – Weiß. Die Menschheit verliert ihre Sprache im Reich des Traums. Kein Keifen, kein Kreischen, kein Giftspeien, keine Häme. Nur Stille. Wortfetzen vielleicht. Da setzt Erinnerung ein, Erinnerung an Gelesenes. Ich höre, seltsam genug, die Stimme des Papstes und seines Adlatus in Wien. Ich höre sogar Christus. Zumindest sehe ich ihn, wie er da steht und spricht. Und ich höre eine Stimme in mir, eine ganz persönliche, jene der Mutter. Sie flüstert, doch das sonor und klar. Ernst und deutlich. Nicht überhastet. Immer nur ein Kurzsatz, genau passend zu meiner Frage. Das ist verwunderlich, erstaunlich und sofort beruhigend. So lange dauerte es also, bis ich Vertrauen faßte. Da sitzt die Kröte. Wo finde ich die weise Frau? Wo die gesunde, erhabene? Wo jene, die nicht den ganzen Tag frißt oder jammert oder sich exzentrisch gibt. Wo finde ich die Heróin, die Heldin, Elisabeth die Erste auf ihrem weißen Schimmel an der Steilküste von Dover, wo Jeanne d’Arc auf ihrem Wallach, das Schwert in der Hand? Wo finde ich jene, die nicht ausspuckt vor mir, jene, die mich nicht haßerfüllt anblickt, ohne ein Wort zu sagen, sie, die Faustwatschengewalttätige. Wo endlich Verstehen und Friedfertigkeit? Und um sie, die wahre Mutter, zu finden, brauche ich Versenkung und Ernsthaftigkeit. Jetzt ist Zeit. Jetzt und wieder jetzt. Jetzt gerade und nie später. Und jetzt gibt es kein Flüchten mehr. Einen Frieden, der, wie der Herr sagt, nicht von hier, nicht von dieser Welt ist. Er meint sicher nicht den Frieden der Toten, doch jenen, ich nehme es an, der totalen Klärung. Jene Abgeklärtheit, die so schwer zu erringen ist. Jene der absoluten Waffenlosigkeit, sogar noch Waffenlosigkeit in Gedanken. Die Mutter verkörpert das Wasser des Lebens, sie gerade auf dem Wüstenplanet, dem es gänzlich an Wasser mangelt. Das Wasser des Lebens als heiliges Gut, unter dem gleißenden Licht einer nahen Sonne und der verstörenden Kraft zweier Monde. Die Mutter kennt den Wind, der sie umschmeichelt. Sie kennt den Geist, mit dem sie ständig verbunden ist. Sie kennt den Widerspruch. Sie kennt alle Verquerung, sie kennt das stille Fragen, das Mißtrauen. Sie erringt sich mein Vertrauen im Nu durch ihre unvergleichlich ruhige, doch bestimmte, wissende Art. Ich weiß, sie weiß. Und sie weiß darum. Ich weiß, daß sie mich kennt, in allen Fasern meines Lebens kennt. Sie kennt meine Geschichte, diese monströse Geschichte nicht erinnerter Tage. Unzählige Tage, die es vordergründig allesamt nicht wert waren. Lasse ich diesen Gedanken zu, erschlägt er mich sofort. Jetzt jedoch berührt sie mich mit einem Wort, einem Lichtschatten. „Dies vor dir, ist Arakis, der Wüstenplanet. Hier kannst du nicht verharren. Bring dich in Schutz. Hier zählt jeder Moment. Jede Anwandlung von Untätigkeit tötet dich. Du bist hier aus Gesetz. Du allein. Du bist hier, so wie Andere vor dir. Du weißt, auf wen ich mich beziehe. Diese Wüste läutert. Du verstehst, es ist ernst gemeint. Mach ernst mit dir selbst. Suche den Geist und finde ihn. Und danach trinke das Wasser des Lebens und iß das Spice.“ Und ich antworte aus geläuterter Liebe, aus geschmähter Liebe. Soviel Barmherzigkeit! Wie das fassen? Nimm es einfach an! So einfach? Ja, so einfach. Du weißt doch, was Hartnäckigkeit ist. Die Wahl der Waffen. Fang an zu denken! Der unverbrüchliche Vorsatz und danach die erste Tat mit Kraft. Und diese beihalten. Und dann kehr zurück auf Kaladan!

