Das Flüstern der Nacht
Am Flughafen von Iquitos werde ich abgeholt. Wolfgang wartet da, ein vertrautes Bild mit seiner weissen Babywindel am Kopf, die er als Schutz vor der Sonne umgebunden hat, weisses Shirt, kurzer Hose und Lederstiefel, am Gürtel ein Handtuch. Wir fahren mit dem Motorcar zum Hafen und mit dem Schnellboot am Amazonas flussaufwärts nach Tamshiyacu. Jede Hütte und jeden Baum erkenne ich wieder, denn diese Reise mache ich jetzt zum 9. Mal. Ich freue mich, bald bin ich im Dschungel. Kurze Rast im Haus, dann Aufbruch in den Dschungel. In Begleitung gehe wir auf verschlungenen Wegen meinem Ziel entgegen, “Otorongo “. Dieses Mal ist es ein schwieriger Weg, mit Schmerzen verbunden, doch Dona Eugenia ist geduldig, der Wächter gibt mir Stöcke, und ein guter Bekannter unterstützt mich auch, so der Weg für mich leichter wird. Endlich lichtet sich der Regenwald. Ich gehe durch das Tor in eine andere magische Welt, angekommen bin ich überwältigt, meine Knie werden weich, Vögel Geschrei, Geschnatter, Gezirpe, Gesurre, nur Dschungel rund um mich, alles ist mir so vertraut. Im Zentrum der mächtige Tempel, er hat sich nicht verändert in all den Jahren und in Abständen auf kurzen Pfählen stehen Holzhäuser die Dächer mit Palmblättern gedeckt, es fühlt sich wie nach Hause kommen an. Ich spüre die Magie die hier überall allgegenwärtig ist, sie heisst mich willkommen und hüllt mich ein. Mein erster Gedanke, ich bin wieder hier, träum ich? das letzte Stück des Weges führt mich in meinen einfachen Bungalow, mich umzuziehen um in den Teich baden zu gehen. Die Schildkröten sitzen auf ihrem Strand und flüchten nicht vor mir. Ich bin angekommen. Tränen der Freude und Erleichterung lösen sich. Jetzt lebe ich also teilweise wieder hier und es kommt mir vor wie ein Traum, oder ist das zurückliegende Leben das Geträumte? Bin ich ganz bei mir, ganz in meinem Leben, in meiner Bestimmung in meiner Sehnsucht? wonach? Aber genau das habe ich immer geträumt und auch gewollt. Ich lebe in einer einfachen Holzhütte, ohne Wasser, ohne Strom, mit allen Wesenheiten die auch hier spürbar und anwesend sind. Als ob ich mich in die Natur hinein schmiegen könnte, die mir all die Jahrzehnte meines Stadtlebens so sehr gefehlt hat. Ich geniesse die Nähe zur Natur, dabei wird mir auch bewusst ich habe Angst. Angst vor dem endgültigen Schritt, mein Leben in meinem Ort wo ich lebe zu beenden, alles aufzugeben, um mich hier in Peru neu zu entfalten, das nur von meiner Sehnsucht getragen wird. Einer Sehnsucht die ich aber leben möchte. Inzwischen ist es späte Nacht, ich liege im Bett in meiner Hütte, der Vollmond zeichnet Muster auf die Holzwände ich verliere mich darin, der Wind spielt mit dem Moskitonetz. Ich höre das nächtliche Zirpen der Grillen, den nächtlichen Ruf des Käuzchens, das Flüstern der Blätter, der Vollmond beleuchtet den nächtlichen Himmel, und hüllt diesen Ort in ein magisches Licht. ich spüre nichts was draussen vor sich geht, obwohl der Regen unaufhörlich mit Wucht nieder prasselt. Ich hülle mich noch fester in meine Decke ein. Ich bin hier nicht auf Abenteuerurlaub, nicht auf Entdeckungsreise, und nicht auf einen kurzfristigen Urlaub. Ich bin hier um ein neues Leben anzufangen, mir darüber im Klaren zu werden ob ich das will. Ich bin mitten im Regenwald das ist Realität. Wenn ich könnte würde ich noch einmal ein paar Stationen meines Lebens zurück laufen, ich habe Angst vor mir selbst. Führt mich überhaupt ein Weg zurück? Ich fühle das ich zwischen zwei völlig verschiedenen Welten hin und her fliege, aber noch brauche ich beides. Erschöpft schlafe ich ein, gebe mich den Träumen hin.
