Anna war bildhuebsch, wuchs behuetet auf einem kleinen Bauernhof auf. Zwei ihrer Brueder starben fruehzeitig, einer im Alter von 12, hoch intelligent. Sie war das Liebkind ihres Vaters, unschuldig und glaeubig. Ihre Schwester Caecilia, mit einer Engelsstimme begnadet, sang fruehzeitig auf dem Kirchenchor. Bis heute, im hohen Alter, orgelt sie. Theresa, ihre schwarzhaarige, feurige Schwester, war umtriebig. Selbst die KZ-Gefangenen, die auf dem Hof arbeiteten, verliebten sich in sie. Maria, die pietaetvolle, die friedliebendste unter allen, empfand in allem, was ihr unterkam, das Wunder der Schoepfung. Hannelore schlussendlich, die hinkende, fragte sich, warum denn nur Frauen soviel beim Gebaeren leiden muessen. Nur das Denken Anna’s war eigenartig. Ihr erzaehlten die alten Wandersleut‘ Geschichten vom Faehrmann. Einer der Faehrmaenner nahm sie mit zu den Ueberquerungen auf der Donau. "Setz dich ans Ruder". Damit sie nicht vom Ruderblatt ueber Bord gehievt werden konnte, legte er ihr den Granderstein in den Schoss.
Anna traegt ein Mal auf dem Ruecken, eines, das sie auszeichnet.
Mit 11 fiel sie in Bewusstlosigkeit, das Gehirn entzuendet. Der alte Arzt, der mit der Rosskutsche durch die Winterwaechten herunterkam zum Flussufer, riet den besorgten Eltern, ihr Kartoffelumschlaege zu machen und ansonsten zu beten. Nach einer Woche wachte sie wieder auf, verstoert, wie eine Entfuehrte. "Ich war im Reiche der Daemonen, Papa". Spaeter sieht sie, wie die Russen den Vater an die Hauswand stellen. "Wo sind Frauen!" Sie bleibt ein Zarterl, bis zur Hochzeit. Weinend nimmt sie Abschied vom Vater, ehe sie dem Braeutigam in die grosse Stadt nachfolgt. Dort lernt sie den Klinikbetrieb kennen; den Primar, der Abtreibungen vornimmt. Sie, die schwangere Hebamme, wird zur Assistenz verpflichtet.
Sie gebaert ihrem Mann fuenf Kinder, das sechste geht ab, als sich die Unruhe wieder regt. Anna lebt verstoert, in fremder Umgebung, nicht weit von ihrem Weiler entfernt. Ihr Mann, ein umtriebiger, attraktiver Arzt, hat wenig Zeit fuer sie. Etwas an ihr stoert ihn. Ihr Glaube spiesst sich mit dem seinen. Er kommt spaet nach Hause, Anna weint derweilen im Bett und betet. Sie zieht die Kinder gross, glaubt, sie zu verstehen. Doch die Kinder gehen ihre eigenen Wege. Anna schlaeft viel, immer mehr. Die Welt ekelt sie. Garten, Voegel und Sonnenschein sind ihr das liebste. "Alles Dreck!", sagt sie, als sie ein beruehmtes Nachrichtenblatt durchblaettert.
Wohin gehen die Frauen, unsere Muetter, auf Wanderschaft, naechtens? Wovon traeumen sie? Was macht sie leiden? Die Unfreiheit? Die Entmuendigung? Sie stehen an den Ufern der Staedte, das Leuchtfeuer in der Hand. "Kommt in dieses gelobte Land, ihr Armen und Vogelfreien!"
Der Geist unserer Muetter schwebt ueber den goldenen Meeren, den warmen. Er traeumt von ewiger Versoehnung, ueber alle Oelpesten hinweg. Sie kennen das verklebte Gefieder der Kormorane, das Sterbelied der strandenden Wale. Unsere Muetter kaempfen im Leid, im Unverstandensein. Sie begraben ihre Lust, unter Qualen, zuletzt ihre Leiblichkeit.
Der Preis, oh Mutter, den Du erstattest, niemand kann ihn ermessen. Nur die Engel, die Du um Hilfe rufst, in deinem Kampf mit den Daemonen. Dein Sieg wird ein Hauch sein, ein Sturm aus dem Munde Zahlloser. Gerechtigkeit.
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"Zeit meines Lebens hatte ich vor dem Leben Angst. Ich habe wohl nie begriffen, was das Leben wirklich soll. Ich hatte Glück und fand an der Seite meines Mannes Schutz. Er hat mich nie betrogen, und das rechne ich ihm hoch an. Ich hätte es auch nicht ausgehalten. Mein Leben verlief ruhig. Ich mußte nie hungern. Heute bin ich achtzig. Von meinen Geschwistern leben noch zwei. Was das Leben ist, ich weiß es nicht. Zumeist ist es schreckenerregend. Nicht das Leben selbst, obwohl, auch das Leben hat seine vielen Gesichter des Schreckens. Die Frau meines Enkelsohnes starb bei der Geburt ihres ersten Kindes. Man fragt sich, warum mußte das sein. Gottes Absicht kennt keiner. Erst recht nicht, warum er dem Menschen den freien Willen gab. Dieser Wille, der uns allen eine Hölle schafft. Wir brauchen doch nur aus dem Fenster zu sehen. Draußen eine Hölle. Ich sehe schon lange nicht mehr fern. Es ist nur Dreck. Ich will mich nicht demoralisieren lassen. Ich höre Radio Maria und bete. Das Gebet ist nötiger denn je. Die Verzweiflung in der Welt ist riesengroß, praktisch unvorstellbar. Man kann sich nicht vorstellen, was in der Welt passiert.
Ich hatte Hebamme gelernt. Doch in dem Krankenhaus, wo ich praktizierte, bestellte mich der Primar als Assistentin. Es war der Primar, der damals weit und breit als einziger Abtreibungen vornahm. Er sagte, ich sei lernfähig und willig. Man trug ihm zu, daß ich schwanger war von meinem Mann. Er sagte mir, "wenn Sie das Kind nicht haben wollen, kein Problem. So können Sie zumindest noch länger arbeiten, und Sie sind geschickt." Am Abend beriet ich mich mit meinem Mann, er selber Arzt. Mein Mann sagte, "zuvorderst sind wir Christen. Das Kind ist gottgewollt. Anna, es tut mir leid, Du wirst mit dem Mann nicht mehr weiterarbeiten können. Der Mann ist ein Teufel. Er gefährdet dein Leben." Mein Mann hat Vieles im Leben gesehen, viele Tote, aber nie kam ein Wort tiefer aus seinem Herzen als damals.
All diese Menschen leben heute nicht mehr. Sie sind gegangen. Die Stimme Marias sagt mir, sie sind alle vor Gott getreten. Niemand entkommt dem Gericht. Ich habe davor keine Angst, denn Gott ist mein Vater. Er hat mich geschaffen. Ich begreife nichts. Ein bißchen was vielleicht, das meiste, alles, nicht. Ich weiß nur, er hat mich zum Guten geschaffen. Was der Mensch in seiner Gottesferne macht, ist schreckenerregend. Wie kann das nur sein? Der Mensch stürzt sich in die Hölle und reißt die anderen mit. Er rottet die Tiere aus. Er zerstört die Welt, als wolle er die Schöpfung nicht. Die Menschen machen sich in ihrer Verzweiflung zu Teufeln. Sie sind ratlos. Das letzte, was ihnen in den Sinn kommt, ist das Beten. Als Christ kannst du heute schon wieder leicht verfolgt werden. Sie machen sich lächerlich über deinen Glauben, weil sie sich peinlich berührt fühlen. Man muß für alle Menschen beten. Die Heiligen tragen das Gebet zu Gott.
