Das Album der denkwuerdigen Ereignisse
Carlos Castaneda letztes Buch “Das Wirken der Unendlichkeit” wurde nur wenige Wochen vor seinem Tod am 28.April 1998 veroeffentlicht. Gemeinhin wir es als sein persoenlichstes Buch bezeichnet. Dieser Meinung moechte ich mich anschliessen. Ein Buch kurz vor dem Tod ist kein Luegenwerk. Welches Interesse sollte der Autor an einer Luege haben, wenn er weiss, binnem kurzem wird er verschwunden sein? Ausdruck eines letzten Triumphes, bevor einen die Dunkelheit umfaengt? Kurz vor dem eigenen Tod zu luegen ist eine besondere Form des Genusses. Das Wissen um die Luege kurz vor dem eigenen Tod ist eine Form des Kampfes im Leben, eine Form, zumindest zu den eigenen Gefuehlen “Ja” zu sagen. Das haben alle Exekutanten des Dritten Reiches vorexerziert. Ein Mann, der, die Henkerskaputze auf seinem Kopf und die Schlinge bereits um den Hals, es noch fuer wert befindet, “Heil Hitler!” auszurufen, findet gerade an diesem eigenen Beispiel den letzten Triumph, denn er weiss, die Zeugen hoeren seinen Ruf und werden von diesem Ausruf beeinflusst. Der Hingerichtete findet Genuss an dem Gedanken, gerade dieses Erbe zu hinterlassen. Dasselbe praktizieren all jene Menschen, die auf ihrem Totenbett nicht in Liebe und Offenheit sterben, sondern es vorziehen, letzten Hass abzuladen. Soweit ist die Verblendung fortgeschritten. Der Verblendete, der sich keinen Deut darum schert, dass diese seine letzten Worte, Worte des Hasses, in absoluter Verantwortungslosigkeit ausgespuckt werden. Denn jene, die noch am Totenbett hassen, sagen sich: “Bis zuletzt, und danach nichts!” Ihr Triumph besteht gerade darin: Hass zu zeigen in Wort und Auge, und dann fortzugehen. Dasselbe tun Attentaeter. Der Selbstmordattentaeter, der Andere mit in seinen Tod zieht, prahlt mit einer vermeintlich teuflischen Devise “Es gibt kein Gericht, es gibt keine Verurteilung.” Er will damit sagen, es gibt kein himmlisches Gericht. Es gibt keine Gerechtigkeit nach dem Tod. Und somit kann er im Leben alles tun, was er will, auch, das Mindeste, luegen.
Und dann haelt man ein Buch in Haenden, in welchem es um letzte Dinge geht. Um das Jenseits. Das Jenseits ist das Eigentliche, wie die Hopi sagen. Die spirituelle Welt. Diese Welt hier ist nur eine Welt des Lernens uund der Pruefung. So zu denken ist doch nur stringent. Lernen und Geprueftwerden. Lernen und Geprueft Werden machen das Leben aus. Das bejahe ich. Ja, ich bejahe dies. Denn es spricht mich direkt an. Ich lerne, und ich werde geprueft. Was sonst? Jede Kreatur lernt. Auch Pflanzen lernen. Bakterien und Viren lernen. Was die lernende Instanz ist, darueber muss ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Ja, ich werde im Leben gezwungen zu lernen. Ich kann mir nicht aussuchen, was ich lernen soll, was ich lernen muss. Ich kann mich beschweren, ich kann zettern, bruellen, ich kann mich straeuben, das alles hilft nichts. Ich bin ins Leben gerufen, und ich kann auch sofort zu luegen beginnen und behaupten, ich wurde ins Leben geworfen, blind geworfen, niemand hat mich gefragt, ob ich ueberhaupt will.