Am nächsten Morgen nehme ich ein erfrischendes Bad im Teich, danach gibt es gutes Frühstück, Früchte und was sonst das Herz begehrt. Die Hängematte ist mein nächstes Ziel, vor meinen Augen der Teich und die wunderschöne riesige Agave. Die Sonne spiegelt sich im Wasser und ich schaukle in der Hängematte und lasse mein Leben Revue passieren. Ich habe zwei wunderbare Töchter, Schwiegersöhne, Enkelkinder, eine lange Ehe, das bedeutete ein grosses Stück meines Lebens mit meiner Familie gemeinsam gegangen zu sein. Was will ich mehr? Trotz alledem ist tief drinnen in mir eine Unruhe. Was ist es was sich hier zeigen will? Ich habe schon so viel verändert in meinem Leben, so viel losgelassen, ich habe mich von allem aus meiner Vergangenheit getrennt. Ich mag dieses Unruhe Gefühl nicht besonders. Heute bin ich in einem Alter wo man immerhin wissen sollte wo es langgeht, Tage wo man definitiv nicht mehr jung ist. Das letzte Lebensdrittel liegt vor mir, was kann ich jetzt noch bewirken. Wolfgang ermutigt und unterstützt mich tatkräftig, damit ich meinen Lebensabend hier verbringen kann. Man muss die eigenen Ängste, Zweifel, Gewohnheiten gehen lassen auch die Gedanken, um zu lernen im Jetzt zu leben. Das eigene Glück verdienen bedeutet nichts anderes, als das eigene Glück erkennen! Man muss loslassen können, nur dann ist das Herz und die Hände frei für etwas Neues. Die Madre ist bei mir, sie zeigt mir den Weg und wählt auch den richtigen Zeitpunkt.
Juni 2019
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Ach, dieses Flüstern
Die Nächte, wie wohltuend sie auch in ihrer Stille (besonders im Wald) sein mögen, tragen doch bisweilen quälende Dichte in sich. Es ist die Dichte des schlechten Gewissens, des Ahnens, wie weit man im Rückstand ist gegenüber den eigenen Vorhaben, den eigenen Idealen. Es ist das Gewahrwerden körperlicher Schwäche, der Selbstschädigung, der Inkonsequenz, der Langsamkeit. Es ist eine Zeit des Haderns. Gut, daß wir alleine sind in diesem Moment. Deutliche Mattigkeit überfällt uns, eine Art Lähmung. Wir spüren, Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit machen sich, warum auch immer, breit. Ja, warum auch immer? Doch wir wissen nur allzu genau, warum. Es gibt eine Vielzahl unbeglichener Rechnungen, doch die dräuendste Baustelle ist mein ewiges Vor mir selbst Fliehen. Ich mache immer noch nicht ernst. Immer noch verplempere ich meine Zeit. Es wäre eigentlich höchste Zeit, wieder in Diät zu gehen. Allein, was hindert micht? Was sträubt sich da in mir? Dieses Biest, das immer noch zettert: „Ich will von nichts wissen und nichts hören.“ Ich will meine Ruhe und sonst nichts. Ich brauche meine Ruhe. Sieht denn das keiner? Nur allzu berechtigt ist mein Wunsch. Ich stehe doch jeden Tag im Sturm der Anfeindung, im Sturm der Dummheit, die mich ankeift. Ich komme einfach nicht dazu, meine Ausgangsposition zu definieren. Ich komme, um es plakativ auszudrücken, einfach nicht dazu, einmal gehörig durchzuatmen. Die Störenfriede zwitschern um mich herum und flüstern mir allen Unsinn ein. Wann hat dies einmal ein Ende?