     

    undefined

    Eine Panorama-Aufnahme: Links das tiefblaue ruhige Meer, das rechts auf eine bergige, unbewachsene Hügellandschaft trifft, in der vereinzelt Häuser stehen. Im Vordergrund offenbar eine Anlegestelle für Boote.

  2. Die Heiligung des Schlafes

    In vielerlei Hinsicht darf der verzagte, der neugierige, der fragende Mensch sich zu einem Projekt der Selbstfindung bekennen. Einsicht ist unsere Grundaufgabe, mit der wir als Menschen geboren wurden. Und damit ist nicht die Einsicht in das Funktionieren einer Atombombe gemeint, sondern die Einsicht, wieso es den Menschen sosoehr treibt, eine Atombombe zu erfinden. Wieso es ihn treibt, Mordinstrumente zu erfinden? Wieso es ihn überhaupt treibt, alle Arten von Verbrechen zu begehen? Es ist die Einsicht gemeint, was hier überhaupt als Treiben, als Drang geschieht. Warum tun wir überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Das ist eine Frage, die ich sogar interesssanter finde als jene von Leibnitz und Heidegger, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts. Warum tue ich überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Das ist eine provokante Frage, aber umso mehr eine interessante, denn sie ist ganz und gar nicht absurd, sinnlos also, sondern sie konfrontiert uns mit einem Grundproblem, das wir jeden Morgen – und dies wahrlich jeden Morgen – gewärtigen, und es gibt genügend Menschen, die sich dieses Grundproblems gewahr sind. Ich kannte eine junge Frau, ihr Name war Michaela, die aus Angst vor der Welt nicht mehr aufstehen wollte (nicht mehr aufstehen konnte) von ihrem Bett. Sosehr fürchtete sie sich vor der Welt. Sie lebte allein. Und so starb sie allein in ihrem Bett und wurde nach Monaten, nach vielen Monaten, mumifiziert in ihrem Bett gefunden. Ein Mensch von Intelligenz kann sich vorstellen, wie dies vonstatten ging. Sie fanden die noch junge Frau, als ihre Schwestern sie vom Tod der Mutter benachrichtigen wollten. Die Mutter wiederum war kurz, nachdem sie vom Gehirnschlag ihres ersten Sohnes, eines zeitlebens einsamen und traurigen Findlings ohne Vater, erfahren hatte, verschieden, ohne längere Leidenszeit, im Totalzusammenbruch. Die ganze Familie war eine geschlagene, ohne sicheren Halt. Das geht mir aus gutem Grund nahe. Und ich kenne Menschen, die am Morgen aufstanden und sich noch im Pyjama erhängten. Und deshalb stelle ich diese Frage und stoße erlaubterweise einmal kurz auf, wenn Herr Bergoglio, dieses leicht dickliche Stehaufmanderl in Weiß, meint, eine Lanze gegen die Faulheit brechen zu müssen. Hier redet ein Jesuit in typischer Weise. Er zählt Faulheit zu den Geistesgiften. Doch da bin ich anderer Meinung. Faulheit, so meine ich, existiert gar nicht. Was existiert, ist Langsamkeit, und die Rasenden sind die eigentlichen Mörder. Rasende werden in der Klinik festgebunden, denn ständige Beruhigungsmittel zu injizieren ist auf die Dauer nicht zweckdienlich. Kein schöner Anblick. Unsere Aufgabe besteht darin, lückenlos nachzuvollziehen, warum dieser Mitmensch rast. Das Faultier rast demgegenüber nicht. Es ist dazu nicht fähig. Alles an ihm ist langsam. Das Faultier ist außerdem der Meister des Schlafes. Im Zoo von Lima schlafen sie immer. Dort sind sie sicher. Zwar nicht vor den Horden von sich belustigenden Zuschauern, die vor der Vitrine, an die sie klopfen, Maulaffen der schnödesten (und