Das Verstehen der buddhistischen Lehre der Leerheit ist fuer ein Leben und Sterben mit Realitaetssinn und ohne Angst sehr wichtig. Leerheit bedeutet nicht Nichtexistenz. Sie koennten denken, dass Leerheit gleichbedeutend mit „Nichts“ ist. Doch das ist nicht der Fall. Wovon sind die Phaenomene leer? Ohne ein Verstaendnis von dem, was verneint wird, werden Sie dessen Abwesenheit, die Leerheit, nicht verstehen koennen. Betrachten wird das folgendermassen: Buddha hat oft gesagt, dass alle Phaenomene relativ sind, da sie in Abhaengigkeit entstanden sind, was bedeutet, dass sie in ihrer Existenz von Ursachen, Wirkungen und ihren eigenen Bestandteilen abhaengen. Ihr Koerper beispielsweise existiert nicht unabhaengig. Er haengt vielmehr von einer Vielzahl von Ursachen ab, wie zum Beispiel von einer Ei- und Samenzelle wie auch von Nahrung und Wasser. Der Koerper haengt auch von seinen eigenen Bestandteilen ab – den Beinen, Armen, dem Rumpf und dem Kopf.
Untersuchen Sie einmal, ob Ihr Koerper, der so erscheint, als ob er eigenstaendig und aus sich selbst heraus existierte, von Ihren Armen und Beinen, von Ihrem Rumpf und Ihrem Kopf verschieden oder damit identisch ist. Wenn Ihr Koerper so existierte, wie er erscheint, naemlich greifbar praesent, dann muesste er im Licht der Untersuchung, ob dieser Koerper nun einer seiner einzelnen Bestandteile ist oder ob er die Summe seiner Bestandteile ist oder ob er vollstaendig von diesen Bestandteilen verschieden ist, immer deutlicher hervortreten. Je genauer Sie jedoch untersuchen, desto klarer ist es, dass Ihr Koerper in keiner dieser Moeglichkeiten gefunden wird. Dasselbe trifft auf alle Phaenomene zu. Die Tatsache, dass Sie die Phaenomene im Licht einer solchen Untersuchung nicht finden koennen, bedeutet, dass diese nicht aus eigener Kraft heraus existieren, sie sind nicht aus sich selbst heraus entstanden. Sie existieren nicht inhaerent und unabhaengig, obwohl es genau diesen Anschein hat.
Und dennoch heisst das nicht, dass Lebewesen und Dinge ueberhaupt nicht existieren. Vielmehr existieren sie nicht auf die Art und Weise, in der sie erscheinen, naemlich so greifbar existent. Wenn Sie gruendlich untersuchen und gut meditieren, dann werden Sie die Harmonie zwischen der tatsaechlichen Erscheinung von Personen und Dingen und ihrer Leerheit von inhaerenter Existenz verstehen. Ohne ein solches Verstaendnis scheinen sich Leerheit und Erscheinung gegenseitig zu behindern und auszuschliessen.
Alle Phaenomene – Ursachen und Wirkungen, Handelnde und Handlungen, Gutes und Schlechtes – existieren lediglich konventionell und sind etwas in Abhaengigkeit Entstandenes. Da die Phaenomene fuer ihre Existenz auf anderen Faktoren beruhen, sind sie nicht unabhaengig. Diese Abwesenheit von Unabhaengigkeit, was auch Leerheit von inhaerenter Existenz genannt wird, ist ihre endgueltige Wirklichkeit. Dies zu verstehen, ist Weisheit.
Die Hauptursache fuer Leiden ist Unwissenheit – die faelschliche Auffassung, dass lebende Wesen und unbelebte Objekte inhaerent existieren. Alle fehlerhaften Geisteszustaende haben diesen Fehler als ihre Wurzel. Ein Hauptziel des spirituellen Weges ist es, dieser Unwissenheit entgegenzuwirken und sie mittels der Weisheit zu entfernen. Ein weises Bewusstsein, das in der Wirklichkeit begruendet ist, versteht, dass lebende Wesen und andere Phaenomene nicht unabhaengig voneinander existieren. Das ist die Weisheit der Leerheit.
Eine der eindrucksvollsten und gewinnbringendsten Schriften des Ersten Panchen Lama ist seine Auseinandersetzung mit der Unwissenheit, die vergleichbar ist mit dem achten Kapitel von Shantidevas Eintritt in das Leben zur Erleuchtung, wo sich eine Auseinandersetzung zwischen der Ichbezogenheit und der Naechstenliebe findet. In der Auseinandersetzung mit der Unwissenheit des Ersten Panchen Lama gibt es eine hitzige Debatte zwischen dem unwissenden Missverstaendnis, dass Lebewesen und Objekte inhaerent existieren, und der Weisheit des Entstehens in Abhaengigkeit und der Leerheit. Als ich dieses Buch gelesen habe, wurde mir klar, dass meine Sicht des Mittleren Weges nicht an die hoechste Auffassung heranreichte.
Dank dieser Erlaeuterung habe ich schliesslich erkannt, dass es aeusserst schwierig ist, die lediglich nur nominelle und zugeschriebene Existenz von Personen und Phaenomenen zu postulieren, nachdem man die inhaerente Existenz widerlegt hat. Dies wurde bestaetigt durch einen Vers aus Tsongkhapas grossartiger Darlegung von besonderer Einsicht in seiner Grossen Abhandlung ueber die Stufen des Weges zur Erleuchtung:
Obwohl es fuer Deinen Geist schwierig ist, das Entstehen in Abhaengigkeit von Ursache und Wirkung
Innerhalb der Abwesenheit von inhaerenter Existenz zu postulieren,
Waere es doch wunderbar, Wenn Du Dich auf eine Annaeherung verlaesst,
Indem Du sagst, dass dies das System des Mittleren Weges ist.