Das Leben hat mich müde gemacht, aber ich danke dem Vater für seine Geschenke. Auch mein Mann lebt noch. Alles eine Gnade des Herrn. Die Kinder sind gesund und haben selber Kinder. Meine jüngste Tochter ist Nonne in Medjugorje. Sie ist die Beterin. Die Hand Gottes hat sie gelenkt, und sie hat ihre Bestimmung angenommen. Sie hilft tausenden von Pilgern. Die Gottesmutter wirkt unter uns, daran besteht kein Zweifel. Es ist wichtig, dem Herzen zu gehorchen. Im Herzen wissen wir, was richtig ist. Rechtzeitig einen richtigen Weg einzuschlagen, ist wichtig für das Leben. Erst wenn wir vor den Vater treten, werden wir erkennen und Antwort erhalten. Als Seele werden wir ihn verstehen und das Mysterium seines Sohnes." (10.August 2010, St.Valentin)
Nichts kommt nach dem Tod
„Zu radikalisieren ist keine Sünde, im Gegenteil. Man geht an die Wurzel zurück. Insofern bin ich Faschist, ein ehrlicher. Ich lerne mit dem Wurzelgehen. Hier in Otorongo gehst du durch den Raisal, den Wegabschnitt, wo die Wurzeln offen liegen. Das festigt deine Trittsicherheit. Da hast du endlich keine Zeit mehr, Selbstgespräche zu führen. Du kannst beobachten, wie alles Halt sucht, sogar die Luftwurzler, die angeflogen kommen und von oben nach unten wachsen. Das Wurzelgehen macht mich glücklich. Es beschwingt meinen Schritt. Ich frage mich, wo bin ich verwurzelt, und die Antwort fällt mir leicht. Im Glauben. Anderen Gästen fällt das schwer. Sie glauben nicht mehr. Sie haben Angst vor dem Tod. Es beunruhigt sie, daß alles mit dem Tod endet. Einmal sprach mich ein Arzt aus Straßburg dramatisch an, es war in Sikinos, auf Griechenland, mitten im Boot, auf dem Weg von der Badebucht zum Hotel, zu Mittag, unter der quälendsten Sonnenhitze: „Der Tod ist das größte Übel! Er zerstört alles, das schönste Lebenswerk!“ Ich verstehe ihn. Alle denken so, mit ein paar Ausnahmen. Natürlich endet mit dem Tod alles, aber wieso sollte das dramatisch sein? Viel dramatischer ist meine ständige Ignoranz, meine bodenlose Ignoranz, meine Faulheit, meine Lasterhaftigkeit. Meine Lächerlichkeit. Ich bin eine lächerliche Existenz. In Kürze wird sich keiner mehr meiner erinnern und mein Körper, dieses Fleisch mit all seinen Knochen und Säften, wird verrottet und schlußendlich verschwunden sein und mein Totenfoto, sofern sie eines aufbewahren, wird vergilben. Ich habe keine Kinder. Die paar Freunde werden auch wegsterben, und alles wird wieder ewige Ruh‘. Einige meiner Schüler werden sich an mich erinnern, aber das, was ich gesagt habe in meinem Hochmut, werden sie bald vergessen, zurecht, denn es war genug Hochmut in meinen Worten, zeitlebens.
Keiner macht sich wirklich Gedanken über die Bedeutung des Todes. Alle machen weiter im Trott. Keiner bleibt sitzen und neigt sein Haupt. Alle schusseln herum. Alle meinen, sie seien unsterblich und sie könnten sich jeden Blödsinn leisten. Trinken bis Sperrstunde. Fernsehen bis zur Vergasung. Je mehr Gewalt, umso spannender. Aber keiner bedenkt, wieviele ohne Vorwarnung sterben. Und es sind viele. Selbst die Augenzeugen, die Andere bei Tag öffentlich sterben sehen, halten nicht inne. Keiner wirkt nachdenklich. Keiner sagt, was er denkt. Keiner bleibt sitzen. Alle rennen herum, wie in einem Ameisenhaufen. Ein faschistisches System. Der Tod läßt sie herumlaufen, sagt Don Juan Matus. Der Tod treibt sie voran, also auch mich. Und schlußendlich, sagt der Schamane, wird diese permanente Leugnung des Todes unser Weltuntergang sein. Das Ende der Menschheit. Diesen Gedanken muß man zu Ende denken, aber alle machen einen eleganten Bogen um ihn, trotz der 2012er-Mode.
Was hat wirklich Bestand von dem, was ich so tue? Was hat wirklich Bestand? Alle Wege führen nirgendwo hin, sagt er, aber sie indoktrinieren uns mit dem größten Müll, von dem sie behaupten, er wäre das Wichtigste auf Erden, das, was ich unbedingt zum Leben brauche. Und wehe, ich stehe auf und schreie hinaus, es ist Götzendienst, was ihr da treibt! Das ist die Verblendung. All diese Stars, die sich für unsterblich geben. Die Halbgötter, gedopt und in Szene gesetzt.
Männer meiner Sorte, mit gutdotierter Staatsanstellung, im Elfenbeinturm der universitären Theologie, sind ganz besonders schlimm. Sie produzieren Literatur tonnenweise. Die Bücher, die sie geschrieben haben, sind ihre Legitimation für Unsterblichkeit und Pompösität. Aber alle sterben und hinterlassen ihre Tonnen von Papier. Wer also soll das alles also lesen und wieso? Kein Leben reicht dazu aus, aber sie tun weiter, wie unter Zwang, klar, denn sie sind staatsangestellt, sie sind verpflichtet zu produzieren. Aber es ist wie der tägliche Klogang. Dort drücken wir die Spülung, aber all die Tonnen von Papier füllen Bibliotheken, ohne daß man riecht, welche Dummheit in ihnen geschrieben steht, welcher Hochmut.
Sie reden vom Leben nach dem Tod als hätten sie ein Anrecht darauf. Jeder zweite erinnert sich an ein früheres Leben. Sie stellen den Tod so dar, als ginge eine Tür auf und dahinter pure Herrlichkeit. Sie verkaufen uns bereits Versicherungspolizzen gegen den Horror vor dem Tod. Das kleine Restproblem ist das schmerzhafte Sterben. An dem muß die alles beherrschende Medizin noch arbeiten. Wie weiten wir die Lebensspanne auf über 100 Jahre aus? Wie garantieren wir Schmerzfreiheit? Natürlich mit Morphium und Beruhigungspillen. Aber keiner sagt, das, was wir tun, ist pure Lächerlichkeit, bodenlose Nichtigkeit. Keiner läßt es sich auf der Zunge zergehen, die Nichtung des Seins. In der Todesdiskussion behauptet sich immer noch das Sein, bis zum letzten Atemzug. Fridolin Wipplinger aus Wien schreibt zum Beispiel ein Buch mit dem Titel „Der personal verstandene Tod“. Dazu muß ich einige Fragen stellen: Wieso schreibt er das Buch? Wer hat es gelesen? Wieso schreibt er es, wenn nur ein paar es lesen? Wie war sein Sterben, denn Wipplinger ist schon lange tot. Eine Straße im Zentrum Wiens ist nach ihm benannt. Keiner der Passanten weiß natürlich, wer Wipplinger war.