ekelhaftest-lächerlichen) Art feilbieten, doch vor der Harpye, dem großen Adler, der bei Tag dahergeschossen kommen könnte und die verkörperten Entschleuniger der Zeit von ihrem Wohnbaum wegreißt. Das friedliche Tier durchbohrt von Dolchkrallen. Faulheit ist eine intelligenzsteigernde, eine intelligenzfreilegende, zu Mut herausfordernden Tugend. Ein Verhalten, das alle beteiligten Seiten lehrt, darüber nachzusinnen, was man da gerade redet, kritisiert oder praktiziert. Es gibt gewisse Leute, die leben halt im Bett. Es gibt in den USA Leute, die Frühstücken im Bett. Die Betten sind so konzipiert, daß das breite Frühstücksbrett mit amerikanischen Standard-Leckerlis darin eingeklinkt werden kann. Und es gab in Paris einen Herren, der schrieb einen ganzen Roman im Bett, „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Marcel Proust hieß er, und sein Buch ist absolut lebenswert. Wegen ihm schreibe ich. Schreiben ist Arbeit, nur damit das einmal festgehalten sei, und Schlafen erst recht. Der Schlaf ist lebenswichtig. Die beste Medizin überhaupt. Ich halte es mit einem der Bön-Repräsentanten, Tenzin Wangyal Rinpoche, einem der führenden Köpfe des Traum-Yoga. Der schlief, als er noch in Tibet weilte, so wird aus erster Hand erzählt, 20 Stunden am Tag. Er hatte offensichtlich viel zu tun, – in der Welt, so wird gesagt. (Der Nahualismo aus México läßt grüßen). Von 7 bis 11 hielt er in seinem Kloster, dessen Abt er war, Büro-Stunden. Davor und danach kümmerte er sich um das Heil der Welt. Das hieß, im Jargon der Mönche, darum, daß die Welt nicht auseinanderfiel. Nicht auseinander Fallen im Sinne von rettungslos dem Wahn Anheimfallen oder, was im tibetischen Verständnis gleichbedeutend war, ein Anheimfallen an oder in der dämonischen Welt (die ja, laut Pater Pio, das menschliche Vorstellungsvermögen um ein Unfaßbares übersteigt). Ich hege somit, wie wohl bereits zur Genüge wohlwollend verstanden wurde, genügend Gründe, um den Gestalten der Schlaf- und Bettexistenz meine Sympathie unverhohlen auszusprechen. Ich bin somit auch nicht ein Unterstützer des Woytyla-Wortes, im Tode fände er dann genügend Zeit, um sich von all den Mühen, die er sich zeitlebens selbst auferlegt hatte, auszuruhen. Typische Paradoxie aus polnischem Mund. Typische Schalmeierei. Der einfach gestrickte, finstere Kapuziner-Pater aus Pietrelcina, der hinlänglich bekannte, vertrat demgegenüber eine andere Philosophie. „Wenn ich einmal tot und drüben beim Herrn bin, fängt das eigentliche Arbeiten erst an“, so sagte er, und ich glaube ihm gerne. Arbeiten im Himmel ist ja wohl anders gelagert. Seligerweise. Das Arbeiten im einfachen Hingeflötztsein und tiefen unschuldigen Schlafen ist jedenfalls nicht zu verachten. Denken ist eben Schwerarbeit. Mann oh Mann, was da sich für Welten auftun. Ich selbst werde mir da, erstaunlich genug, flugs zum größten Geheimnis. Und die größte Kunst bei diesem nächtlichen oder halbnächtlichen Zirkus ist es fürwahr, sich ob all des Wunderns im Dunklen und vor aller Schlaftrunkenheit nicht in der eigenen Wohnung zu verirren oder sich den Kopf an der Kante der offenen Schlafzimmertür anzutoßen, um so, heil, heil, die Toilette für eine pferdemäßige Wasserentleerung rechtzeitig zu erreichen. Habe ich da nicht gerade vom Urinieren geträumt? Träumen die Päpste vom Urinieren? Aber hallo! Fragen wird man ja wohl noch dürfen!