So zu reden ist ein fundamentaler Irrtum. Die Sprache, die in diesem Argument verwendet wird, ist nur allzu verraeterisch. Das ist Hochmut. Die Leute, die sich auf diese Weise gegenueber anderen Menschen beschweren, ueberheben sich. Sie ueberheben sich gegenueber Gott, dem Schoepfer. Sie sagen: “Du musst mich zuerst fragen, ob ich damit einverstanden bin, dass du mich schaffst.” Das ist die Spur des Wahnsinns, der im Menschen glost. Dieser Ausspruch: “Ich bin Gott!” Patienten in Asylen reden so. “Ich bin Gott, ich bin Christus, ich bin der Gesalbte, ich bin der Gemeinte, ich bin der, der wiederkommen sollte. Knie nieder vor mir und bete mich an!” Der Groessenwahn, der nichts dabei findet, zynisch zu sterben und vielleicht in diesem Sterben auch noch andere mit in den Tod zu zerren. Diese Teufel proklamieren teuflische Saetze wie etwas: “Bringen wir’s hinter uns!” Derjenige, der auf den beruehmten roten Knopf druecken wird, haengt diesem Satz an. “Bringen wir’s hinter uns. Nach uns die Sintflut. Der Tag des Gerichts ist unvermeidbar, was also hindert uns, den globalen Tag des Gerichts auszuloesen? Wenn alle Menschen dieser Erde im Atomkrieg und an dessen Folgen sterben, gibt es keinen Anklaeger mehr. Schliessen wir das Kapitel “Menschheit”. Bringen wir’s hinter uns. Diese Generation ist durch. Machen wir uns keine Illusionen. Diese Menschheit verdient es nicht, auf diesem Planeten zu leben. Ein Blinder muss doch sehen: Dieses Wesen ist eine Perversion. Die Entwicklung seines Gehirns hat es um den Verstand gebracht. Alle Tiere leben im Gleichgewicht, und wenn sie sterben, beschweren sie sich nicht. Doch was macht der Mensch? Er rottet die Schoepfung aus! Sieh dir nur das an! Er rottet die Schoepfung aus und verwandelt den Planeten in eine einzige Kloake. Er faselt von Atommuell in die Sonne Schicken. Braucht es noch mehr Beweise? Also, was willst du noch? Bringen wir’s doch hinter uns!”
Don Juan Matus, der unvergleichliche Lehrer Castanedas, eine von Doña Soledad Ruiz, der unvergleichlichen mexikanischen Meistercurandera bezeugte Gestalt, erklaert seinem entsetzten Schueler im letzten Abdruck seiner 13 Jahre waehrenden Unterweisung, wer hier so spricht. Er legt ihm dar, dass nicht wir es sind. Nicht wir sind es, die so sprechen, die so wueten, sondern ein Wesen, das uns als Gefangene haelt und sich von unserem Bewusstsein ernaehrt. Man koennte sagen, das ist der wahre Teufel. Die Gestalt und faktische Anwesenheit dieses Wesens auf Erden, das laut Don Juan Matus die ultimative Herausforderung des Universums darstellt, erklaert alles. Dieses Wesen stuerzt uns in die Hoelle, in die Unterwelt. Dieses Wesen gebiert die Phantasie eines Zombies. In der Bibel ist nirgendwo von Zombies die Rede, und auch nicht in der bereits 2.600 Jahre andauernden juedischen Ueberlieferung. In der Apokalypse des Johannes ist jedoch von einem anderen Wesen die Rede, naemlich dem Antichrist. Der Antichrist ist der naemliche Teufel. Sobald Christus endgueltig umgebracht ist und niemand mehr etwas von ihm weiss, sind wir verloren. Ich sage das bewusst. Freud, zum Beispiel, war Atheist. Sein letztes Buch vor dem Tod in London 1939 handelte von Moses, dem ersten und bedeutendsten Propheten der Juden. Der Auszug der Israeliten aus Aegypen – zentrales Element der juedischen Ueberlieferung – geht auf ihn zurueck. Freud meinte, das Buch Mose sei entstanden auf dem Altar eines Tabubruches: Mose waere ermordet und verschlungen worden von seinen Soehnen. Die eigenen Soehne haetten gegen ihn revoltiert, ihn getoetet und gemeinsam aufgegessen. Ein Vatermord also. Damit begann nach Freud die juedische Geschichte. Ein umgeformter Tabubruch, denn den eigenen Vater zu toeten und aufzuzehren ist doch ein Tabu. Aehnliches behaupten Teufelsanbeter in Peru, die von Muttermord phantasieren. Die Pervertierung kennt keine Grenzen. Wahrhaftig nicht.
