Eines Tages laeuft einem dieser Englaender ueber den Weg, ein aristokratischer Blondschopf, schmalgesichtig, feinziseliert, sensibel. Unvorstellbar, er ist schon lange fort. Seine Erzaehlungen, als waeren sie erst gestern passiert. Von Australien ("Traumpfade"), von Patagonien ("Durch Patagonien"), von Russland ("Vermischte Berichte"). Ein Reiseschriftsteller, der seinen eigenen Biographen gefunden hat – einen gewissen Herrn Shakespeare -, so mysterioes verlief sein Leben. Ein ehemaliger Sotheby-Direktor, der Werner Herzog und Klaus Kinski in Afrika begleitete. Einer, der scheinbar ueberall offene Tueren vorfand. Er, daran gibt es nichts zu ruetteln, hatte offenbar das Wort beherzigt, "Bitte und Dank oeffnen dir alle Tueren im Land!"
Bruce Chatwin starb mit 48 an Aids, der fruehzeitige Opfertod eines Bisexuellen, von seiner Frau am Ende hingebungsvoll gepflegt. Ein Opfertod in einer grosszuegigen Volte. "Das was ich sehen wollte, habe ich gesehen, den Rest spare ich mir." Chatwin’s Schreibe ist ungeheuer larmoyant. Die grossartigsten Horizonte, die mysterioesesten Augenblicke in kurze Saetze gepresst. Die Begegnung mit einem Kulturheros in einem Absatz beschrieben.
Er trifft auf die Aborigines, sie oeffnen ihm ihre Tore und nehmen ihn mit, lange vor der amerikanischen Fiktion. (Fackeltraeger wie Chatwin oder Wenders dienen den beschraenkten Phantasten von drueben immer als willkomene Vorbilder fuer Plagiate). Er wandert mit ihnen ein paar Stationen mit, ein kurzer Walkabout, und dann formt sich in ihm die Erkenntnis des Geheimnisses, er formuliert es in einem Satz. "Offenbar bildeten Sie das Land in ihren Gesaengen ab, das Land nicht nur von hier." Deshalb der lapidare Buchtitel: "Traumpfade". Alle danach vermerkten sich diesen Titel zwecks spaeterer Ausschlachtung.
Chatwin spielte mit offenen Karten, das alleine war aussergewoehnlich. Offenbar liess er sich selbst durch widrigste Umstaende nicht entmutigen und bewahrte in allen Situationen Facon. Ein Brite eben durch und durch. Die Briten finden eben ueberall offene Tueren, und es nimmt nicht Wunder, dass sie so lange in Indien residierten und Gandhi als willkommener Pruefstein dienten. Er ging nach Patagonien, ans Ende der Welt, von Lima aus kommend, er tat es stellvertretend fuer Eileen Gray, die 93 Jahre alte Architektin, die er in Paris interviewte. Er sieht eine von ihr gemalte Landkarte und bemerkt: "Dort wollte ich immer schon hin!" "Ich auch", antwortet sie ihm, "Gehen Sie fuer mich hin!" Und so tut er es, 1974. Er marschiert 6 Monate durch den Archipel der Einsamkeit, faehrt mit Bussen; rekonstruiert die ungeschriebene Geschichte von Butch Cassidy and The Sundance Kid, den zwei amerikanischen Outlaws, von Hollywood mit Paul Newman und Robert Redford besetzt, die in Mexiko gestorben sein sollen. Nein, sagt Chatwin, sie kamen bis Argentinien. Erst dort fanden sie ihr Ende. Er kehrt zurueck ueber die Isla de Chiloé, nicht ohne dem einzigen niemals befriedeten Indio-Stamm in allen Amerikas, den Mapuches, einen Besuch abgestattet zu haben. Man sieht foermlich den Wind heulen ueber die Kuestengraeser, die schnell dahintreibenden Wolkenfetzen vor dem strahlenden Blau eines ewig frischen Himmels, und so versteht man die eigentlichen Selbstgespraeche dieses Wanderers um jeden Preis, dieses Arbeitsthema: "Was tue ich hier?" Auf seinen "vermischten Reisen" im kommunistischen Russland gibt er die Antwort, als er zur Geburtsstaette des Zaren gelangt. Drei "Déjà-vu’s" in Serie versetzen ihn in eine andere Zeit, geradezu in eine andere Dimension, ebenso wie damals, als er von den "Blauen Menschen" zurueck in die Zivilisation kehrt. "Ich ging einen trockenen Hohlweg entlang, es war ein ausgetrocknetes Bachbett, wie ich an den Steinen erkannte. Ueberall Blaetter. Ploetzlich stockt mein Fuss in der Luft und bewegt sich um keinen Preis. Vor mir beginnen die Blaetter zu wandern. Der Meister kriecht weg, gemaechlich. Er zollt mir keine Achtung."
Chatwin hatte das Zeug zum inkognito durch die Welt ziehenden Zen-Meister. Permanentes Understatement, dann und wann ein Peitschenhieb. So wie der Hindu-Asket und "Guru" von Rolf Augustin, dem Muenchner Psychiater. Nach Jahren von Besuchen am Subkontinent, nach Jahren der harten Yoga-Praxis, verabschiedet der Asket seinen ergebenen Schueler, der bereit ist zu resignieren, am Bahnhof, Victoria-Station, Kalkutta. "Ich sehe, du gibst dein Abenteuer nicht auf, glaubst immer noch an die Erleuchtung. Was suchst du? Warum ist sie dir so wichtig? Genuegt dir nicht dein Sterben? Siehe, ich sterbe vor dir, und du wirst mich nicht mehr finden. Doch weil ich weiss, dass dein Herz weint und ich gesehen habe, du hast dich angestrengt, wisse, im Yoga gibt es immer zwei Wege, den langen, von dem alle wissen, und den kurzen, von dem nur die Eingeweihten wissen. Den kurzen beschreitest du mit einer einzigen Frage: "Wie, wenn das alles nichts waere?" Verstehst du mich?" Rolf Augustin faellt in Ohnmacht, auf der Victoria-Station in Kalkutta. Veraendert kehrt er zurueck.
Chatwin als eiserner Englaender tat sich das nicht an, zumindest berichtet er nicht davon. Seine Frisur blieb immer in Ordnung. Aber er hatte am Schluss sein Panoptikum auf seiner Filmrolle eingebrannt.
"Aus welcher Zeit, glauben Sie, stammen diese Bauten?", fragt ihn Werner Herzog in Mauretanien. "Aus der Zeit der Grossmogule, die den roten Rubin im Turban trugen", kommt es wie aus der Pistole geschossen zurueck. Kinski naehert sich ihm, einen Hamburger verschlingend. Zwiebelringe fallen in den Sandboden. "Are you a timerider, Mister Sir?" "In the same way as you, Mylord!" Heute sind beide fort, und doch so nah, unterwegs im farbenfrohen, nie endenden Panoptikum.