Also, ist mein Tod ein persönlicher, oder ist er ein unpersönlicher? Läuft meine Sanduhr ab oder ist etwas beschleunigt? Womit kann ich rechnen? Mit nichts. Aber alle sagen mir, doch, Du kannst mit Vielem rechnen, lebe einfach gottgefällig! Beichte und zahle deine Kirchensteuer. So wie einer der Moralapostel einem Freund anläßlich dessen Kirchenaustrittsbrief zurückschrieb, bedenken Sie Ihren Schritt, guter Freud, denn außerhalb der Kirche gibt es kein Heil. Auf diese Weise halten sie das Jenseits in Beschlag. Alles geregelt, keine Sorge! An der Garderobe gibt man den Mantel ab. Drinnen auf der Bühne wird Dante aufgeführt, oder Faust. Die Effekte sind spezial.
Das Leben zermürbt mich, weil ich ein falsches Leben führe. Und dafür suche ich Vergebung, Nachsicht. Aber Änderung nein. Ich stelle mich blind und träumerisch. Ich gebe mich liebevoll und verständig, aber ich denke nicht nach. Mir fehlt der endgültige Ernst. Aber es geht nicht weiter so. Ich glaube, es kann nur in einem grenzenlosen Fiasko enden. Eines Tages zu sterben, ohne Zeit zu haben, mich zu verabschieden und klaren Tisch gemacht zu haben. Ein perönlicher Tod, der ohne Vorwarnung eintritt. Kein Herr, der vorher an meiner Tür anklopft, wie der vornehme Leichenbestatter, der mich fragt, ist es Ihnen so recht? Das ist unangenehm. Das Ende vor Augen sich zu fühlen wie am Anfang. Ja, ich fühle mich wie am Anfang. Eine absurde, lügenbefrachtete Existenz. Wieviel Zeit bleibt mir noch? Eine Stunde.“
(Monseñore Umberto di Castello, Geistlicher, Wien, 14.September 2010, in Rückbesinnung auf Anna. Mit Dank.)
Was ich immer gesucht habe
„Mein Leben verlief äußerlich ruhig, doch in mir habe ich Zeit meines Lebens eine starke Unruhe verspürt. Das Leben machte mir Angst und macht mir Angst, bis heute. Aber wenn ich von Leben spreche, dann meine ich das der Menschen. Die Menschen sind es, die mir Angst machen. Ich begreife nicht, wie man solche Gemeinheiten begehen und mit der Welt, der Natur, so umgehen kann. Es ist doch ringsum nur Zerstörung, was geschieht. Die Menschen produzieren unaufhörlich Dreck und Müll, und ihrem Mund entströmt Gift. Wie anders geschieht diese gegenseitige Zerstörung unter den Menschen? Es scheint mir oft, als hätten wir alle einen Teufel im Leib und als sei dies hier die reine Hölle. Ich weiß, beim Tod erwartet mich der Himmel, aber warum muß die Hölle hier auf Erden sein? Die Erde scheint mir die Heimstatt des Teufels. Als ich jung war, fiel ich zwei Wochen in Bewußtlosigkeit, wegen Gehirnentzündung. Die Eltern beteten für mich und machten kalte Kartoffelumschläge. Das heilte mich, und ich kehrte zurück. Ich war zwei Wochen in der Hölle, im Reich der Teufel. Mein Vater nahm mich in den Arm – ich war damals zwölf -, und ich sagte es ihm beim Aufwachen: „Papa, es war schrecklich, ich war im Reich der Teufel.“
Noch heute, jetzt seltener, früher öfter, suchten mich die Teufel heim. Es war immer fürchterlich. Dann schrie ich auf: „Michael, hilf!“ Der Erzengel kommt im Nu. Er stand mir immer bei. Was ich sehe, entzieht sich jeder Beschreibung. Schreckliche Gestalten, schreckliche Fratzen, ja bis hin zu schrecklichen Gedanken. Die Peinigung des Menschen, und der Mensch, der sich in einenTeufel verwandelt. So wie all die Schinderknechte, die Mörder, jene, die Christus mit geiferndem Speichel ans Kreuz geschlagen und dann mit Häme vor ihm gestanden haben. Und bis auf den heutigen Tag ruht das Morden nicht, der Krieg, und selbst Kinder bleiben vor ihm nicht verschont. Was ist der Mensch wert, wenn er Kinder tötet? Ein purer Teufel, der Gott aus tiefster Seele verneint. Mein Mann, der auch Katholik ist so wie ich, hat es früh schon einmal formuliert, als er sagte, es sei für ihn ein Geheimnis und unbegreiflich, wie ein Geschöpf Gottes, das so nah bei ihm lebt wie ein Engel, sich von Gott abwenden und „Nein“ zu ihm sagen kann. Er bezieht sich auf den Fall der Engel, Satan.
Gott Vater hat uns geschaffen. Alles, was wir sehen, kommt von ihm, und darüber hinaus alles andere, was wir nicht sehen und niemals sehen werden. Und er hat uns den freien Willen gegeben, wie ein liebender Vater. Gott Vater ist allmächtig und entläßt uns in dieser Allmächtigkeit in die Freiheit. Aber wie kann ich ihn deswegen hassen? Wie kann ich überhaupt in den Haß fallen? Hasse ich mein Leben? Hasse ich mich? Hasse ich meine Eltern? Verzweifeln am Leben, ja, das kenne ich, ich habe es oft durchgemacht, auch wegen der Schmerzen, bei den Geburten und später wegen der Knie, aber ich verstehe es jetzt, es waren Prüfungen des Herrn. Prüfungen, die kaum auszuhalten waren. Oh mein Gott, was mutet uns der Vater manchmal zu? Wenn wir früh einen geliebten Menschen verlieren. Er hat mich davon verschont.
Christus war Mensch wie wir, er war uns in allem gleich, außer in der Sünde, wie es in Bibel heißt. Das heißt, er sprach mit Gott und stellte ihm Fragen. Ja, als er am Kreuze hing und ausrief „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, da verzweifelte er an Gott, weil er sich unendlich einsam vorkam in seiner Todespein, wo alle nur geiferten und stierten, aber da sandte ihm der Vater den Schächer zur Rechten zu, der den Linken maßregelte für seine Häme am Messias. Der gute Schächer erkannte im Sohn den Messias, und Jesus sagte zu ihm, „Diese Worte, mein Sohn, hat dir der Vater eingegeben. Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, noch heute wirst du mit mir im Paradiese sein.“ Daraus erkennen wir, der wahre Herr, unser Messias, der uns im Sterben vorausgegangen ist, hat uns ein Beispiel für unser eigenes Sterben hinterlassen. Darum ist das tägliche Gebet so wichtig, und ebenso das Gebet zur Gottesmutter, die unsere Fürsprecherin ist, jetzt, immerzu, und gerade im Augenblick des Todes.
Das meiste, das wir mit uns tragen, bleibt zeit unseres Lebens in uns eingeschlossen. Es entzieht sich unseren Worten. Soviel ich auch davon sprechen möchte, es fehlen mir die Worte. Wenn ich meine Kinder umarmte, dann wollte ich ihnen soviel als möglich davon geben, von diesem Gottesschatz, den er in unser Herz eingelegt hat. Und alle meine fünf tragen diesen Schatz auf die eine oder andere Weise mit sich. Ich kenne sie, manchmal besser als sie sich selbst. Ich weiβ, was sie durchmachen, wie sie kämpfen, mit ihrer Anlage, ihren Leidenschaften.