Don Juan Matus bietet nun einen Ausweg. Man kann ohne Weiteres von Rettung sprechen. Er sagt, der einzige Schutz, diesem Raubwesen standzuhalten und den verloren gegangenen Glanz der Bewusstheit nach und nach von den Fusssohlen aufwaerts wieder hochwachsen zu lassen, besteht in “makellosem Handeln”. Was ist Makellosigkeit? Stets dein Bestes zu geben und noch ein bisschen mehr. Diese Antwort erleuchtet mir ohne Probleme die Tragweite meiner Aufgabe, denn ich beginne im gleichen Atemzug ja bereits die Tragweite meiner, unserer, Gefaehrdung zu ahnen. Es ist eine Ahnung, mehr nicht, doch eine schreckenerregende Ahnung. Eine, die mir den Schlaf raubt. Don Juan spricht in fliessendem Spanisch. Dein Ansprechpartner ist die Unendlichkeit, erklaert er seinem Schueler jeden Tag, und der Tod ist dein Ratgeber. Der beste Ratgeber. Damit ist das Zentrale gesagt, und somit darf ich mich in mein Schweigekloster zur Meditation zurueckziehen. Meditation kommt aus dem Lateinischen und bedeutet Bedenkung. Die Bedenkung in der Klosterzelle. Zuvorderst die Bedenkung des Wortes Gottes, und das heisst fuer Schwestern und Brueder: das Wort Christi. Doch fuer einen Krieger, der zu kaempfen versteht, weil er sich nicht scheut zu kaempfen (der also bereit ist zu kaempfen und dies nicht als Makel einer Zumutung, die eigene Frisur zu zerrupfen, auffasst), kommt nun, erklaert der Yaqui-Meister, eine weitere Aufgabe hinzu, eine hoechst bekoemmliche, doch zugleich unabdingbare. Eine Aufgabe, die von der Unendlichkeit mir anbefohlen wird: Die Rekapitulation des eigenen Lebens sowie das Anlegen eines Albums der denkwuerdigen Ereignisse in meinem Leben. Dies die Aufgabe eines Kriegers.
Das Album der denkwuerdigen Ereignisse. Du musst dich zehn Mal neu erschaffen, um zu erkennen, wo hat der Geist, der Geist!, zu dir gesprochen? Der Geist, der dich anspricht, ist der eigentliche … Zuchtmeister. Dein Lehrmeister. Der Lehrmeister erteilt dir eine Lektion. Die Lektion ist nicht subjektiv, wohl gemerkt. Die Lektion folgt einem Gesetz, doch die Gesetze des Lebens treffen nicht auf alle Menschen zum selben Zeitpunkt zu. Das ist der grosse Unterschied. Saulus war ein Moerder. Dann wurde er Apostel. Der Abt von Herzogenburg war Fleischhauer. Dann wurde er Moench. Magdalena war eine Dirne. Dann wurde sie zur Vertrauten Jesu. Manche spucken als Schueler auf Mathematik. 40 Jahre spaeter kaufen sie sich Mathematikbuecher und beginnen sie voller Interesse zu studieren. Der eigentliche Punkt nun, der die Aufgabe des Anlegens des Albums dermassen attraktiv gestaltet, ist der ihm innewohnende Hinweis auf einen der Tragpfeiler in der Welt des Schamanismus, naemlich das Verstehen der Notwendigkeit, ein “hohles Horn” oder, wie Fools Crow es ausdrueckt, ein “hohler Knochen” zu werden. Ich biete dem Heiligen Geist keinen Widerstand mehr. Gelingt mir dies (hoechst herausfordernde Aufgabe), erkenne ich nach und nach – mit Schrecken und Ehrfurcht (Ehrfurcht!) – dass Gott schon immer auf mir, der Floete, zu spielen versucht hat. Doch leider, ich bin dermassen krumm gewachsen, da kann kein ordentlicher Laut erschallen. Hoechstens ein Kraechzen. Ich war mein Leben lang hysterisch, widerspenstig, verdreckt, verstunken. Mit einem Wort: ich war mein Leben lang massiv verwirrt. Es gab niemanden, der mir auch nur das Mindeste mit gutem Herzen erklaeren haette koennen. Und dennoch wirkte die Unendlichkeit, wirft nun Don Juan Matus ein. Trotz meines verbiesterten Lebens warf mir Gott jeden Tag Manna zu, Brosamen zum Essen. Anstoesse. Doch ich in meinem Herumburren fand vielmehr Gefallen daran, wie der Papázo, der Brummkaefer, mit voller Wucht gegen die Holzwand zu prallen. Du musst dich zehn Mal neue erschaffen, um zu erkennen, wo sprach dich der Geist, die Unendlichkeit direkt an mit einer Lektion, die auf den ersten Blick unpersoenlich wirkt (Stichwort “Gesetz”), doch die dich nachhaltig in Atem halten sollte, ohne dass du es bis heute bemerkt hast. Die lehrende Hand Gottes. Nicht die zuechtende. Die lehrende. Die liebevolle. Die geduldige. Eine Lektion, die dich, du harte Nuss, knackt. Wenn nicht jetzt, so spaeter. Vielleicht nach 40 Jahren. Dann, wenn du bereit bist, dich unter Traenen knacken zu lassen. Deshalb Meditation. Deshalb Rueckzug. Deshalb Weinen. Doch jetzt merkst du, jemand hoert dich. Jemand hoert dein Weinen. Mehr noch: Er fragt dich: “Warum weinst du, meine Tochter? Warum weinst du, mein Sohn?”
