"Dieses Buch ist eine Sammlung der denkwuerdigen Ereignisse in meinem Leben…. Don Juan machte mir den Vorschlag zu dieser Sammlung denkwuerdiger Ereignisse beilaeufig, als sei ihm die Idee dazu gerade erst gekommen. Das war Don Juans Art zu unterrichten. Er verschleierte die Bedeutung bestimmter Plaene mit dem Gewohnten. Auf diese Weise verdeckte er den Schmerz des Endgueltigen und stellte es in den Zusammenhang mit den Belangen des Alltags. Don Juan machte mir im Laufe der Zeit klar, dass die Schamanen im alten Mexiko diese Sammlung denkwuerdiger Ereignisse fuer ein zuverlaessiges Mittel hielten, um Energievorraete in Bewegung zu setzen, die im Ich vorhanden sind. Sie erklaerten, es handle sich dabei um Energie, die zum Koerper gehoert, die aber durch den Alltag verschoben und unserem Zugriff entzogen wird. So gesehen, war die Sammlung denkwuerdiger Ereignisse fuer Don Juan und die Schamanen seiner Tradition das Mittel, um ihre ungenutzte Energie neu zu verteilen.

Die Voraussetzung fuer diese Sammlung war der ehrliche und alle Kraefte beanspruchende Vorgang, Gefuehle und Erkenntnisse zusammenzustellen, ohne etwas auszusparen. Wie Don Juan erklaerte, waren die Schamanen seiner Tradition davon ueberzeugt, dass die Sammlung denkwuerdiger Ereignisse das fuer die energetische und emotionale Anpassung notwendige Mittel sei, um wahrnehmungsmaessig in das Unbekannte vorzustossen.

Don Juan sagte, das eigentliche Ziel des schamanistischen Wissens, mit dem er sich beschaeftigte, sei die Vorbereitung zu der letzten Wanderung – eine Wanderung, die jeder Mensch am Ende seines Lebens antreten muss. Er sagte, die Schamanen seien durch ihre Disziplin und Entschlossenheit in der Lage, ihr individuelles Bewusstsein und die Aufgabe, die sie sich gestellt haben, nach dem Tod zu bewahren. Fuer sie war der vage, idealistische Zustand, den der moderne Mensch ‚das Leben nach dem Tod nennt‘, ein konkreter Bereich, der voll ausgefuellt ist mit praktischen Dingen einer anderen Ordnung, die sich von den praktischen Dingen des Alltags unterscheiden, jedoch eine aehnlich funktionale Moeglichkeit der Anwendung besitzen. Don Juan vertrat die Ansicht, das Zusammenstellen der denkwuerdigen Ereignisse eines Lebens sei fuer die Schamanen die Vorbereitung ihres Eintritts in jenen konkreten Bereich, den sie das Wirken der Unendlichkeit nennen.

‚Jeder Krieger stellt in Erfuellung seiner Pflicht ein besonderes Album zusammen‘, fuhr er schliesslich fort. ‚Dieses Album zeigt die Persoenlichkeit des Kriegers. Es ist ein Album, das die Umstaende seines Lebens veranschaulicht.‘

‚Mein eigenes Album, das eine kriegerische Tat ist, verlangte eine aeusserst sorgfaeltige Auswahl‘, sagte er. ‚Es ist inzwischen eine lueckenlose Sammlung der unvergesslichen Augenblicke meines Lebens und all dessen, was zu ihnen gefuehrt hat. Es ist eine Konzentration des Wesentlichen, was fuer mich von Bedeutung war und sein wird. Meiner Ansicht nach ist das Album eines Kriegers etwas sehr Konkretes, etwas umwerfend Zutreffendes.‘

‚Ich sollte dich darauf hinweisen, dass es keine leichte Aufgabe ist zu entscheiden, was in dein Album hineingehoert. Aus diesem Grunde habe ich dir gesagt, es ist eine kriegerische Handlung. Du musst dich zehnmal neu erschaffen, um zu wissen, was du fuer das Album auswaehlen sollst.‘

‚Ich wiederhole noch einmal‘, erwiderte er, ‚die Geschichten im Album eines Kriegers sind nicht persoenlich.‘

‚Die denkwuerdigen Ereignisse, die wir suchen, besitzen den Anflug des Unpersoenlichen. Dieser Anflug durchdringt sie. Ich weiss nicht, wie ich es sonst erklaeren koennte.‘

Als ich mit der Geschichte [C.C. erzaehlt D.J. sein Erlebnis aus Florenz, als ihn sein Freund zu einer alternden Prostituierten einlud, deren Spezialit?t der "Tanz vor dem Spiegel" war], die ich Don Juan in den Bergen von Sonora noch einmal erzaehlt hatte, zu Ende war, zitterte ich. Etwas, das ich nicht in Worte fassen konnte, versetzte mich auf geheimnisvolle Weise in eine seltsame innere Erregung.

‚Diese Geschichte‘, sagte Don Juan, ’sollte in dein Album denkw?rdiger Ereignisse aufgenommen werden. Dein Freund hat dir in der Tat, wie er selbst sagte, etwas fuer das ganze Leben gegeben, obwohl er keine Ahnung hatte, was er da tat.‘

‚Fuer mich ist es nur eine traurige Geschichte, Don Juan, mehr nicht‘, erklaerte ich.

‚Es ist in der Tat eine traurige Geschichte, wie uebrigens alle deine Geschichten‘, erwiderte Don Juan. ‚Aber fuer mich unterscheidet sie sich von den anderen und ist denkwuerdig, weil sie jeden Menschen beruehrt und nicht nur dich, wie die anderen Geschichten [die er verworfen hatte]. Verstehst du, jeder von uns, ob jung oder alt, tanzt auf die eine oder andere Weise vor einem Spiegel. Du kannst alles, was du ueber Menschen weisst, zusammenfassen und an alle Menschen auf dieser Erde denken, und du wirst ohne den geringsten Zweifel wissen, ganz gleich, wer jemand ist oder wofuer sich jemand haelt oder was jemand tut, das Ergebnis allen Tuns ist immer dasselbe – ein sinnloser "Tanz vor dem Spiegel"."

Carlos Castaneda, Das Wirken der Unendlichkeit, Frankfurt am Main 1998, S.9 ff

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