Frueher habe ich nicht in Frage gestellt, wie uns Lebewesen und Objekte erscheinen. Ich habe diese Erscheinung unberuehrt gelassen und betrachtete die Verneinung von inhaerenter Existenz als etwas, das sich jenseits von grundsaetzlicher, konventioneller Erscheinung befindet. Durch das Nachdenken ueber die Bedeutung des Textes des Ersten Panchen Lama jedoch entwickelte ich ein neues Verstaendnis. Das laesst sich am besten an der Beobachtung einer Aussage des tibetischen Gelehrten-Yogi Gungtang Koenchok Tenpa Droenma aus dem spaeten achtzehnten und fruehen neunzehnten Jahrhundert verdeutlichen:
Durch die Tatsache, dass die inhaerente Existenz mittels gruendlicher Untersuchung gesucht,
Aber nicht gefunden werden kann, wird die inhaerente Existenz widerlegt.
Die inhaerente Existenz nicht zu finden, negiert dennoch nicht die Grundlage dessen, was gesucht wird,
Und so wird nach den Untersuchungen ein bloss nomineller Rest gesehen.
Er scheint darauf hinzuweisen, dass, abgesehen von der Widerlegung inhaerenter Existenz als Zusatz zu dem Phaenomen, die Erscheinung des Phaenomens selbst nicht negiert wird. In der Tat, das Phaenomen selbst wird nicht widerlegt, aber es scheint, dass hier die karmischen Erscheinungen der Phaenomene in der Art, wie sie uns als durch ihren eigenen Charakter etabliert erscheinen, unangetastet bleiben und dass nur eine zusaetzliche Existenz verneint wird. Und dies ist genau die Sichtweise der unteren der beiden Schulen des Mittleren Weges, der sogenannten autonomen Schule.
Fuer die Anhanger dieser autonomen Schule wuerden Phaenomene, wenn diese endgueltig begruendet waeren, in ihrer eigenen Daseinsweise begruendet sein. Dies wuerde bedeuten, dass sie der hoechsten Weisheit erscheinen muessten. Da aber Phaenomene wie die vier Elemente der hoechsten Weisheit nicht erscheinen, existieren sie nicht endgueltig. Das ist die Sichtweise der autonomen Schule. Es scheint mir, dass es von solch einer Perspektive her, im Gegensatz zum oben zitierten Vers Tsongkhapas ueber die Sichtweise der hoeheren der beiden Schulen des Mittleren Weges, nicht schwierig waere, das Entstehen in Abhaengigkeit von Ursache und Wirkung im Lichte einer solchen Untersuchung zu postulieren.
Die Auseinandersetzung mit der Unwissenheit des Ersten Panchen Lama macht deutlich, dass, wenn uns Formen und Phaenomene erscheinen, sie von Anfang an so erscheinen, als ob sie durch ihr eigenes Wesen begruendet seien, und dass es daher so aussieht, als ob das Phaenomen selbst nicht laenger gueltig sei, wenn diese seine Erscheinung einmal widerlegt ist. Deshalb sagt auch Tsongkhapa, es sei schwierig, das Entstehen in Abhaengigkeit von Ursache und Wirkung innerhalb der Abwesenheit von inhaerenter Existenz zu verstehen. Durch die Hilfe der Auseinandersetzung mit der Unwissenheit des Ersten Panchen Lama habe ich verstanden, dass die Aussage Tsonghkapas korrekt ist. Dieses Buch war wirklich sehr hilfreich.
Die Erkenntnis, dass sie nicht inhaerent existieren (durch die Begruendung, dass Sie weder einer noch viele, dass Sie weder singulaer noch plural sind und indem Sie diese Sichtweise dann aufrecht erhalten), entzieht – ein wenig – der Unwissenheit den Boden, die sich die inhaerente Existenz denkt und vorstellt. Diese Erkenntnis ueberwindet jedoch nicht vollstaendig die begriffliche Auffassung von inhaerenter Existenz, die in Bezug auf Sie selber immer noch bestehen bleibt. Warum? Weil ein konventionelles, inhaerent existierendes „Ich“ fuer dieses Bewusstsein bestehen bleibt. Sobald dieses „Ich“ erscheint, erscheint zusammen mit diesem „Ich“ die inhaerente Existenz, die widerlegt werden muss. Notwendig ist daher die Erkenntnis, dass dieses „Ich“, das beim Beobachten des Geistes und des Koerpers erscheint, nicht existiert. Dieses „Ich“ existiert nicht. Der Erste Panchen Lama sagt:
„Widerlege nur die wahrhaftige Existenz
Des „Ich“, das erscheint, wenn der Geist und der Koerper beobachtet werden,
Und mache dann genau diese Abwesenheit zum Objekt
Deiner Aufmerksamkeit,
Mit deutlichem Erscheinen und ohne seine Kraft abnehmen zu lassen.“
Wenn man auf diese Art und Weise meditiert – so die Aussage des Ersten Panchen Lama – wird der begrifflichen Auffassung von inhaerenter Existenz der Boden entzogen. Das hat mir sehr geholfen.
[Zitiert aus]