Da kommt uns ein Engel zu Hilfe. Ein Mensch, der nicht weiß, daß er uns in dieser Not gerade recht kommt. Er flößt uns mit seinem rechtschaffenen, einfachen Wort Mut und Stärke ein. „Ich muß mir einfach eine Auszeit gönnen. Anders komme ich nicht zurecht. Wie denn anders?“ Sieh an, an diesem Wort könnte was Wahres sein! Auszeit, am besten gleich auch noch ohne Essen. Zumindest für den ersten Tag. Ein Tag ohne Zwang zur Rechtfertigung. Wann nur gerate ich in diesen heilvollen Zustand? Keine Rechtfertigung mehr! Kein Gedanke an Rechtfertigung, gegenüber nichts und niemandem. Das wäre mein Ideal. Fangen wir wieder einmal bei eigener Zerzaustheit an. Alle Arbeitspapiere sind mittlerweile zerrissen. Heute beginne ich ohne Konzept. Schauen wir mal, ob ich durchhalte. Heute mal gar nichts. Kein Essen, kein Surfen, vielleicht ein bißchen Schreiben. Und Schlafen. Damit sollte ich durchkommen. Mein Denken wird sowieso galoppieren, was soll`s? Irgendwann wird sich das Chaos legen. Auch das Chaos schleift sich aus, wenn nicht nachgefeuert wird. Also: Rückzug. Keine Nachrichten, kein Reden, gar nichts. Und kein Essen. Mal sehen, was sich dann in mir ändert. Vielleicht finde ich die ersehnte Ernsthaftigkeit. Vielleicht lassen die Schmerzen nach. Vor der ewigen Selbstgeißelung graut mir nur mehr. Von Frieden will ich nichts hören. Nicht von jenem Frieden, den sie alle in ihrem Maul herumführen wie einen Giftdorn. Ich suche nur … Klarheit. Verstehen. Ehrlichkeit. Qualvoll genug. Darf ich mir die Hütte aussuchen? Das Wichtigste: Eine gute Matratze. Ist das zu wünschen erlaubt?
Von Drachenliebhabern und Drachentötern
Hat da jemand, einer, der sich „Freund“ nennt, mir geschrieben, ich wäre ein Erfinder? Hat da jemand mir geschrieben, ich wäre ein Monomane? Ich muß mich geirrt haben! Morddrohungen flatterten mir im Unterschied zu Freund Ron bislang glücklicherweise noch nicht ins Haus, doch von „Hexerei“, so weissagte es mir die heiligmäßig betende Eugenia, müsse ich ausgehen, egal, ob die Plastiktüten mit Kot auf dem Blechdach direkt unter meinem Schlafzimmerfenster mir oder meiner Gattin, der Bürgermeisterkandidatin, gelten, ausnahmslos – dies das Frappierende – von Frauenseite ausgehend. Auftragsmord wurde bislang noch nicht betrieben, auch nicht von den kolumbianischen Cocaleros, die mich zwischenzeitlich gut kennen. Auftragsdiebstahl hingegen schon. Gut, das war in den Anfangsjahren. Dem Rasen des galoppierenden Irrsinns (nicht dasselbe wie Wahnsinn) und der aufgekündigten Freundschaften wie auch der Liebe (die keine war) sind eben keine Hindernisse in den Weg gesetzt. Dieses selbstgerechte, schimpfende, spottende und anschuldigende Irren rennt eben alles nieder. Dieses Feuerroß kennt kein Sträuben und keine Peitschenhiebe. Früher hätte mich das alles noch maßlos geärgert (gefährlich!) und mir schlußendlich so wie David Peterson ein „Derráme cerebral“ mit nachfolgendem Koma beschert. Doch dafür kam die himmlische Medizin, die Mutter Erde in ihrem Schoß, ihrem Wald, bereit hält, immer zeitgerecht dazwischen. Agustin klärte mich, indem er vor mittlerweile bereits wieder vier Jahren bei einer Madre-Sondereinladung auf seines Sohnes geliehenem Grund in einem ganz ungezwungen tête-à-tête davon zu sprechen anhob, vollständig mit wenigen Worten auf. „Ich habe mir nie auch nur von irgend jemandem etwas sagen