Das Zusammenleben der Menschen ist nicht leicht, nicht einmal in einer Ehe. Manchmal gibt es gravierende Miβerständnisse, die einen sogar zu Zorn reizen. Deshalb ist es so wichtig, bedachtsam zu bleiben und seine Zunge zu behüten. Ein ausgesprochenes Wort kann man nicht mehr zurücknehmen. Es gewinnt ein Eigenleben. Manchmal reizt einen der Teufel geradezu, und die eigene Zügellosigkeit, die lose Zunge, bringt einen, wie sagt man zurecht?, in des Teufels Küche. Deshalb ist es in der Ehe zeitweise besser zu schweigen, auch wenn der eigene Einwurf noch und noch so berechtigt erscheint. Manchmal ist der andere schwach und verletzbar, verletzbarer als wir es uns ausmalen möchten, und schnell passiert das Unglück. Ja, niemand ist davor gefeit und nichts schützt einen vor dieser Verrücktheit, dieser Zerrissenheit. Nicht einmal 30 Jahre Verheiratetsein. Wegen einer Kleinigkeit gerät man sich in die Haare, grad, daβ man sich nicht umbringt. Zumindest mit Worten. Es ist bestürzend, wie tief der Mensch von einem Moment auf den anderen sinken kann. Selbst das Alter schützt vor diesem Irrsinn nicht. Gott behüte. Ringsum sehen wir doch, wie der Irrsinn im Alter ausbricht. Es hilft nur beten. Wenn ich an nichts glaube, woran soll ich im Alter Halt finden, allein, wie man sein kann, in einem verlassenen Haus? Wie tröstend ist das Gebet! Wer zu Gott keinen Weg findet, er ist nicht verloren Es gibt Maria, eine Mutter, ein Mensch; es gibt Christus. Es gibt Pater Pio. Er antwortet mir immer. Ich habe seine Figur im Speisezimmer stehen. Er hat seine Hand huldvoll erhoben. Oft scheint es mir, er lebe. Er hat zu unserer Zeit gelebt. Das macht ihn so nahe und persönlich. Ich kann von seinen Kämpfen nachlesen. Ein ehrlicher Gottesmann. Einer, der im Gottvertrauen gestorben ist. Einer, den bis zum letzten Moment Glaube und Hoffnung nicht verlassen haben. Welche Gnade! So sollte es sein, immerzu. Wir müssen wirklich lernen, besser mit einander umzugehen. Wir müssen lernen zusammenzuleben. Es kann nicht jeder in seiner Gefängniszelle beleidigt hocken bleiben. Das ist doch nicht christlich. Es geht wirklich nichts über die beiden Gebote unseres Herrn: „Du sollst an einen Gott glauben!“ und „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Wenn ich abends im Bett darüber meditiere, erkenne ich die Gröβe Christi. Nur ein Erlöser kann so sprechen. Und dafür danke ich ihm. Ja, durch ihn fühle ich mich errettet. Er erst hat mir den Weg zu Gott Vater gezeigt. Es gibt nichts anderes im Leben zu tun: Ein guter Mensch sein und Gott nie vergessen. Nie!“
(Anna)
Versunkenheit
"Wenn man mich jetzt zeitweise fragt, wie es mir geht, antworte ich ehrlich: "Schlecht." Ich sehe es an den Gesichtern der jungen Leute, wie sie dann aus allen Wolken fallen. Meine Antwort haben sie offenbar nicht erwartet.
Ich falle immer wieder hin, es dreht mich richtiggehend zusammen. Ich höre schlecht und bin fast blind. Der Appetit geht mir verloren so wie das Gedächtnis. Es ist schwer, spüren zu müssen, wie die Menschen verstört auf mich reagieren. Aber ich mag nicht mehr lügen und nicht am Lügenspiel mitspielen. Das Alter ist keine Wohltat, aber es ist unvermeidbar. Es ist die endgültige Vorbereitung. Die Lügen haben ein Ende, und mir braucht keiner mehr unterkommen, der lügt.
Die Menschen tun einander Ungeheuerliches an, und sie stellen sich dabei noch gefühlslos. Die Krankenhäuser sind nur ein Beispiel. Weil ich an Netzhautatrophie leide, haben sie eine Versuchsreihe gestartet und mir ein Mal pro Woche eine Nadel hineingestochen. Es tat schrecklich weh. Und es war nicht immer ein Arzt. Und sie maßregelten mich, weil ich mich beklagte und nicht mehr mitmachen wollte. Sie sind erbarmungslos gegenüber den alten Menschen.
Ich bin 81. Zwei meiner Schwestern sind schon tot. Drei leben noch. Mit Cäcilia telefoniere ich jeden Tag. Wir sind ein Herz und eine Seele. Das war schon immer so, das ganze Leben hindurch.
In einem bestimmten Moment sage ich zu meinem Mann: "Sei ruhig und schauspielere nicht. Dein Arztsein muß einmal aufhören. Wir gehen alle fort. Sei ehrlich. Du mußt es mir ja nicht zeigen. Aber laß mich in Ruhe. Ruf mir nicht dauernd in die Dunkelheit nach. Ich muß meinen eigenen Weg gehen. Gehe du Tarockieren und sei bei deinen Freunden glücklich.
Ehe man sich’s versieht, sind sogar die wertvollsten Menschen fort, und man kann sich nur sagen, Abschied nehmen war in unseren Kreisen aus Pietät nicht sosehr der Brauch, aber heimlich haben wir es uns alle gedacht. Auch mein Beichtvater, dem ich alles erzählt habe, einer der wertvollsten Menschen, die ich kennengelernt habe, ist fort. Die Priester, sie sterben alle einsam.
Das Wort, es verhallt, aber ich bin sicher, es gibt immer ein paar Menschen, die mit dem Herz fühlen. Menschen der Barmherzigkeit, auch wenn sie es nicht so deutlich zeigen, weil sie an der Front stehen.
Als Frau muß ich eingestehen, die Männer machen vieles falsch. Sie glauben im Besitz der Wahrheit zu sein, und dabei unterdrücken sie die Frau, lassen sie nicht zu Wort kommen. So verstummen die Frauen ein Leben lang. Das ist das allerschlimmste. Aber ich wollte mich nicht dreinfügen. Oft konnte ich aus Zorn nur weinen. Die Sprache der Frauen ist eine andere. Auch das muß man verstehen. Der Tod der Frauen ist ein anderer als der der Männer. Aber die Männer halten die Ansprachen, und sie irren sich. Vom Tod gezeichnete Priester. Ich kann am Ende meines Lebens nur sagen, alles hört einmal auf, auch die Lüge und der Mord. Nach dem Tod kommt die Auferstehung. Daran habe ich nicht den mindesten Zweifel. Das hat mir der Herrgott erspart. Ich werde sterben und ihm gegenübertreten. Dann werde ich ihn sehen und er wird mich in sein Herz schließen. Ich verabschiede mich von dir und zeichne dir das Kreuz auf die Stirn. Vielleicht werden wir uns nie mehr wiedersehen. Dein Platz ist drüben, bei deiner Frau und den Kindern. Sei glücklich über dieses Gottesgeschenk.
Pfiat‘ di!"
(Anna Pichler, 8.November 2011)
Imagine
Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Das war ein Slogan der Friedensbewegung in den 70er-Jahren.
Leider, das wird nicht Wirklichkeit. Es ist ein Widerspruch in sich. Man könnte genauso gut einen neuen Spruch kreieren: Stell Dir vor, das Töten hört auf.
Wo fängt das Töten an? Wenn ich einen Baum fälle, also bei den Pflanzen? Denn Pflanzen sind bewußte Wesen. Nicht alle, vielleicht, aber doch die meisten. Zumindest die Singularitäten. Blumen, zum Beispiel, oder Pilze. Gras vielleicht nicht. Aber die Tiroler Bergbauern verbieten dem dummen Touristen, durch die Blumenwiese zu gehen. Das tut der Wiese weh, sagen sie. Doch später kommen sie mit der Sense. Und eine andere von der Höh‘, eine Bergwirtin, sie philosophiert im Fernsehen ganz versonnen, wie gut das Kalbsschnitzel schmeckt, das sie für ihre Gäste zuzubereiten versteht.
Die Pflanzen haben die schlechtesten Karten in diesem Mörderspiel. Karten? Ja, Karten, sagen sie, denn schlußendlich sei ja alles ein Spiel. Ein Spiel des Lebens, ein Spiel der Natur, ein Spiel vor dem wartenden Tod. Ein gleichgültiges Spiel, sagen sie. Manche haben halt schlechte Karten. Die "Arschkarte", wie sie es zuweilen salopp nennen. So wie die absaufenden Afrikaner vor Lampedusa.
Die Schildkröten haben schlechte Karten, obwohl wir nichts von ihnen wissen. Die Haie neuerdings auch. Die Tiger schon die längste Zeit, Gorillas und Elefanten auch. Das Nashorn hat ein Handicap, sein Horn. Die Aras auch: ihre Federn. Die Anakonda: ihr Öl, detto der Pottwal. Die Wale generell, weil Kraftfleisch en masse, sagen die Japaner und schon seit längerem auch die braven Norweger. Die, die im Mittelalter auf die Hebriden und die schottischen Inseln übersetzten und die katholischen Priester mitten auf ihren Altären, in ihren Kapellen abschlachteten. Die Friedfertigen haben schlechte Karten. Die Unbewaffneten.
Die Föten im Mutterleib haben schlechte Karten und manche Babies noch dazu. Also generell alles Leben, das sich nicht zu wehren vermag.
Stell Dir vor, alle Autos verschwinden. Stell Dir vor, alles Öl. Stell Dir vor, es wird wieder wie 1962. Da gab es nur zwei Milliarden Menschen. Knapp darunter. Da gab es noch Heimat, ist man versucht auszurufen. Heimat?
Wo ist meine Heimat heute? Der Wald meiner Kindheit? Eine gähnende Schottergrube. Mein Spielkamerad hat den Wald seines Vaters verkauft und wurde damit zum Millionär. Denn Schotter ist begehrt.
Stell dir vor, kein Fernsehen mehr. Ende mit der schreckenerregenden, faschistischen Volksverdummung. Ende mit dem nicht abreißenden Blutstrom, der einem aus dem Fernseher entgegenquillt und der unablässig schreit und kreischt und brüllt: "Allmacht ist geil. Waffen sind geil. Cooles Töten ist geil."
Stell Dir vor, ein Licht erscheint am Firmament. Ein paar, die zu Fuß, bleiben stehen und blicken hoch. Und jemand fragt: "Was ist das?" Und ein anderer – der Zufall will es so – antwortet: "Die Strafe Gottes!" Ein Dritter: "Red‘ nicht solchen Unsinn. Aber irgendwas hat es zu bedeuten." Und ein Vierter, Hinzukommender: "Das ist das Ende." "Blödsinn", sagt ein Fünfter, "wie soll das das Ende sein?" "Ja siehst Du denn nicht", sagt ein Sechster, "das ist das Ende. Das ist der Komet, der allem ein Ende bereitet. Flüchten nutzt nichts mehr. Er wird alles auslöschen." "Du bist wohl nicht bei Trost", schallt es ihm entgegen. "Das ist nicht erlaubt und nicht vorgesehen. Ein kleines Phänomen, mehr nicht."
Gespräche in der letzten Minute.
Stell Dir vor, jemand zieht den Stecker raus. "Wäre doch interessant", sagt mir die Jugend. "Ja, das wäre cool!"
"Wir brauchen uns den Atomkrieg nicht vorzustellen", sagte Günther Anders 1976. "Wir haben die Atomsprengköpfe, wir haben die Raketen, und das genügt. Einmal wird die erste Bombe explodieren, und sie wird eine Kettenreaktion nach sich ziehen. Das Ende der Humanität." Ja, Herr Anders. Das Ende, eingeläutet am 11.September im Jahr des Herrn 2001.
Jetzt vernichten sie das Sarin in Syrien, unter Hochsicherheitsmaßnahmen. Ein riskantes Schauspiel, noch dazu ein hochbezahltes. Und dann? Dann wird wieder eine Costa Concordia, gesteuert von einem betrunkenen Kapitän, in Steinwurfweite vom Ufer entfernt einen Nebelhornsalut anbringen wollen und dabei auf steinernen Grund laufen. Und eineinhalb Jahre später wird wieder jemand 700 Millionen Euro auf den Tisch legen und sagen: "Wir brauchen den Pott schwimmfähig! Koste es, was es wolle. Wir können den Kahn nicht für alle Zeit im Brackwasser so liegen und verrotten lassen. Das ist unappetitlich."
Stell‘ Dir vor, alle machen Pause. Alle zur gleichen Zeit. Und in Las Vegas zieht tatsächlich jemand den Stecker raus. Und die letzte Kugel im Roulettekessel zieht ihre Kreise und fällt klickernd in ein Fach. Doch kein Croupier annonciert: "Zero!"
Und demgemäß kommentiert auch kein adrenalingetränkter Spieler: "Ich wußte es! Ich wußte es !"
Und auch der neben ihm Stehende, ebenfalls ein Fachmann, wird seinen wissenden Kommentar ebenso wenig anbringen können: "Wirst sehen, Zero kommt gleich nochmal." Denn es ist finster.
Stell Dir vor, die Glocke erklingt.
Eva und die Schlange
"Manche Frauen speien Gift. Sie verführen deinen Mann. Sie begehren ihn vor deinen Augen. Sie sagen dir ins Gesicht: "Du taugst nicht für diesen Mann." Das passierte mir, als ich 32 war und mit den drei Kindern frisch in das Dorf kam. Eine andere – ich war hernach fassungslos – vertraute sich mir an: "Ich habe, obwohl verheiratet, mit den Männern abgeschlossen. Ich suche Frauen, denn die betrügen mich nicht. Ich finde Sie attraktiv." Sie siezte mich. Sie war nicht zudringlich, nur offen. Ich war fassungslos. Eine Bäuerin mit Kindern!
Von Anfang an hatte ich mit Abtreibungen zu tun. Ich als Hebamme. Ich verlor alle Hoffnung. Ich dachte, ich sei eine Beute des Teufels. Ein naives Mädchen vom Land. Das geschah in Wien, in Gersthof. Und ich tief gläubig. Mein Mann hat interveniert, als Arzt. Er sprach mit dem Primar. Deshalb liebe ich meinen Mann. Auch wenn ich heute, weit über achtzig, verwirrt bin, meinen Mann werde ich immer erkennen. Vielleicht geht er mit mir. Der Wein wird ihn nur kurze Zeit über mein Entschwinden hinwegtrösten.
In den fünf Jahren in Wien bin ich ins kalte Wasser geworfen worden. Das meiste waren sehr harte Lektionen. Über manches bin ich bis heute nicht hinweggekommen. Einmal ist eine Frau bei uns eingeliefert worden. Sie hatte gerade ihr Neugeborenes umgebracht. Ich habe später die Details erfahren. Da mußte ich aufs Klo. Dort bin ich umgefallen. Sie haben mich zur Dusche gebracht und dort den Kopf gewaschen. Ich blieb noch eine Weile leichenblaß. Sie riefen meinen Mann, der im Wilhelminenspital arbeitete. Er fuhr mich auf dem Roller nach Hause und dann wieder zurück in den Dienst. Er erklärte mir am Abend, daß die Psychiatrie so etwas kennt. Mütter, die ihre Kinder über den Balkon in die Tiefe werfen und dann nachspringen. Das hat mich lange nicht losgelassen. Später habe ich meinem Sohn davon erzählt. Seltsam. Wir hörten gerade gemeinsam Maria Callas, als die Erinnerung wiederkam. Er antwortete mir: "Das ist der Medea-Komplex. Altes Griechenland. Medea wirft aus Rache gegenüber Jason die gemeinsamen Kinder über die Burgmauer in die Tiefe, aber sie selbst springt nicht nach. Sie will den Irrsinn in Jasons Blick sehen. Verfilmt von Pier Paolo Pasolini, mit Maria Callas."
In Wien hörte ich noch vieles Anderes. Eine Tochter, verheiratet mit einem Militär, Mutter, verzweifelt an einem Samstagnachmittag an der eigenen Mutter, die eine Hexe ist, und ruft aus dem Hof nach oben: "Das ist nicht mehr zum Aushalten! Wenn das so weitergeht, geb ich mir den Strick!" Und die Mutter, in voller Rage: "Ja häng dich doch auf!"
Ich bin mit neun in tiefe Bewußtlosigkeit gefallen, – Gehirnentzündung. Ich war in der Hölle. Teufel und Dämonen. Wie ich wieder aufwachte, nach 14 Tagen, fand ich mich im Arm meines Vaters. Sie hatten mir weichgekochte Kartoffel eingeflößt und kalte Kartoffelumschläge aufgelegt. Ich habe nie vergessen, was ich damals erlebt habe. Später ist mir klargeworden, daß all die Fratzen das wahre Gesicht der Menschen darstellten.
Ich bin ein ängstlicher Mensch. Ich bin nie fortgegangen. Kaum komme ich irgendwo hin, passieren die allerunglaublichsten Dinge. Grad daß sie sich nicht gegenseitig umbringen. Bei vielen sehe ich Gestalten. Aber die Leute sehen nicht, daß sie von einer Gestalt begleitet werden. Bei manchen ist es ein Schatten, bei anderen ein verfaulender Mensch, bei anderen ein Lichtwesen, und bei manchen Männern eine Frau mit glühenden Augen und hervorquellendem Busen.
Wenn ich nächtens im Bett liege, kann ich mich der Visionen nicht erwehren. Ich rufe dann immer den Erzengel Michael an. "Michael, hilf!" Ein Stoßgebet. Er hilft immer. Zum Glück läßt es nach Mitternacht nach. Zum Morgengrauen schlafe ich tief.
Eine Mutter weiß immer, wie schnell es enden kann. Mit ihr selbst, aber erst recht mit den Kindern. Deshalb ist sie immer in Sorge. Hat sie mehrere Kinder, weiß sie, eines ist besonders gefährdet. Einige meiner Nichten und Neffen sind gestorben, und ich selbst habe drei Brüder verloren. Den letzten, Karl, zu Heiligabend. Er hat den Rußlandkrieg überlebt, aber sein Leben sollte nicht lange währen. Die Kinder sind ohne ihn aufgewachsen.
Das Unglück schleicht sich manchmal auf leisen Sohlen bei Nacht heran. Du liegst mit deinem Verlobten in der Stube, ihr habt die Kerzen ausgeblasen, da hört ihr am Boden ein Krabbeln und Rascheln. Ihr zündet die Kerze wieder an: Welch ein Schreck. Das Wasser der Donau kommt. Die Kakerlaken, Spinnen und Mäuse sind auf der Flucht. Der Karl ruft den Papa und die Knechte. "Das Wasser kommt! Schnell, Sandsäcke!" Zweimal hatten wir das Wasser im Hof. Der Geruch des Schlammes und der Fäulnis hängt noch Wochen danach im Flur.
Mein Elternhaus ist verschwunden. Der Schotterbaron hat alle Gründe aufgekauft und es sofort abreißen lassen. Ich erinne mich gern an die Zeit zurück. Die 40er-Jahre. Seltsam. Die Kriegsjahre und doch glückliche Jahre. Die Russen haben uns alle verschont.
Ich erinne mich, ich war so um die sieben. Wir hatten eine steinalte Magd. Sie war senil. Zeitweise war sie unfähig, das Zeitungspapier auf dem Abort zu benutzen oder sich die Unterhose wieder hochzuziehen. Sie beschmierte die Wände mit ihrem Kot oder schmierte ihn sich ins Gesicht. Die Erinnerung an diese Frau ist mir wie ein seltsamer Traum. Wie überhaupt so vieles aus der Jugend in unserem kleinen Weiler. Die Vögel sprachen, besonders die Raben. Es gab viel Wandersleut, die schon viel herumgekommen waren. Sie hatten abgetragene Schuhe und wettergegerbte Gesichter. Sie schliefen immer im Heu. Der Vater gab ihnen Suppe und Brot. Es gab die Messerschleifer, die Töpfeflicker, die Tonnenflicker. Die Heustadelherrichter. Die Gewandverkäufer. Und solche, die Leckerbissen bei sich hatten, oder Heilkräuter. Ein Igelskelett oder eins von einer Schlange. Die Leute sahen es uns an, wir waren schreckhafte Kleinhäusler, die nichts anderes hatten als Arbeit, ein wenig Brot, die Familie und den Glauben. Wir fingen jeden Tag um halb sechs an. Wir arbeiteten schwer, auch ich, die ich ein Zarterl war. Aber wir hatten immer genug zu essen. Und wir, die Geschwister, wir hielten zusammen. So wurden wir groß. Dann holten uns die Männer. Wir haben alle geheiratet. Es ist lange her. Das Leben ist bald vorbei. Die Angst ist mir geblieben. Wenn ich ehrlich bin, die Angst vor allem, auch vor mir selbst. Vielleicht bin ich deshalb verwirrt."
Verschwinden
Das Verschwinden ist endgültig. Meistens kündigt es sich an. Meistens, aber nicht immer. Das Verschwinden ist ein Prozeß. Im Alter über Jahre. Bisweilen über viele Jahre. Die Menschen werden klein, gebeugt, magern ab. Bisweilen magern sie dramatisch ab. Schlußendlich erinnern sie an Kinder, Kinder aus Afrika. Biafra-Kinder. Still der Blick, die Sprache versagt. Die Kraft zum Sprechen verläßt sie nach und nach. Sie geraten in Verwirrung. Sie schlafen mitten im Sprechen ein. Sie schlafen mit offenem Mund. Wenn sie Glück haben, bleiben sie fähig, alleine ihre Notdurft zu verrichten. Der letzte Rest an Menschenwürde. Sie sind noch fähig, sich über ihre Leibspeise zu freuen. Sie leben noch hier, aber nicht mehr innerhalb der sozialen Belange. Alles wurde zur Privatsphäre. So driften sie fort in die Dämmerung, und sie befürworten es. Sie befürworten es, weil sie dankbar sind, daß es dank der Medizin, die sie jeden Tag brav schlucken, kein Martyrium ist. Diese Befürwortung ist uns, den Zeugen, vorbildlich. Sie erleichtert uns die Vorstellung, wie es bei uns selbst einmal sein kann. Wenn wir es so akzeptieren, dieses langsame Fortgehen, dieses langsame Verschwinden im Nebel, aus dem es kein Zurück gibt.
"Ich bin dankbar, daß es ohne gröbere Schmerzen geht", sagen fast alle. "Ich bin froh, daß ich zuhause sterben kann." Es ist genug, sagen sie. "Ich bin müde. Wirklich schwer müde." Und so schlafen sie ein, friedlich, und es ist Ruhe, für immer. Der lieben Person wird die letzte Ehre erwiesen, und dann wenden sich alle ab, alle, um wieder ihre eigenen Wege zu gehen. Nur einer bleibt zurück, der Gatte, die Gattin. Er wendet den Blick nicht ab. Er regelt die Verlassenschaft und wird still. Er bereitet sich selbst vor. Der Partner aus 50 oder 60 Jahren gemeinsamen Lebens ist fort. Was hält ihn noch? Manchmal gehen sie innert einer Woche. Plötzlich ist das Paar verschwunden. Eine Lücke klafft. Stille kehrt ein. Wo Kinder nicht nachwachsen, wird es gespenstisch. Das Gespenst des Vergessens wandert um. Das Gespenst der Ortlosigkeit. Nach 70 Jahren graben sie im Dorf um und finden Skelette. Hier muß mal ein Friedhof gewesen sein, sagen die Grabenden. Eigenartig, niemand kann uns darüber Aufschluß geben. Das Haus, die Wohnung wird verkauft. Der neue Besitzer nimmt eine Generalrenovierung vor oder reißt das alte Gebäude komplett weg. Die letzte Spur verschwindet. "Hier lebte mal eine alte Frau, sie wurde 90 Jahre alt, mein Sohn", erzählt ein in die Jahre gekommener Vater seinem Sohn, als dieser, von weither kommend, an einem Wochenende zum ersten Mal die Siedlung seiner toten Großeltern inspiziert. "Sie ist nie Auto gefahren. Das war undenkbar. Sie ging auch nicht sonntags in die Kirche. Sie wollte nicht hinfallen. Nicht im Herbst und nicht im Winter. Sie ging zum Fleischhauer und zum Greißler, mit höchster Vorsicht. Und sie fiel nicht hin auf der Straße, doch einmal im Garten, über einen Maulwurfshügel. Zum Glück brach sie sich dabei nichts. Sie fiel weich. Sie hat den Nachbarn, deinen Großvater, gebeten, jeden Sonntag nach ihr zu schauen. Das hat er getan. Sie sagte zu ihm, Nachbar, wenn ich in der Früh nicht das Fenster aufmache, bin ich entweder tot oder hingefallen. Denn jammern werde ich nicht. Sei so lieb und schau dann nach mir. Wenn mich keiner begraben will, nur du, dann gehört das Haus dir. Sei so lieb und ruf den Notar. Das will ich festhalten. Wenn mich keiner begraben will, nur Du, dann gehört das Haus dir." "Ja, Sohn, so war das mit unserer Nachbarin. Sie hieß Magenschab. Eine rüstige, unverdrossene Frau. Sie wurde 90. Genau an ihrem 90.Geburtstag ist sie gestorben. Sie sagte, ab 90 fange ich an zu stinken, das will ich den Leuten nicht antun." "Wann war das, Papa?", fragt der Sohn. "Vor 25 Jahren, lieber Sohn." "25 Jahre?", tut das Kind überrascht und dehnt die Zahl, als es sie ausspricht. "Das ist viel. Ach Papa, was heißt "unverdrossen?""
Zu Grunde gehen
"Mutter, wo bist Du? Mutter, hilf mir. Ich vermag nicht mehr auf.
Verlaß‘ uns nicht!
Wenn ich zugrunde gehe, bin ich nicht mehr. Geh‘ mit mir. Es ist so dunkel und so weit.
Wir müssen alle sterben.
Blumen sind für das Gemüt. Siehst Du die Mauerblumen, den Goldregen, wie er herabfließt?
Mich hat ein Leben lang gefroren. Gott sei Dank gibt es die Sonne. Der heilige Martin hat seinen Mantel geteilt. Niemand soll mir böse sein, so wie ich niemandem böse bin."
Grenzübertritt 2
Als der finnisch-russische Winterkrieg tobte, 1939/1940, fiel ein junges Mädchen, ein Kind von neun Jahren, für 14 Tage in tiefe Bewußtlosigkeit. Die Mutter flößte ihm zärtlich Kartoffelbrei ein und legte ihm kalte Umschläge auf die Stirn. Mehr konnte sie nicht tun. Sie beteten, die Eltern. Es war tiefer Winter. Der Arzt war mit dem Pferdeschlitten gekommen, hinunter in den Weiler an der Donau. Das Kind wachte im Arm ihres Vaters von den Toten auf. Es blickte direkt in seine Augen. Der Vater erschien ihr wie Gott. Die ersten Worte des Kindes: „Papa, es war schrecklich. Ich war in der Hölle. Lauter Teufel.“
1945 kamen die Russen in den Weiler. Sie nahmen die beschränkte Magd, die schon seit immer am Hof arbeitete. Die Magd opferte sich für die Familie, die aus fünf bildhübschen Töchtern bestand. „Sie haben mir weh getan“, schluchzte die Magd nach dem Abzug des Packs und fand nie mehr zu sich zurück. Sie aß Kot.
Anna wurde 85 Jahre alt. Sie litt zeit ihres Lebens. Krampfadern, aber mehr noch die Knie. Dann kroch das Leiden in ihre Augen, in die Netzhaut. Die Ärzte quälten sie. Sie wagte nicht zu widersprechen. Dann driftete sie fort, unter der Last des Lebens, das für sie zu einem einzigen Leiden geworden war. Anna war immer schon verwirrt, doch die Verwirrung nahm dann einen Grad der Totalität an. Sie kehrte zurück in das Reich der Teufel und wurde von diesen gebeutelt. Ein Jahr lang rief sie nach ihrem Vater, und dieser antwortete ihr aus der Unendlichkeit. Ich weiß, Anna spannte die Arme aus, weltumspannend, um ihn wiederzusehen. Ein weltumspannendes Leiden, von dem sie mehrmals gesprochen hatte. Das mystische Leiden des Sohnes Gottes, zu dem sie jede Nacht betete.
Das sind die Tatsachen des Lebens, mitten im Krieg.
„Wie dem Chaos trotzen?“ Das fragte sich Anna
Als Kind tauchte sie ein in die Unfaßbarkeit des Seins. Sse fiel geradezu in dessen Unfaßbarkeit hinein. Sie verlor das Bewußtsein. Scheinbar, so die fernen Zeugen, ging sie verloren in der Dunkelheit. Doch heute weiß ich, sie durchkreuzte diese Dunkelheit, um schlußendlich wieder aufzutauchen.
Diese Dunkelheit da draußen. Diese Dunkelheit um uns. Eine dunkelheit voller Dunkelwesen. Wir sind ein dunkles Volk. Dunkelvolk. Die Dunkelheit dominiert. Licht, das ist die Ausnahme. „Licht? Fragezeichen!“, lehrte einst ein Herr. Ich war damals zwölf. „Kinder, schreibt: Licht – Fragezeichen!“ Wo ist Licht? Im Tod? Warum diese Präferenz für das Licht? Warum Gott im Licht? Weil wir ihn sonst nicht sehen? Weil Gott die Wahrheit ist, die göttliche, ewige Wahrheit, und Wahrheit einfach in göttlichem Licht zu stehen hat. So sagen manche. Theologen, zum Beispiel. Solche, die auf Gott hin forschen. Das ist der Mensch: Er forscht auf Gott.
Was aber, wenn Gott das Nichts ist? Das nichts hat keine Farbe und keinen Zustand. Es ist nicht Seiendes. Es ist nicht Sein. Dem Nichts kommt Sein nicht zu. Was kommt dem Nichts dann zu? Nichts? Kommt dem Nichts nichts zu? Das ist ein inhaltsloser Satz. Er sagt nichts aus, sagt der Wiener Kreis der Positivisten.
Das Nichts ist ein absurder Begriff. Er ist reine Negativität. Das deutete zum Beispiel Moritz Schlick an. Ihm wie allen seinen Gesinnungsgenossen, den damaligen wie den Nachfolgern, den sogenannten Neopositivisten, war gemeinsam, nur am Bestehenden kleben bleiben zu wollen. Referenz ist einzig und allein, was ist.
Diese Leute hatten natürlich keine Ahnung von den Untiefen des Buddhismus, egal, ob japanischer, indischer oder tibetischer, um nur drei herauszugreifen. Diese Leute waren akademische Ignoranten, eingehüllt in ihre Hermelinmäntel. Und außerdem, sie sind alle tot. Mucksmausetot. Sie sind längst zerfallen. Nichts ist von ihnen übrig geblieben. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Ich verachte die Positivisten. Sie sind bis auf den heutigen Tag nicht ausgestorben. Sie suhlen sich in ihrer staatlich beamteten Pragmatisierung, will heißen: Unkündbarkeit, und nutzen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, um weiter ungerecht zu reden. Sie verdammen im Grunde alle Meinungsabweichler. So lange, bis sie selbst einen absurden Tod sterben. Und dann bleiben glotzende Augen zurück, – und Sprachlosigkeit. Sprachlosigkeit vor dem Tod.
Mit rasender Geschwindigkeit saugt der Tod sieben komma zwei Milliarden Menschen auf. Mehr Menschen denn je werden seine Beute. Der Mensch steht vor dieser gigantischen Mauer. Dahinter zu blicken ist ihm verwehrt. Die, die vom Dahinter berichten, das sind Brave. Aber sie waren nicht tot. Das ist der Unterschied.
Doch es gibt genug Damen, die mir gestehen, sie wären in einem früheren Leben Hexen gewesen, Kräuterfrauen, und hätten deswegen am Scheiterhaufen den Feuertod sterben müssen.
Das anhören zu müssen tut mir immer weh. Ich kannte einen Selbstmörder, der Hitler bewunderte. Er bewunderte die Bonzen des NS-Regimes, die alle mit Zyankali in den Tod gingen.
Das alles ist vorläufig ohne Belang. Es geht mir um Anna, die vielleiocht in ihrem letzten Jahr liegt. Sie liegt und schläft, den ganzen Tag. Sie wacht vielleicht drei oder vier Stunden. Den Rest schläft sie. Wenn sie wach ist, redet sie ununterbrochen. Sie weiß nicht mehr ihren Namen. Das, was sie immer wieder wiederholt, ist das Wort „Vater“. Dieses Wort ist ihr heilig. Wen auch immer sie damit meint, wenn sie das Wort ausspricht, dem Zuhörer, den Zuhörern wird klar, hier sind drei Väter gemeint.
Drei Väter.
Es stimmt mich ehrfürchtig, Anna zuzuhören. Sie hinterläßt ein Testament, zweifelsohne. Das Testament war ihr Leben, und es bleibt ihr Leben. Sie weiß nicht mehr, wer sie in diesem Leben war. Sie spricht die Anfangssätze des „Vater unser“. Sie spricht die Anfangssätze des „Gegrüßet seist du, Maria!“ Und zuletzt spricht sie drei Worte: „Heilig, heilig, heilig!“
Wenn die Welt untergeht, im Chaos versinkt, geht doch nicht das Wort unter. Das Wort, das all das ins Leben rief. Das Wort, das uns ins Leben rief. Und niemand, niemand kann dieses Wort zurücknehmen. Und so wird Anna eingehen, und manch einer wird ihr nachfolgen. Manch einer. Dorthin, wo alles begann.
Meine Angst vor den Teufeln
„Diese Welt, in der ich lebe, werde ich nie verstehen. Und noch weniger werde ich verstehen, wenn ich auf all die Lügen höre, die mir entgegenschwappen.
Mein Vater war gegen Hitler, und er wetterte noch gegen ihn, als dieser bereits in Österreich einmarschiert war. Das hätte ihm das Leben kosten können. Selbst in unserem kleinen, kreuzbraven Dorf hatten wir einen Vernaderer der Nazis, von dem wir wußten, er würde nicht zögern, seinen Nachbarn zu verraten und damit nach Mauthausen zu bringen. Mein Vater war gottgläubig. Ich habe viel um ihn geweint, als er starb. Da war ich schon verheiratet und säugte meine zweite Tochter, die Monika.
Ich war von meiner Herkunft her schüchtern. Ich lebte in einer kleinen Welt, von den Eltern und den Geschwistern beschützt. Was wußten wir damals denn von der großen, weiten Welt? Gar nichts! Wir hatten ein Radio. Das war alles. Und im Krieg Radio Hören konnte lebensgefährlich sein. Meine Schüchternheit ist mir ein Leben lang geblieben. Ich möchte aber nicht sagen, daß sie mich beherrscht hat. Was mich ein Leben lang beherrscht hat, war meine Angst vor der Boshaftigkeit der Menschen, deren Giftspritzerei, ja, fast müßte ich sagen: deren Mordlust. Das meiste, wo ich durch mußte, war reinste Teufelei. Wir leben hier in der Hölle. Meine größte Angst war, daß mir der Teufel in einem unachtsamen Moment zu nahe kommt. Und das waren nicht die Russen. Alles, was ich sehe, ist eine Ausgeburt der Lüge. Alles kommt an ein Ende, selbst unter Qualen. Warum Gott dem Menschen all diese Qualen zumutet, werde ich erst verstehen, wenn ich zu ihm zurückgekehrt bin. Wenn ich zu ihm zurückkehre, hat alles Leiden ein Ende.
Das einzige Thema, dem ich mich in meinen Betrachtungen widme, ist unser Herr Jesus. Das Mysterium seiner Menschwerdung, sein Leiden, sein Tod und die Auferstehung. Nur wenige denken darüber nach. Schade. Es ist nicht einfach zu verstehen. Das Christentum ist eine schwierige Religion. Es fordert heraus. Christus fordert heraus. Sogar ich mußte um ihn kämpfen. Oft genug bin ich beinahe an ihm gescheitert. Dann rief ich den Erzengel Michael an. Er kam mir in meiner Not zu Hilfe. Immer.
Jesus ist uns ganz nahe, doch wir sehen ihn nicht. Er bedeutet uns nichts. Zu Weihnachten, als die Kinder bereits groß waren, hat mich immer öfter Unwohlsein erfaßt. Auch, weil der Schnee immer öfter ausblieb. In meiner Kindheit waren schneelose Weihnachten unvorstellbar. 40 und 41 waren bitterkalte Winter. Wir lebten vollkommen abgeschnitten, doch mit den Vorräten haben wir uns durchgehungert. Eine Scheibe Brot mit Butter: die größte Köstlichkeit, die man sich damals vorstellen konnte. Was Gerechtigkeit ist, verstehe ich, und trotzdem habe auch ich Fehler begangen. Wahrscheinlich habe ich Vieles falsch gemacht und manchen vor den Koipf gestoßen, aber verzeih‘ mir, ich hatte einfach in jedem Moment Angst. Auch vor mir selbst.“
(Anna erlosch am 7.Dezember 2015 im 86.Lebensjahr).