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Versoehnung
Wie sich alles doch verschraenkt, sobald ich auch nur einen zarten gruenen Stengel am Ufer meines Schlammloches, das mich jede Nacht zu verschlingen droht, zu fassen bekomme. Eine Verschraenkung der Geschehnisse und der zuzeiten in diesem meinem kurzen Leben bereits gefassten guten Vorsaetze, die mir, so wie ich mich in einem wiedergewonnenen Moment der Ruhe besinne, als Errungenschaften dieses meines gutgemeinten Lebens mit gutem Gewissen anerkennen kann. Ja, ich habe mehr errungen als ich gerade in diesem Moment des Zweifels, der mich gefangen halten will, ermessen kann. Meine eher groben Phantasien, die doch zumeist nur aus Aerger ueber meine eigene Hilflosigkeit hervorkriechen, machen mit ihrem vermeintlich bedeutungsschwangeren Erscheinen doch nicht meine taeglichen Gebete ungeschehen, auch wenn ich zeitweise doch an mir selbst und meiner Vernunft zu zweifeln beginne, denn die im Blut watenden Monstren gebaerden sich uebermaechtig.
Doch sobald ich meine Routine unterbreche oder abaendere, stellt sich sogleich eine veraenderte, eine verbesserte Perspektive auf das eigene Leben ein, und ein Gesicht erscheint, ein liebevoll laechelndes, und jetzt erst, jetzt, im fortgeschrittenen Alter, finde ich die Kraft, die Gutmuetigkeit, die Gutwilligkeit, den Begegnungen jenen Dank abzustatten, den zu erweisen ich damals, so viele Jahre lang, indirekt immer vermieden habe, aus Feigheit vermieden habe. Meine Feigheit, genau hinzuschauen, was denn tatsaechlich in mir los ist. Doch jetzt, wo ich den Krieg ueberstanden habe, finde ich zum Wort. Das Zum Wort Finden verdanke ich einer weiteren Verschraenkung, einem Lehrer, der eben nicht feige war (etwas, das mir ja schon immer imponierte), das, was hier geschieht, beim Namen zu nennen. Der, der die Dinge, das Kind, beim Namen zu nennen vermag, hat die Angst vor Rache und Gewalt abgelegt. Rache und Gewalt zeigen sich als schattenhafte Gefuehle, die sich wie ein Hauch, ein Nebeldunst, aufloesen mi durchbrechenden Licht des Morgens, dieser uebermaechtigen Sonne, der ich alles Glueck, ja alles Leben verdanke. In diesem Moment der Staerke spuere ich Sicherheit. Jemand legt mir die Hand auf die Schulter und bestaerkt mir Herz und Zunge. Mag es der Schutzengel sein, mag es die verstorbene Mutter sein, mag es Ruach, der Geist, selbst sein. Seine Anwesenheit lotst mich an den Ort der Umsicht. Sie hievt mich auf den Markstein an der Felsenkueste, von wo aus ich die unbestimmte Ferne, in der sich die Farben des Lichtes vermischen, erspaehen kann. Dort oben auf der Felsenkueste verliere ich endlich wieder den Druck der schal schmeckenden Gewohnheiten, die mich um das wahre Leben bringen. Ich denke nicht mehr an den Abend, das Abendbrot oder das Bett, das auf mich wartet. In jenem Moment verwandle ich mich in ein Huhn, das seinen Stall aufsucht oder, so es ihn nicht gibt, auf einem Zwergbaum oder einem Strauch oder, sei es, nur einem Gelaender aufbalzt. Das Huhn wartet die Dunkelheit mit sonderbarer Gemuetsruhe ab, und schliesslich bedeckt es dieses sein unergruendliches Huehnerauge mit einem Unterlid, das es wie eine Bodenjalousie hochfaehrt. Der Tag geht zu Neige, die Nacht bricht an. Ich begebe mich auf die Reise der Nacht. Die Segel sind auf Halbmast gesetzt, Ausguck und Bootsmaat instruiert. Die Steuermaenner werden einander zur bekannten Zeit abloesen, die Sterne verheissen eine ruhige Nacht. Selbst die Wale werden nicht prusten, sondern traeumen. Die Tuer ist gesichert, das Bett hart. Das Kind neben mir schlaeft friedlich, ohne Angst.