lassen. Ich war viel zu stolz dafür und war von jung auf der unverrüttbaren Überzeugung, ich wüßte alles besser. Deshalb diese störenden Manieren meines Sohnes. Ich war die Verkörperung des Jähzorns. Schade. Von wo ich den her habe, ist mir schleierhaft, sicher aber hatte auch der Teufel bei meiner Zeugung die Hand mit im Spiel. Daß meine Mutter in mir weiterleben wollte, spricht doch Bände. Du verstehst mich. Ich ging allein in den Wald, in die Berge. Ich erarbeitete mir alles selbst, das kleinste Detail. Ich bin kein Gesellschaftsmensch. Ich wirke nur so, weil ich mich zu benehmen weiß. Und es bereitet mir Vergnügen, die Menschen in meiner Umgebung hinters Licht zu führen. Tief im Inneren wußte ich immer schon, was das todbringende Chaos ringsum mir abfordert. Die völlige Freiheit, die völlige Losgelöstheit. Das ist es doch, was du an mir beobachtest, ohne es mir um den Bart zu schmieren, oder? Ich schaue mir alles unter der Lupe an. In eine meiner Barrítas habe ich eine Lupe eingepaßt. Du hast sie ja schon gesehen und für gut befunden. Du brauchst mir nichts zu erzählen, Doktor. La Madre hat mir alles zu dir gesagt, was ich wissen muß. Und ich habe dir alles gezeigt, was du von meiner Seite wissen mußtest. Du weißt alles zu mir. Wer, wenn nicht du? Deshalb werde ich jetzt, da ich schon wieder am Ende bin, deinen Mapacho nicht zu Ende rauche. Ihn mir anzuzünden war ein Gebot der Höflichkeit.“ So sprach mein Lehrmeister, der, dem ich im Prinzip alles verdanke. Die Medizin lehrt uns alles. Ich kann sagen, die Medizin ist alles. Sie ist nicht brutal. Sie ist nur hart, oder besser, sie ist unnachgiebig. Sie quält nicht, doch sie erspart uns auch nichts. Wie denn auch? Unmöglich! Die Härte des Griffes der Medizin, egal ob in Diät oder außerhalb, kommt, wie Agustin zurecht immer nuschelte, einer Folter gleich. Die Folter ist nicht eine Prozedur, die ein Geständnis erzwingen will, nein, der Zwang ist ein anderer: Es ist die körperliche, und erst recht die verstandesmäßige unveränderbare Einzwängung in die Entblößung eines Kausalzusammenhanges all unserer Verfehlungen, unserer Schwächen, unserer Defekte. Die Medizin entblößt, beispielsweise, nicht nur unsere Bereitschaft zur Lüge, nein, sie nimmt ebenso auch unsere Gier aufs Korn. Diese erst recht. Wie wirkt sich meine Gier aus, von wo kommt sie her, was will sie? Noch schwieriger ist es mit dem Haß, erst recht mit dem religiös verbrämten. Ja, im Haß kann sehr wohl ein religiöses Element mitschwingen, eines, das mich, sobald ich es an Anderen wahrnehme (oder mir einbilde, es direkt wahrzunehmen), maßlos ärgert. Der Haß am Beginn unserer Existenz. Sehr wohl, ja! Der Haß am Beginn unserer Existenz. Was für eine Hypothek. So wie die Lust am Beginn unserer Existenz. Dieser durch und durch fleischliche Trieb, der uns zu den gröbsten Untaten haltloser Lust befähigt. Bis hin, daß wir in unserer Dschungelhütte, weil wir doch nie und nimmer anders könnten, orgiastisch schreien, gemeinsam, mitten am helllichten Tag, wir, die Heroinsüchtigen. Die Medizin treibt uns dorthin, und sie erspart uns nichts, auch nicht das Zeuge-Werden. „Dort drüben siehst du zwei Frauen im Gespräch“, murmelt sie, la madre, mit größter Ruhe, während ich an der Kirche vorbeifahre. „Beide sind, wenn du so willst, Witwen, sogar mehrfache Witwen. Beide hatten einen Geliebten. Die Geliebten, die beiden Männer, kannten einander sehr gut. Du weißt, von wem ich spreche. Die beiden Frauen da drüben an der Treppe zur Kirche sprechen über das Leben und die Lust. Sie sprechen schweigend darüber. Sie bereuen nichts. Die beiden Frauen sprechen von ihrer Beeindrucktheit, von ihren Erinnerungen an die Macht der Lust. Sie gestehen ohne Umschweife, denn an dem, was geschah, ändert auch der Tod nichts.“ So spricht Mutter Ayahuasca. Sie ist die Professorin. Sie spricht alles an, und ich gestatte es mir, ihr dafür ehrlich, still und schweigend zu danken, beinahe jeden Tag, solange ich nicht aufs Danken vergesse. Die Gottesmutter nickt nur. Und die eigene tote Mutter hört nur den Worten des Engels zu. Sie weiß sich eingebunden in das Gesetz der Ewigkeit, die sich seinerseits vom Urwort durchtränkt weiß. Das sind die Emanationen des Gesetzes, das sich seiner selbst bewußt ist. Das war der Beginn des Glaubens meiner toten Mutter: zu wissen, daß Gott Vater ist, eine Person ist. Das sagte sie mir klar und deutlich, an einem stillen Vormittag, als Zeit dafür war. Ein übervolles Herz, an dem all jene, die von Schuld und Notwendigkeit zur Buße im Fegefeuer schimpfen, nichts ändern werden.
Eine Schärfe der Aufmerksamkeit sondergleichen macht sich unter dem Einfluß der gottgeschenkten Medizin breit, durchzieht mit freundlicher, doch niemals nachlassendem Wahrheitssinn unser Leben von früh bis spät. Die Medizin stellt uns Fragen. Fragen von unschätzbarem Wert.
Ayaymáma, Ayaymáma…
Es ist helle Mondnacht. Es gespenstert. Der Sohn, der einen Tag zuvor das Jaguarweibchen aus vielleicht 10 Metern Nähe direkt hinter dem Stacheldrahtzaun böse knurren gehört hatte, liegt bereits im Bett, als das Jaguarjunge wie ein fremdes mondsüchtiges Wesen extatisch zu schreien beginnt, es ist ein Fauchen und Fiepen zugleich, doch noch mehr wie Wolfsheulen. Der Moment ist jenseitig. Die gesamte Parklandschaft von Otorongo ist in helles Samtlicht getaucht, so als fände heute Nacht eine Konferenz von Elfen statt. Schlußendlich verstummt das Junge. Nur wenig später meldet sich der Ochsenfrosch zu Wort, er, der Einsame, dessen Quaken mit Macht hunderte Meter durch den Urwald schallt. Er ruft alleine. Nichts und niemand antwortet. Der Ochsenfrosch ist eine Autorität. Niemand mag ihn stören, wenn er mit seinem Lautgeben anhebt. Es hollert. Die Waldformation wirkt wie ein Schalltrichter, der den Ruf verstärkt. Das resonanzstarke Quaken wirkt wie ein Anrufen des Menschen. Die Kröte will sich uns, den Menschen, gegenständlich zeigen. Sie weist auf sich hin. Auf sich ganz allein. Doch da ist schon wieder Ruhe, eigenartig, so kurz nur? und du bleibst sinnend und nachsinnend, nachhörend, wach im Bett zurück. Alles ist heilig, alles magisch, alles einzigartig. Da meldet sich das Waldkäuzchen mit seinem segensreichen Tuten. Hat nicht gerade es gefehlt zur Vervollständigung dieses einzigartigen Sonntags? Das war doch der Gedanke grad zuvor! Wir sind alleine in der Hütte und im gesamten Areal. Der Junge ist von massivem Jagdinstinkt durchtränkt, doch heute will er nur hören, verborgen in seiner Koje. Auch die Fledermäuse lassen ihn in Ruhe. Ich liege derweilen oben, mucksmäuschenstill. Und da hebt er an, der eine Vogel, um den sich alle Legenden ranken, der Ayaymáma, der Außerirdische, denn niemand zu Gesicht bekommen vermag, und wenn, dann nur unerwartet, so als ob man über ihn an einem alten, vermodernden Baumstunk unbeholfen plump stolpern würde, sosehr ist dieser einzigartige seltsame Vogel, der seine leuchtend gelben, übergroßen Augen untertags zumeist geschlossen zu halten pflegt, getarnt. Da ruft er doch wirklich! Und wie er ruft! Eindringlich. Wie ein Gottgesandter. Das Vogel gewordene, von seiner Mutter mitten im tiefen Wald verlassene, überängstliche Geschwisterpaar, das von einer barmherzigen Fee in einen Vogel verwandelt wird, dem der Ruf der Trauer der beiden Kinder, Hänsel und Gretel, beibelassen wird, „Ach Mutter, ach Mutter, warum hast du uns dies angetan?“ Die Mutter, die sich somit damals, in ferner Zeit (die Epoche ist unmöglich zu bestimmen), wegen ihres neuen Liebhabers entschlossen hatte, ihre nunmehr ungeduldeten Kinder (wie so unzählig viele andere der heutigen Zeit; der heutigen Unzeit) auszusetzen, mitten im tiefen Wald, unter einem Vorwand. So die Legende. Und heute ist er hier bei uns, der Segensreiche. Er hört nicht auf zu rufen. Salomon außer sich: „Hörst du ihn, Papa? Noch nie habe ich ihn so klar und lange rufen gehört! Das ist er doch! Welche Magie! Was für eine Nacht!“ Der Vogel hält inne. Beide denken wir, das also war das große Geschenk. In diesem Moment geschieht ein Wunder. Der Ayaymáma kommt geflogen. Wir Hören das rauschende Flappen seiner Flügel. Es muß ein großes Exemplar sein. Eigentlich ein übergroßes. Es ist unglaublich. Und der Vogel meldet noch dazu im Fliegen. Völlig uncharakteristisch. Einzigartig. Unbekannt. Er zieht seine Kreise rund um den Tempel, mehrmals, wie um selbst den verstocktesten und begriffsstützigsten Tölpel darauf aufmerksam zu machen, daß er wegen uns gekommen ist, als Segenserweisung der großen Majestät, oder vielleicht ist es der Herr des Waldes selbst, er, Yushin, der uns (der Aushilfsköchin Elsbetha vor 6 Jahren) doch höchstpersönlich und unleugbar klar machte, er könne sich in jedes Tier seiner Vorliebe verwandeln. Wenn der Regent des Waldes sich schon diese Mühe macht, uns Einfältige und Selbstgefällige über eine zerrissene, untreue Mittelsfrau diese Botschaft zukommen zu lassen, wie wollen wir uns dann noch wundern, wenn er sein Wort hält und uns seine nächtliche Aufwartung macht? Aufwartung aus unverdienter Gnade. Da fliegt er, der magische Ayaymáma. Da zieht er seine Kreise. Ein akustisches, unvergeßliches Schaustück für die Ewigkeit. Das also ist der Himmelsbote. Das ist der eine und wahre Gesandte, der uns imprägniert für die Ewigkeit, an Ort und Stelle, der Hütte im Kloster. Und dann ist er fort. Und Brigitta am nächsten Morgen ist sprachlos. Ihre Augen glänzen feucht. Natürlich hat sie es gehört. Sie hört ja alles, seit sie gelernt hat, am Wochenende alleine und furchtlos Wache zu schieben. Und wir? Wir stellen dem Dorf den Strom ab. Dem Dorf und der Welt. Auf daß wieder majestätische Stille einkehre wie zu jener Zeit, als alle Lärmmaschinen noch nicht erfunden waren und auf den Weltmeeren nur das Singen der Wale zu hören war, über 10.000 Kilometer hinweg, und Adalbert Stifter, der Böhmerwaldliebhaber, zurecht seinen Buchtitel formulieren konnte: „Und über allen Wipfeln ist Ruh’…“ Und nur ein paar Segensreichen ist das Vorrecht zugesprochen, ihr Lied des Lebens mit eigener Stimme inmitten dieser grenzenlosen, heiligen Stille anzustimmen.