     

    undefined

  3. Das Körnchen Wahrheit

    Die Ehrlichen, die sich abmühen, so wie mein in die Jahre gekommener Cousin Sepp, der Einbeinige, werden, da ihnen gewöhnlich der Sinn danach steht (wie aus natürlicher Entwicklung) zu Einsiedlern. Lange nach der Zeit der ökonomischen, nervlichen und amourösen Katastrophen. Dann leben sie, zum Glück immer noch lebendig, als Überlebende alleine auf ihrem Hof, den sie, so wie schon immer („Alles alleine!“) alleine soweit bewirtschaften, daß er nicht auseinanderfällt und das Kraut in allen Ecken und Winkeln sprießt. Dergestalt werden die Einsiedler zu Tierliebhabern, nicht von gewöhnlichen Haustieren, sondern von jenen Feld- und Wiesen-Kreaturen, die zuzeiten nur im Winter zu den Höfen kommen. Und zuweilen sind es auch die Waldgestalten, wie Fuchs, Dachs und Marder. Die Schwalben patzen ihre Nester in die ehemaligen Kuh- und Sauställe, ihr ekstatisch grellschreiendes durch den Hof Schwerten erfüllt die Sommerluft mit zeitlosem Leben. Und da nun geschieht es, daß ich eines Abends, nach einem wie immer denkwürdigen Besuch bei diesem einen meiner Lebensmenschen, mein Denken verliere (nicht aus Erschöpfung und auch nicht aus Müdigkeit, nein, aus Friedfertigkeit und Dankbarkeit) und es zum ersten Mal für möglich halte, daß dies alles auch noch weitergehen wird, wenn ich einmal nicht mehr sein werde. In diesem Moment sehe ich das stille Gesicht des geliebten Kindes vor mir und weiß, was es denkt. Es ist seine Sorge um mich, und vielleicht auch um sich.