Ich bin hier und nirgendwo anders. Dies hier ist mein Lebenskreis. Erinnerungen, so qualvoll sie sich auch gebaerden moegen, erweisen sich schlussendlich als Chimaeren. Wirf sie endlich ueber Bord, sagt mir der Engel. Sieh doch, die meisten Menschen sind bereits tot. Womit also haderst du. Wende dich diesem Tag zu. Jetzt ist dein Wort gefordert, deine rechte Gesinnung. Lass nicht nach!
Noch ist nicht aller Tage Abend
Medizin mit Freunden trinken. Nichts Schöneres. Geweihte Orte, seit Jahren. Die Natur mit ihren Tieren tritt heran, so wie die Geister der Medizin. Hi ah Park, die südkoreanische Schamanin, Wegbegleiterin seit der ersten Stunden, erweist uns die Ehre, ebenso die Lakota, Archie Fire Lame Deer und dessen Schüler, ein Pfeifenträger. Die Medizin in Europa tut ihr Gutes. Die Menschen sammeln sich, sie lernen, beinahe möchte ich sagen: auf Schritt und Tritt. Wir fahren vorsichtig. Schwester Restituta, Oberin an einem Krankenhaus in der Nähe von Wien, läßt ihre Gedanken fließen. Die Vergangenheit fällt ab, Unfälle, unhaltbare Situationen, mitunter Schreckliches, man greift sich an den Kopf. Glücklicherweise habe ich all dies überlebt! Was jetzt? Wie mache ich es besser? Mit Vorsicht, mit Gott. Die Zeremonie arbeitet mich durch, ich liege am Boden. Am Boden läßt sich leichter beten, so am Rücken hingestreckt. Ach, welche Entspannung. Überall Krieg, doch hier, an diesem geheiligten Ort, finden wir Frieden. Es gibt Einiges aufzuräumen, da und dort versteckt sich immer noch ein Teufelchen. Doch langsam ordnet sich der Wespenkobel im Gehirn. Peter Handke erhält den Nobelpreis für Literatur, lese ich in der Früh. Das kann nicht ohne Schrammen abgehen. Nicht bei ihm, dem Nahestehenden, dem Serbiendurchwanderer. Überall speien sie Gift, als wären sie die letzten Richter. Doch ein Geist nimmt mich an der Hand. „Verzage nicht!“, murmelt sie mir zu. „Vertraue mir. Ich kenne dich. Das hast du dir doch immer gewünscht. Nimm es somit hin. Ich kenne dich. Sträube dich nicht gegen das Erkannt Werden. Nimm es in Würde. Du bist immer mehr als du dir jemals gedacht hast. Großes kommt auf euch zu. Gürte dich! Zieh gutes Schuhwerk an! Nichts darf lose an dir sein. Die Reise beginnt. Ahoi!“
Die Nagual-Frau
Der Leidensweg der Frauen ist ihr eigener, und deshalb werde ich mich von Anbeginn dieses Schreibens, das mir schon lange am Herzen liegt, hüten, in Polemik oder Blasphemie zu verfallen, auch nicht im Anflug. Der Leidensweg der Frauen begleitet mich auf Schritt und Tritt. Ein Weg der Unerfülltheit, ein Weg der Sehnsucht, ein Weg des Suchens, ein Weg der Verwirrung, ein Weg des Ekels, aber zuunterst ein Weg der Eifersucht und des Neides. Der Weg der Frauen, an die ich denke, ist einer der stummen Anklage. All diese Frauen leiden an Talenten, die sie nicht verwirklichen konnten, oft auch nicht wollten. Die talentierten, unerfüllten Frauen leiden alle an demselben tragischen Umstand: Es gibt keinen Mann, der ihnen das Wasser zu reichen vermag. Das trifft erst recht auf die Hexen zu, jene Frauen, die wahrhaftig die Welt nachhaltig verändern könnten, würden sie sich zusammenschließen. Die Hexen hassen diese Welt. Sie verzweifeln an ihr. Sie spüren es mit Haut und Haaren, dieser Weg führt binnen kurzem zur globalen Katastrophe. So wie Greta Thunberg, und die ist erst 16. Ein apartes Fräulein, doch wie sie formuliert: Hut ab! Diese Courage! Dieses Mädchen weiß, was es sagen will. Ein Vorbild! Und es reitet nicht auf der Welle der Bequemlichkeit oder des Opportunismus, wo ich mir jenen Mann aussuche, mit dem ich dann fernab jeder Leidenschaft durch eine unbeschwerte Zeit ziehen kann, in der ich in einem goldenen Käfig wohne. Was soll’s? Greta Thunberg weint öffentlich, und das ist bereits kein geringer Tabubruch. Denn heute noch Tränen zu vergießen wie Leonard Cohen beim Vortrag von „I’m a Stranger“ ist mittlerweile unschicklich geworden. Heute ist es schicklich, sich im Lederkostüm öffentlich mit einer Metallstange zwischen den Beinen zu reiben, und sogar die eigentlich brave Shakira, die ja bei Gabo Marquéz in die Schule gegangen sein sollte, wäre vor solcher Provokation nicht gefeit, hätte sie nicht einen Weltfußballer in Katalonien als Gatten, der sich ekelerfüllt von ihr abwenden würde, bekäme er solches Gehabe zu Gesicht. Die Frauen, an die ich denke, schrammen allerdings allesamt tatsächlich an dieser Klippe ungezügelter Lüsternheit entlang. Sie handhaben in sich eine Devise: „Ich muß bei Bedarf alles können. Mein Körper ist mein Kapital. Wenn die reichen Männer allesamt bereits auf Kindfrauen stehen, muß ich, die Erfahrene, zumindest ein Äquivalent handzuhaben verstehen, eines, das den reichen Macker an mich bindet, ihn mir hörig macht.“ Mit dieser Devise wird die Lüge geboren. Die Lüge der geheuchelten Orgasmen, geheuchelter Wolllust, geheuchelter dreckiger Sprache. Diese Devise ist die Wiege der Perversion und der flächendeckenden Kontaminierung, man könnte auch sagen, der Aussaat des Irrsinns.
Doch es gibt Frauen, die tragen das Herz am rechten Fleck, und das schon immer, seit der Geburt. Diese Frauen leiden. Sie leiden an allem. Sie leiden am Leben, sie leiden an sich. An der Umwelt, den Mitmenschen, sowieso. Sie wissen untrüglich, alles ist falsch. Schlichtweg alles. Das, wie die Menschheit handelt, ist von Grund auf falsch, war immer falsch. Das Wort „Fortschritt“ ist die größte Lüge der Menschheitsgeschichte, denn absolut niemand wüßte ja zu sagen, wohin es gehen soll? Diese Frauen sind klug. Sie wissen, in meinem Leben sind Kräfte am Werk, die unfaßbar und schier urgewaltig mich so wie jeden anderen Menschen im Griff halten, die Umkreisung der Sonne beispielsweise, doch noch viel gewaltiger die Rotation unseres Gottes Solaris an einem der Außenarme der Via Galáctica. Diese Frauen wissen, ich kann bei der Geburt meiner Tochter, die ich unter dem Herzen trage, sterben. Und diese Frauen wissen, was andere Frauen sich antun, wenn sie die eigene Leibesfrucht abtreiben. Sie wissen, was Johanna von Orleans durchlitt, und Anne Boleyn, und erst recht Elisabeth die Erste. Und ganz besonders wissen sie, wer Maria Magdalena war. Das ganz besonders. Die Frauen, von denen ich hier spreche, sind die eigentlichen Trägerinnen des Mythos. Sie stehen mit dem Herrn aus Nazareth auf einer Stufe. Sie weinen Blut. Sie wissen, was der Herr in Gethsemani, zwölf Stunden vor seinem Tod, durchlitt. Sie kennen äußerste Einsamkeit. Sie ringen gegen die Gottverlassenheit. Sie kennen den Schmerz, das Leiden. Sie kennen den Betrug. Sie kennen die Teufelsverfallenheit der Männer. Sie kennen die eigene, aus Verzweiflung geborene Wolllust, die Verdorbenheit, die kein Maß mehr kennt. Sie wissen nur allzu gut, daß, wo ein Teufel, dort auch eine Teufelin. Und sie wissen, dort, wo ein Gott, dort, wie es wohl sein sollte, rechtmäßigerweise, dort auch eine Göttin. Und sie leiden, wenn die Teufel prusten: „Was? Eine Göttin? Wollt ihr unsere wohlgefügte Welt in Stücke reißen mit eurem Weibergeschwafel?“
Den heiligen Frauen, und ich kenne ein paar wenige, drei, liegt alles am Frieden. Am unscheinbaren Frieden. Diese Frauen leben gottergeben. Sie sind treu, treu dem Mann ihres Lebens. Sie hoffen. Sie weinen. Sie beten. Der Teufel riecht an diesen Frauen, doch dann wendet er sich ab. Diese heiligen Frauen verstehen aber auch, wer der Teufel ist. Sie wissen, er ist alt, und er ist einsam. Deswegen hegen sie Mitleid mit ihm, und damit fangen die Probleme an. Eine von den dreien ist mehrfache Mutter, die anderen kinderlos. Kinderlosigkeit ist eine Peitsche. In Lateinamerika hegen Mütter gegenüber kinderlosen Gringas im fortgeschrittenen Alter Mitleid, zeitweise aber auch Verachtung. Sie verstehen nicht, was da schief gelaufen ist. In ihrem Mutterinstinkt finden sie keinen Zugang zur Praxis hintangehaltener Mutterschaft. Eine kinder- und männerlose Frau ist für eine Latina automatisch eine marimacha, eine vom anderen Ufer, eine Pervertierte. Solche Frauen werden gemieden. Mit der daraus resultierenden sozialen Isolation verzweifeln die solcherart Gemiedenen mit der Zeit und sterben frühzeitig. Alles ein Drama, das einem die Brust einschnürt. Die heiligen Frauen sind in der Regel bildhübsch, echte Madonnas. Doch sie beten mitten im Arbeiten oder Einkaufen, und das läßt sich an ihrer Erscheinung ablesen. Diesen Frauen mangelt es somit an Koketterie. Eine Frau, die mitten beim Einkaufen betet, verschwendet keine Zeit auf Koketterie. Die heiligen Frauen denken zwar an Sex, das sogar regelmäßig, doch sie lassen sich von diesem eigenen Phantasieren nicht hinwegspülen oder ließen sich deswegen einreden, sie wären Frauen zweiter Klasse. Sie tragen still ihr Schicksal. Sie wissen, wie schnell sie fortbefohlen werden könnten, fortgezogen ins Meer der Stille, in den unendlichen Ozean, ins dunkle Meer des Bewußtseins, in dem es kein Ertrinken gibt. Eine von diesen Frauen war Carol Tiggs, Carlos Castanedas‘ Angebetete. Eine Frau sondergleichen, wirklich sondergleichen, eine aus Kalifornien. Doch man muß nicht immer in der Ferne suchen. Wunder über Wunder. Gott ist groß! Nur 19,63 Kilometer entfernt hat er mir mit eigener Hand die Nemesis hingepflanzt. Mein Cousin Sepp Huemer, der weinende, einbeinige Schamane, hätte Selbiges gesagt. Und der Sepp hat für ewig Bestand. Hörst du mich, Sepp? Die Frauen zerreißen uns. Hast du gesagt. Sag ich auch. Sollen sie.