    In diesem Zustand der Friedfertigkeit, wo die Schmerzen, da ich den ganzen Tag gefastet habe, nachlassen, fühle ich Leichtigkeit aufziehen, Sauberkeit. Soweit ich erkenne, habe ich mir heute nichts Gröberes zuschulden kommen lassen. Im Bett liege ich ohne Unruhe. Der Lärmterror von irgendeiner Fiesta in Entfernung macht mich nicht irre. Keine Amok- oder Mordphantasie zieht wie gewöhnlich auf, auch nicht, als irgendein am Rande des Irrsinns dahinschrammender Zeitgenosse um Eins in der Früh im unteren Barrio am Ufer der Quebradídta Flores den Lautsprecher einschaltet und eine satte Stunde dröhnen läßt. Niemand regt sich auf. Alle in ihren Betten wissen, da kämpft einer mit dem Irrsinn, er braucht seine Musik, also gönnen wir sie ihm. Vielleicht ist er stockbesoffen vom Feiern des Nationalfeiertages. Soweit ich noch in der Lage bin, ertappe ich mich, wie ich mich da zu seltsamen Gedankengängen versteige. Was hätte Christus in dieser Situation getan? Was täte er, der Wüsten- und Staubwanderer, in dieser globalen Ausnahmesituation, wo in den televisionären Plastikspielshows dieses jeder Hoffnung beraubten Entwicklungslandes nur mehr geschrien und gekreischt wird? In diesem Land, wo das Silikonaufspritzen von Lippen und Pobacken bei wie rettungslos verstiegenen Frauen (Verführten) System zeigt, und wo die ehemaligen Staatspräsidenten der Reihe nach im Gefängnis sitzen, solange sie sich vielleicht nicht bereits selbst die Pistole an den Kopf gesetzt haben, als die Polizei mit Haftbefehl zum Schrecken von zwei Haushälterinnen im Haus erscheint. Was täte Christus in unserer Zeit, so wie z.B. Superman heute? „Superman hätte viel zu tun“, sagte einmal, vor 30 Jahren (bereits damals!), meine Ziehtochter Marcella. Ja, was täten all die Superheroen angesichts des brennenden Globus? Jeder klar denkende Nicht-Hysteriker wird im engsten Freundeskreis den Wahrheitseid leisten. „Das, lieber Freund, ist keine Sache von halben Jahrhunderten oder Jahrzehnten, nein, der Planet, das ist ja wohl klar und deutlich sichtbar, kann innerhalb von wenigen Jahren, nur ein paar, vollends kippen, und das Kippen selbst wird eine Sache von Stunden, wenn nicht von Minuten sein, so wie beim Asteroideinschlag oder beim Atomkrieg, den sie mir – beides – auf Facebook bereits systematisch vorzeigen. „Don’t look up!“, sagen sie. Und Leonardo di Caprio faltet beim gemeinsamen Abschiedsessen unter Astronomie-Kollegen am bereits unablässig bebenden Tisch die Hände. „Eigentlich hatten wir alles“, exklamiert er, und dann vereinzelt sich jeder in den Sekunden des persönlichen unausweichlichen Todes. Der persönliche Blick geradeaus ins Leere. Erstarrte Haltung. Und dann die Schockwelle mit 1.350 km/h.“ So darf man unter Freunden reden. Und mein Cousin Sepp, der Leidgeprüfte, der gerade ein wenig wieder durchatmen darf nach der Nierensteinentfernung in der Blase, gesteht mir, wie immer mit heiserer, beinahe tränenerstickter Stimme, „…Das Einzige, worum schad‘ ist, sind unsere Kinder. Daß ich mich bald zu meinen Eltern legen werde, ist gar nichts. Dann wenigstens sehe ich meinen Vater wieder, den ich viel zu früh verloren habe, mit Zehn. Ich hatte praktisch nichts von ihm.“ So reden Freunde. Wahre Freunde. Und ich lege mich ins Bett und danke Gott für diese Begegnung, und in den Stunden des nächtlichen Wachens ruf ich Christus an: „Mein Lieber, Du, von dem Franziskus sagt, daß DU der Herr bist, der eine und wahre Gott, ich rufe Dich an: Komm!“ Und in diesem Moment geschieht Gewaltiges. Der gesamte Erdball wird außer Kraft gesetzt. Und ich spüre, ja, daß ist es, wenn Angst nicht mehr existiert. So wie der kopflose Alligator von heute früh, dem auf dem nassen, gekachelten Tisch bereits der Bauch aufgeschlitzt und die Innereien entnommen wurden, mit seinen Tatzen wie sich verteidigend immer noch strampelt und mit dem Schwanz, den ihm die hilflose Marktfrau mit dem Schafottmesser abschlagen will, um sich schlägt. Seine Tatze berührt ihre Hand, und sie erschrickt. „Tu mir nicht weh“, hört sie in ihrem einfältigen Schädel, und ich denke mir, schlimmer kann es in Hongkong und Macau in den illegalen Restaurants nicht mit den in die Tischplatte eingespannten Rhesusaffen sein. Und das, oh Herr, gab es zu deinen Zeiten in Palästina nicht.

    Und in dieser Nacht schickt mir der Himmel eine Botschaft, eine sehnsüchtig erwartete. So wie bereits der Engel jede Nacht redet, Mutter Ayahuasca. Sie blickt mich an, liebevoll gütig, doch ernst. „Du weißt, was ich gesagt habe. Und langsam erkennst Du, warum ich es gesagt habe.“ Und ich antworte: „Ja, das ist es! Hier herrscht wirklich Kampf, und der Kampf ist ernst. Er erst stiftet Sinn. Und ich weiß jetzt, Du hast mich gemeint, auch wenn ich es die längste Zeit zu leugnen versuchte.“ Und in diesem Moment hebt sich wie in der Oper langsam der schwere Vorhang aus Brokat. Und Atemberaubendes zeigt sich.

     

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel