Das Grauen des Cho Sung-Hui
"Haette ich die Verbrechen der ganzen Welt begangen, behielte ich immer noch dasselbe Vertrauen…", zitiert Schwester Benedicta de la Cruz ihre vorangegangene Kollegin, die kleine Schwester Therese von Lisieux. Diese Passage gibt dem Verfasser den noetigen Mut, sich dem Rasenden von Blacksburg zu naehern.
Was fuer ein Name: Schwarze Burg. Schwester Benedicta spricht von einer Burg, um die die Stoerenfriede und immerhin auch der Daemon herumkreisen. Unserer Burg. In das innerste Zimmer, das Heilige, haetten nur Gott und wir selbst Zutritt. Niemand sonst.
Die Technische Hochschule von Blacksburg gleicht einer Trotzburg. Dicke Steinquader, spaltlos verfugt, wie jene der Inka. Die Bildungsstaette, in der das Morden stattfand, hat Aehnlichkeit mit einer Staatsbank, in der die Goldvorraete der Nation liegen. Als Bildungsstaette wirkt sie beklemmend. Die Eingangstuer aus schwerem Gusseisen. Alles Sinnbilder des Autoritarismus.
Der 23-jaehrige Student kommt als 8-Jaehriger mit seinen Eltern aus Suedkorea in die Vereinigten Staaten und lebt fortan in einem Armenvorort von Washington D.C.. Es wird berichtet, die Eltern seien "Musterimmigranten" gewesen, bereit, ueberall Hand anzulegen. Arbeitsame Leute, die zu Wohlstand gelangen wollten. Seine Schwester Cho Sun-Kyung sagt heute ueber ihren Bruder: "Das ist jemand, mit dem ich aufgewachsen bin und den ich geliebt habe. Und nun bemerke ich, dass ich diese Person nicht gekannt habe."
Im Vermaechtnis des Gestorbenen verdeutlicht er immer wieder seinen Hass auf die Ignoranz des Establishments, dessen Hochmut. Wir, die einstweilen Ueberlebenden, tun gut daran, das Vermaechtnis ernst zu nehmen, auch wenn die Stellungnahmen der Behoerden und Fachleute dieses Konvolut zunaechst einmal verharmlosen, indem sie es als pathologische Auswuerfe qualifizieren, oder sie verschweigen es ueberhaupt. Aber eines ist auf Anhieb klar (allen insbesondere, die im Sicherheitsabstand nicht im Geruch der Brandfackel stehen), was hier passierte, war kein Einzelfall und wird kein Einzelfall bleiben. Es ist nur eine Frage der Betrachtungsspanne. Aber in den USA brennt es langsam lichterloh. 211 Millionen Handfeuerwaffen in Privathaushalten. Eine autoritaere, durch Wahlmanipulation an die Macht gelangte Staatsfuehrung, die das demokratische Lager verschreckt, und die Geheimdienstapparate von erschreckender Groesse und Macht unterhaelt, deren militaerisch-expansionistischer Zweig nur ein Symptom der Allmachtsphantasie ist.
Die Krankheit erfasst die Kinder. Ueberall wird es gesagt, auch in diesem Forum. Gestern erschoss sich in Huntersville, North Carolina, ein 16-Jaehriger, nachdem er zuvor 2 Kommilitonen der North Mecklenburg Highscool mit seinem Revolver bedroht hatte. Wenn ich das Internetbuero unseres Dschungeldorfes betrete, sehe ich die Kinderscharen, die sich um den "Max-Payne-Spezialisten" Freddy scharen, auf seinen schiesswuetigen Wegen durch das mit Feinden gespickte industrielle Labyrinth, solange, bis er durch Unaufmerksamkeit selbst erlegt wird. "Dale un balazo!", fordert Freddy seinen unerfahrenen Freund auf. "Verpass ihm eine Kugel!"
Was von Cho Seung-Hui bleibt, ist nicht wenig. Koerperlich wird er seine Ruhe nicht in der Erde finden. Die gerichtsmedizinische Obduktion, ohne etwas zu finden, wird nicht viel von ihm uebrig gelassen haben. Die Reste seines Koerpers werden seine verschreckten Eltern bereits eingeaeschert haben lassen. "Wir durchleben einen Albtraum. Wir fuehlen uns verzweifelt, hilflos und verloren."
Der grosse Irrtum der Behoerden, also jener, die das Normdenken verkoerpern bzw. zu verkoerpern haben, besteht darin, zu meinen, das Erbe sei gering. Der Erste, der sich zu Wort meldet, ist der Sprecher des Obduktionsteams. 4 Pathologen obduzieren 34 Leichen 4 Tage lang. Er erklaert, die biochemischen Befunde des Attentaeters wuerden fruehestens in 2 Wochen zur Verfuegung stehen. Der Chefarzt der lokalen psychiatrischen Vereinigung erklaert, eine biochemische Defizienz lasse sich an einem Toten nicht feststellen, erst recht nicht eine solche, die diese Tat auf biologischem Wege erklaeren koenne. Etwas Anderes waere es, haette Cho an einem Gehirntumor gelitten. Aus diesen Stellungnahmen im aufgeheizten Klima wird klar, dass die Pretendenten der Wissenschaft sehr wohl den Erklaerungsnotstand antizipieren und ein Interesse hegen, den Sachverhalt zu klaeren. Aber es bleiben behavioristische Ansaetze, politisch legitimierte. Die psychologischen, die von frustrierter Liebe und Einsamkeit sprechen, folgen nach, bereits mit weniger Kraft. Die soziologischen erhalten in der Regel kein Gehoer.
Gehoer verschaffen sich die Artikel der Presse. Der oesterreichische "Standard", der die Schiene der frustrierte Liebe aufgreift, schreibt im Brustton der Ueberzeugung: "… ein konkreter Anlass, der die Verbitterung, die schon seit seiner Kindheit in dem Suedkoreaner gesteckt haben muss, auf die Spitze trieb."
Aber wenn wir, die Leser und die Verantwortlichen, ueber diesen Albtraum meditieren wollen, dann vor faktuellen Hintergruenden: Wir erleben eine Serie von Massakern an Schulen (auch in Europa), und es steht zu fuerchten, dass es nicht das letzte gewesen sein wird. Unter den Opfern war ein Aegypter, ein Peruaner und ein Suedkoreaner. Das suedkoreanische Aussenministerium tritt zu einer Krisensitzung zusammen. Es werden wirtschaftliche Repressionen aus dem Prinzip der Kollektivhaftung heraus befuerchtet. Der scheidende franzoesische Staatspraesident, ein veritabler "Homme de grandeur", gehoert zu den ersten Kondolenzbezeugern. Sein amerikanischer Kollege installiert eine Untersuchungskommission, um "weitere solche Vorfaelle zu verhindern." Um diesem von der "Oeffentlichkeit" geforderten Wunsch zum Erfolg zu verhelfen, muessten sie sich aber Zugang zu den Jugendlichen verschaffen. Doch die sind abgeschnitten. "Ihr hattet Milliarden von Gelegenheiten, diese Tat zu verhindern", spricht der Attentaeter auf seinem Videoband. "An euren Haenden klebt Blut, das nicht abgewaschen werden kann." Gestatten Sie mir, dass ich es wiederhole: Das ist nicht irreales Gerede eines Wahnsinnigen. Es ist Ausdruck von Erlittenem. Wir gestatten es uns nur nicht, den Blickwinkel zu wechseln. Mit dem Tod und der physischen Zerstueckelung des Rasenden endet nicht sein Wort. Wollten wir es verharmlosen, haetten wir bereits die Saat ausgestreut. Genug Jugendliche haben seine Botschaft vernommen. Und es gibt in der Zahl immer mehr arme, verzagte und orientierungslose Jugendliche als jene, die in allen Facetten privilegiert sind, – auf diesem Planeten.
Seiner Botschaft antworten sie posthum, noch am Campus: "I hope, that if i ever meet anyone like you, i will have the courage and strength to reach out and change his or her life for the better. I hope your familiy is able to get through the misery they are in because of you… " Eine Andere: "Du sollst nur wissen, dass ich nicht boese auf dich bin. Es tut mir so leid, dass du nicht Hilfe oder Trost finden konntest."
Wie sagte gestern Schwester Benedicta vom Kreuz im Zitat? "… denn ich weiss gut, dass diese grosse Zahl an Vergehen ein Wassertropfen sind in seiner Feuersglut [der Liebe Christi]." An wen richten sich somit die Studentinnen? An ihn, an Cho Sung-Hui. Aber wir, die Ueberlebenden, wir lesen die Botschaft. Die Botschaft richtet sich eigentlich an uns. Den Sung-Hui, nunmehr koerperloser Geist, braucht keine schriftlichen Botschaften. Wer muss mit dem Erbe leben, wenn nicht wir, die Ueberlebenden? Wer von uns fordert goettliches Recht, das an der Seele des Verstorbenen Rache uebe? Wer von uns fordert ewige Verdammnis, ewiges Feuer? Wer? Stehen Sie auf, wenn Sie es tun! Der Leichnam ist zerstueckelt, ja wahrscheinlich schon verbrannt. Was brennt, ist das Wort. Die Erinnerung. Denn es ist immer die Erinnerung, die den Albtraum gebiert. Also gehen wir hinein, durchschreiten die Pforte der Hoelle, hier auf Erden. Nur so erreicht uns der Lichtstrahl des Heils.
Cho Sung-Hui toetet zwei Studentinnen und faehrt zum Postamt, wo er sein Vermaechtnis an NBC abschickt. Dann, zweieinhalb Stunden spaeter, betritt er die Festung des Technologischen Instituts, erschiesst 25 weitere Studenten und 6 Dozenten, wahrscheinlich alle in benachbarten Hoersaelen oder gar in einem einzigen. Er schiesst bis zu acht Mal auf jeden einzelnen der bereits Toten, vorzugsweise in den Kopf, verunstaltet sie auf diese Weise. Ein hassentladendes Ritual. Die Getoeteten werden unkenntlich, lassen sich erst an den Fingerabdruecken identifizieren. Viele Leichen weisen Verletzungen auf, die in Abwehrbewegungen entstanden sind. Die Opfer attackieren den Attentaeter nicht. Er schiesst mit 2 Pistolen, muss die Magazine auswechseln. Niemand faellt ihm in den Arm.
Der 76-jaehrige Liviu Librescu, rumaenischer Holocaust-Ueberlebender und Dozent am Technologikum, verriegelt mit seinem Koerper, die Arme ausgespreizt, die Tuer zu seinem Hoersaal. 20 Studenten springen waehrenddessen aus den Fenstern ins Freie. Der Attentaeter schiesst mehrmals durch die geschlossene Tuer. Der schuetzende Vater, Grossvater der Jugend, haucht im Blut seinen Atem aus. Der rumaenische Staatspraesident verleiht diesem beispielhaften Mann, Liviu Librescu, posthum die hoechste Medaille.
Als alle niedergestreckt sind, haelt der Attentaeter inne, atmet durch. Wenn er nichts dachte in diesem Moment, so sah er es zumindest. Dann richtet er die Muendung in seinen Mund.
211 Millionen Handfeuerwaffen in den Vereinigten Staaten. Am Wochenende der Trauer finden landesweit 12 Verkaufsveranstaltungen fuer Waffen statt. Ein Waffenhaendler in Phoenix erklaert, ein Massaker fuehre zu vermehrtem Verkauf und erlaube es, die Preise anzuheben. 211 Millionen Waffen in Privathaushalten. 211 Millionen Mal Schiessuebungen. 211 Millionen Mal die Vorstellung, wie werde ich die Waffe bedienen, wenn ich ueberfallen werde. Die Vorstellung gewinnt Eigendynamik, spaeter wird die Ehefrau oder ein Privatfeind miteinbezogen. Das ist es doch, das faktuelle "Gewaltpotential". Faktisches Potential. Faktische Gewalt, die ausbrechen kann. 211 Millionen Waffen, die dem Staatsbuerger 211 Millionen Kontrollakte abverlangen. Vielleicht sind es 10 Mal so viel. Jede kochende Wut, erst recht jeder Hassausbruch im eigenen Heim. Betrunkene Jugendliche streunen ueber meinen offenen Rasen? Ich schiesse sie nieder.
In dieser Woche wird der Campus von Blacksburg wieder geoffnet. Das waere in der arabischen Welt nicht moeglich. Jene, die diese Entscheidung getroffen haben, haben sich nicht mit den Seelen der Verstorbenen befasst. Sicher nicht. Es genuegt ihnen, die Burg des Technologikums fuer ein halbes Jahr geschlossen zu halten, nicht aus Pietaet, sondern wegen der Spurensicherung. Dieses Gebaeude wird, so lange es steht, eine verhaengnisschwere Gespensterburg bleiben, deren tonnenschwere Mauern jedem Schleifen trotzen. Das Technologikum von Blacksburg wird zu einem bluttriefenden Mahnmal werden. Eines Tages werden sie erkennen, dass sie es schleifen werden muessen.
"Wo auch immer Du jetzt bist, Cho Sung-Hui, Menschenbruder, Du findest den Trost, der Dir auf Erden verwehrt wurde. Gehe in Frieden!"
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Utøya
Ein kräftig gebauter, willensstark wirkender Mann mit eigenwilliger Rasur, wie sie von Anhängern der „schlagenden Verbindung“ bekannt ist. Er schlägt sich beim Eintreten in den Gerichtssaal mit der Faust auf die linke Brust und reckt dieselbige schräg nach oben. „Der Gruß des Templerordens“, sagt er. Er bekennt sich strafrechtlich nicht schuldig. Die Tat selbst gibt er voll zu.
Die Tat, von der drei norwegische Psychiater unterschiedlich denken. Der eine sieht sie einer schizophrenen Wahnvorstellung entsprungen. Die zwei anderen einem zurechnungsfähigen Kalkül.
Anders Behring Breivik, ein 33 Jahre alter Norweger, Sohn eines früh geschiedenen Diplomaten, erklärt: "Ich habe den raffiniertesten und spektakulärsten politischen Angriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg unternommen." Er würde seine Anschläge im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt und auf der Insel Utøya wiederholen. Bei den Angriffen waren insgesamt 77 Menschen ums Leben gekommen.
Seine Anschläge begründete Breivik damit, dass es in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg keine wahre Demokratie mehr gegeben habe. Das Volk sei beschwindelt worden. Da eine friedliche Revolution nicht möglich sei, sei Gewalt die einzige Option.
Bei den Opfern auf Utøya habe es sich nicht um "unschuldige Kinder" gehandelt. Dort waren 69 Teilnehmer eines Ferienlagers der regierenden Arbeiterpartei getötet worden. Breivik macht die sozialdemokratische Arbeiterpartei für die seiner Ansicht nach voranschreitende Islamisierung Norwegens mitverantwortlich.
Es sei für ihn die "größte Ehre", sein Leben im Gefängnis zu verbringen oder für sein Volk zu sterben, hieß es in der Erklärung weiter. Daraufhin unterbrach ein Richter seine Rede und forderte ihn auf, diese abzukürzen. Bevor er die Erklärung verlas, hatte Breivik gesagt, er habe angesichts der Opfer seine Rhetorik abgeschwächt.
Zentrale Frage in dem Prozess ist, ob das Gericht ihm Schuldfähigkeit attestiert. Bei einem Schuldspruch drohen ihm bis zu 21 Jahre Haft. Andernfalls könnte der Mann lebenslang in der Psychiatrie untergebracht werden.
Der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller glaubt, daß Breivik in einem "Zustand der wahnhaften Wehrlosigkeit" gehandelt hat. Das bedeute, daß er "der Welt, in der er lebt, ausgeliefert" ist, erklärte Haller im ORF. Das "wirklich gefährliche" am Wahn sei, daß die darunter Leidenden "nicht verwirrt" sind, sondern im Gegenteil "vollkommen klar".
Die Betroffenen hätten nur "eine andere Wirklichkeit, eine andere Blickrichtung", sie könnten deshalb auch Straftaten "viel besser" planen und durchführen als Menschen, die krank und deshalb unzurechnungsfähig seien. Für Breivik selbst sei es "schlimm", als unzurechnungsfähig eingestuft zu werden, weil er der Bevölkerung zeigen wolle: "Ich bin im Besitz der Wahrheit".
Die Prozeßvideos zeigen einen elegant gekleideten Mann in Anzug und Krawatte – offenkundig selbst ausgewählt -, keinen Tölpel, der sich für diesen Anlaß in eine ihm ungewohnte Kleidung zwängen müßte. Er kontrolliert seine Bewegungen, seine Redefluß, seine Stimme, seinen Blick. Bis zu einem gewissen Grad. Dann kommen ihm die Tränen. Sein Kinn und seine Mundwinkel zucken. Wer am zweiten Prozeßtag einen Blick, den er in die Kamera richtet, erhascht, sieht dunkle Pupillen. Eine Untiefe.
In den führenden Medien entbrennt ein Meinungsstreit über die Rolle der Medien. In der ZEIT schreibt ein Leser: "Sie wissen doch, wie der gemeine Rezipient tickt. In bester journalistischer Absicht präsentieren Sie ein Foto, welches den eitlen, selbstgefälligen, überheblichen Mörder zeigt, der sich bewußt ist, daß die Medien für eine ganze Zeitlang nun ihm gehören – pfui, soll der Rezipient jetzt sagen, aber: Das tut er nicht. Eben nicht."
Das stimmt. Der Leser sagt nicht "Pfui!" Er ist schockiert und vielleicht auch fasziniert. Die verstörende, ja geradezu gefährliche Energie eines 77-fachen Mörders inmitten von hochzivilisierten Mitgliedern eines norwegischen Gerichtes, deren Grundsatz "Unbefangenheit" lauten soll und muß. Unbefangenheit! Kann eine kultivierte, im Alter fortgeschrittene, erstmalig einem Massenmörder gegenübersitzende Richterin gegenüber einem solchen mordlüsternen, blutgetränkten Menschen, der direkt der Hölle entsprungen zu sein scheint, ihre Unbefangenheit bewahren? Was ist ihre Aufgabe? Rechtssprechung, sagt man. "Festgeschriebenes Recht!", sagt der Jurist, "… nicht Naturrecht!"
Er sagt, es sei für ihn die größte Ehre, für sein Volk zu sterben, und sei es im Gefängnis.
Was im Gefängnis in den kommenden 21 Jahren, sofern er diese überlebt, geschehen wird, wissen wir nicht.
Wir wissen auch nicht, was mit UNS in den kommenden 21 Jahren geschehen wird.
Sie werden ihn für zurechnungsfähig erklären. Würden sie ihn für krank erklären, wäre es wie eine Falltüre unter den Füßen der gesamten norwegischen Gesellschaft. Denn wer von den norwegischen Psychiatern, die dieser Auffassung sind, könnte diesen Gesichtspunkt der nichtzurechnungsfähigkeit den Angehörigen der Opfer erklären? Erst recht unter positivistischem, auf Hypothesen beruhendem Medizinverständnis. Denn wäre es Krankheit, wer feit uns vor solcher Wiederholung?
Und es ist klar: Mit Anders Behring Breivik ist nicht das letzte Wort gesprochen.
Durch das simple Betätigen eines Knopfes öffnete sich eine Falltüre, und ein technisches Produkt fiel aus 11.000 Metern Höhe ins Freie. Fallschirme öffneten sich. So segelte das Gerät, das sie auf „fetter Junge“ getauft hatten, hinunter, ins Herz seines Opfers, 80.000 nichtsahnenden Menschen. Alle Beteiligten blicken geschäftig auf ihre Papiere und ihre Instrumententafeln. Mechanisch wiederholen sie, was in ihrem Bereich soeben geschehen ist. „Objekt ausgeklinkt.“ „Fallschirme öffnen sich.“ „Detonation in 30 Sekunden.“ „Entfernung des Flugzeugs vom geschätzten Detonationsort sieben Kilometer.“ „Jungs, haltet euch fest“, ruft der Kapitän, „gleich gibt es einen Hollyhoop.“
Alle blicken auf ihre Unterlagen. Manche Wagemutige blicken den Attentäter an. Einer der Schöffenrichter wird für befangen erklärt und vom Gericht abgezogen, weil er unter Freunden erklärt hatte, eine sofortige Exekution der Todesstrafe wäre die einzige Antwort auf so ein Monstrum.
Exekutieren. Wie einfach. Und was dann?
Ich hatte einen Freund. Von Jugend an war er Sozialist. Rot bis in die Wolle, wie man sagt. Er war ideell immer Nonkonformist. Dann wurde er Vater. Der Sohn wuchs heran, und sein Vater war stolz auf ihn. Eines Abends geht der Sohn im fünften Wiener Gemeindebezirk spazieren, als ihn eine Gruppe junger Türken anpöbelt. Einer der Türken zückt eine Rasiermesserklinge und zieht sie dem 17-Jährigen über den Oberschenkel, nur einen Zentimeter neben der Hauptschlagader. Mein Freund, der Sozialist, ist heute Nationalsozialist.
Und ich kenne Landsleute, die sagen, die Endlösung steht wieder an. Die Schwarzen kontrollieren den gesamten Drogenhandel in unserem Land. Und die Türken wollen uns übernehmen, einfach durch Gebären. So hatte es dem Bekannten ein Pascha selbst gesagt. „Das Ende der Ungläubigen. Ihr wollt das Leben ja nicht mehr.“
Doch all das macht die 69 getöteten hoffnungsvollen Jugendlichen – Jugendliche! – und Betreuer von Utøya und die 8 Passanten im Regierungsviertel von Oslo nicht mehr lebendig. Dieser Mann verkleidet sich als Polizist, bewaffnet sich mit einem Schnellfeuergewehr und steckt sich überall Magazine in die Uniform. So geht er auf Jagd, und alle Gefallenen tötet er mit einem oder mehreren Schüssen, oft in den Hinterkopf, vollkommen kaltblütig, ohne mit der Hand zu zittern. Die Details sind bekannt und werden von der Staatsanwältin verlesen. Der Ton der Fernsehübertragung wird ausgeschaltet.
Wie weit muß man kommen, um zu einer solchen Untat fähig zu sein?
Was ist das für eine Welt, in der dieser Mann, von dem man in 100 Jahren nicht mehr sprechen wird, Anders Behring Breivik, lebt und gelebt hat? Eine andere?
Was ist die Essenz dieses Mörders? Nur der, der diese Seele geschaffen hat, kann diese Frage beantworten. Und ansonsten gilt das Wort der "kleinen" Therese von Lisieux von oben, oder, wie es einer der Überlebenden von Utoya heute, am zweiten Prozeßtag, vor dem Gerichtssaal formulierte: "Ich fühle nur Liebe. Es ist schwer, über SEINE Emotionen zu sprechen." Und wie ergeht es der Mutter dieses verelendeten Menschen Breivik in diesen Tagen und Wochen?
Die Tränen des Anders Behring Breivik
Als das Gericht in Oslo jenes Video vorspielt, das den bekennenden Attentäter vor der Tat zeigt, und über das er Stolz empfinde, „… weil es sein erstes You Tube-Video gewesen sei“, hält sich Breivik die Hand vor das Gesicht und man sieht sein Kinn zucken. Tränen treten ihm in die Augen. „Warum weint Anders Behring Breivik?“, fragt die ZEIT und erläutert im weiteren: „Die anwesenden Rechtspsychiater sind der Auffassung, dass damit ein tief verwurzelter Narzissmus des Angeklagten zum Ausdruck kommt. Er weine über seine eigene Vortrefflichkeit, sagt einer von ihnen. Die norwegische Presse hat eine Gruppe von Experten engagiert, um Breiviks Persönlichkeit und psychische Gesundheit während des Prozesses zu bewerten. Breivik zeige keinerlei Empathie und besitze ein aufgeblasenes Bild von sich selbst, so ihre bisherige Einschätzung. Er weise allerdings keinerlei Anzeichen einer Psychose auf.“
Unter den Experten ist der Psychologe Pål Grøndahl. "Ich finde es schwierig, ihn überhaupt zu deuten", sagt er nach Breiviks Erklärung vom Dienstag. "Es wirkt so, als sei seine gefühlsmäßige Kapazität ganz auf seine eigene Person begrenzt." Grøndahl zufolge ist Breivik in seiner eigenen Welt gefangen. "Er versteckt sich hinter einer professoralen, akademischen Sprache und sagt, er habe Verständnis für die Opfer. Ich bezweifle allerdings, dass er das wirklich hat." (Soweit die ZEIT)
In der Presse wird die Person der Staatsanwältin vorgestellt. Frau Rentzsch schreibt im STANDARD am 22.April unter der Überschrift "Die ganze Welt blickt dieser Tage auf Inga Bejer Engh":
"Sie ist 41 Jahre alt, hat blondes, halblanges Haar und Augen, die ein Bewunderer auf Twitter als „einfach toll" beschreibt. Die ganze Welt blickt dieser Tage auf Inga Bejer Engh. Die Staatsanwältin selbst scheint vom Rummel um den Breivik-Prozess in Oslo unbeeindruckt. Ruhig, freundlich und auf typisch skandinavische Art bar jeder Dramatik stellt sie ihre Fragen an den selbsternannten „Retter der Nation"; im Verhör mit Anders Behring Breivik gleicht sie einer couragierten Mutter, die dem halbwüchsigen Sohn den Kopf zurechtrückt und dessen Rüpelhaftigkeit einfach ignoriert.
Immer wieder zeigt Breivik, der die japanische Gesellschaft wegen der dortigen „Unterordnung der Frauen" lobt und dem Feminismus vorwirft, Skandinaviens Männer „verweichlicht" zu haben, ihr gegenüber demonstrativ Geringschätzung. Als er sie auffordert, sich „mehr auf die Sache als auf meine Person" zu konzentrieren, blitzt in ihren Augen leise Belustigung auf; seelenruhig konfrontiert sie ihn weiter mit früheren Aussagen, lotst ihn von einer Falle in die nächste, bis Breivik sie resigniert bittet, ihn „nicht lächerlich" zu machen.
Nur vereinzelt schwingt in der Stimme der Staatsanwältin, die die Anklage im Team mit ihrem Kollegen Svein Holden vertritt, auch Schärfe mit. Sie halte den „freundlichen Stil" für den „ergiebigsten", so Bejer Engh, die den aktuellen Auftrag nach eigenen Worten ohne zu zögern angenommen hat. Die Mutter zweier kleiner Buben, die sich seit deren Geburt „weniger gestresst" fühlt – „man macht einfach Schluss zum Ende des Arbeitstages" – hat die Verantwortung für das Abliefern der Kleinen im Kindergarten für die nächste Zeit an Mann und Vater übertragen. An ihrer Karriere hat sie zielstrebig gearbeitet.
Nach dem Jusstudium in Norwegen ging es für Bejer Engh, die Gerechtigkeitssinn als Triebkraft für ihren schon früh feststehenden Berufswunsch bezeichnet, steil bergauf: Ab 1997 arbeitete sie bei der Uno in New York als Expertin für internationales Recht; nach Aufträgen an Gerichten etwa in ihrer Heimatstadt Drammen und am Strafgericht Oslo wurde sie mit nur 32 Jahren zur Staatsanwältin berufen. Anerkennung hat sie sich in vielbeachteten Prozessen erworben, so in der Verhandlung gegen den Neonazi Tore Tvedt. Ihren Auftrag sieht sie „pädagogisch": „Ich hoffe, die Menschen verstehen im Lauf der Verhandlung, warum das Urteil so und nicht anders ausfällt." " (Ende Zitat STANDARD).
Bereits am 2.Prozeßtag hatte Frau Bejer Engh auf dem Flur des Gerichtes einer Landsfrau im kurzen Interview erklärt: „Er windet sich wie eine Schlange.“ Man achte bitte auf die Wortwahl.
Der Massenmörder zeigt während seiner Erklärung keinerlei Anzeichen von Reue oder Mitgefühl. "Es war nicht das Ziel, 69 Menschen auf Utøya zu töten," wiederholte er bereits mehrmals. "Das Ziel war, alle zu töten." „Es war grauenvoll, ihm zuzuhören“, sagt ein Fachmann der Universität von Oslo und Åskerhus, Dr.Gule: "Es war, als wäre man eine Fliege an der Wand während der Wannsee-Konferenz, oder als höre man den Ingenieuren zu, wie sie über Gaskammern und die Kapazität von Krematoriumsöfen diskutierten".
Soweit Auszüge aus sogenannten „Qualitätszeitungen“.
Zunächst muß ich mich fragen, warum ist mir Anders Behring Breivik ein Anliegen?
Zunächst, ich sehe ihn und denke mir viel bei seinem Anblick. Die Opfer kenne ich nicht, auch nicht deren Eltern. Für die Angehörigen und Überlebenden muß es grauenvoll sein.
Der Schmerz dieser Überlebenden ist im Eigentlichen das Einzige, was in dieser Angelegenheit zählt.
Ein Leser des STANDARD schreibt lapidar: „Eine Kugel um 10 Cent hätte genügt. Warum ein Prozeß um 20 Millionen?“ Aber dem war nicht so, und wird im höchstzivilisierten Staat Europas, und das ist ohne jeden Zweifel Norwegen, nicht der Fall sein. Schon die einschreitenden eingetroffenen Sicherheitskräfte auf Utøya haben Anders Behring Breivik nicht über den Haufen geschossen, wie es in der Mehrzahl anderer Staaten der Fall gewesen wäre. Und er wird mit Glacéhandschuhen angefaßt. Kein einziges Mal ist er geschlagen worden. Stellen Sie sich so etwas in einem beliebigen anderen Staat vor. Er sagt vor Gericht, er habe eine „kleine Barbarei“ begehen müssen, um eine größere zu verhindern, nämlich die Islamisierung Europas. Zufälligerweise – oder geplant – fand vergangene Woche in Deutschland eine großaufgezogene Islamkonferenz statt. Wir erinnern uns, Angela Merkel höchstselbst fühlte sich in 2011 zu dem Ausspruch angespornt: „Die Idee der muslimischen Integration in Deutschland muß als gescheitert eingestanden werden.“ Der Verfasser des einen psychiatrischen Gerichtsgutachtens schildert von seinen Wahrnehmungen. „Breivik erhält hunderte Briefe. Briefe, in welchen ihm die Verfasser ihre Sympathie und gleiche Weltsicht bekunden. Nicht wenige Frauen tragen ihm die Heirat an. Religiöse Gruppierungen wollen ihn bekehren.“
Der Arzt hat recht, dies in sein Gutachten mit aufzunehmen. Die Mehrzahl der Leser und Zuschauer, so meine Einschätzung, hält ihn nicht für krank. Im Gegenteil: Viele werden sagen: „Mir verschlägt es die Sprache. Was der für einen Mut hatte! Und noch dazu so offen vor Gericht reden. Er fürchtet offenkundig niemanden, nicht einmal den Tod. Alle Achtung!“
Der Attentäter entschuldigte sich heute, am 23.April, bei den Hinterbliebenen und Opfern: Nicht alle waren Anhänger der Multikulturalismus-Idee.
Behring hat sein Publikum. Jenes, das er im Leben, einem vereinsamten, einem traurigen, einem haßerfüllten, nicht hatte. Manche staunen über ihn, staunen über alles. Sie beginnen sich zu fragen: „Wie kann einen die eigene Großartigkeit zu Tränen rühren? Sind das nicht Tränen eines Wolfes? Adolf Hitler hatte doch zeitweise auch Tränen in den Augen! Wie lange soll das noch so weiter gehen? Zehn Wochen? 20 Millionen Euro? Ein eigens erbauter Gerichtssaal? Dutzende von Psychiatern und Psychologen, die sich mit ihren fachkundigen Statements ein willkommenes Taschengeld von der neugierigen Presse verdienen! Was für ein Theater! Schluß damit!“
Ich denke nicht, daß Anders Behring Breivik im „Narrenhaus“ landet, wie wir hierzulande solche Einrichtungen salopp benennen. Dazu ist er in den Augen des Publikums zu intelligent, zu zielstrebig. Man müßte ihn dann alle drei Jahre anhören. Fehlte ein Psychiater, der ihm bei der ersten oder zweiten Anhörung, die natürlich öffentlich, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, erfolgen würde, erfolgreiche Therapie attestierte. Das hieße Freiheit. „Er war eben zum Zeitpunkt der Tat unzurechnungsfähig. Krank. An einer Krankheit ist man selbst nicht schuld, sondern sie bricht über einen herein. Verstehen Sie? Ein trauriges Opfer pathogener Umstände, das ist der Mensch. Wie bei Krebs.“ Ja, ich wäre überrascht, wenn es so kommen würde.
Im norwegischen Gefängnis verschwindet er für längere oder kürzere Zeit und wird langsam in Vergessenheit geraten, während draußen sich die Verhältnisse verschärfen. Verschärfen.
Die Verhältnisse verschärfen sich, kein Zweifel.
Pan-Amerika-Gipfel in Cartagena. Elf Secret Service-Agenten, zum Schutz des amerikanischen Präsidenten abgestellt, treiben es während der Konferenz im Hotel mit 30 kolumbianischen Nobelprostituierten, doch wollen die Rechnung nicht begleichen. Währenddessen fordern die lateinamerikanischen Regierungschefs: Entkriminalisierung des Kokains. Der größte Abnehmer sind doch sowieso die USA, Kanada und Europa. In Guatemala 70% aller Kommunen in der Hand der Mafia. In Mexiko offiziell 50.000 Tote in fünf Jahren. In Wahrheit sind es 100.000. Hunderttausend Erschossene, teilweise, Geköpfte, auf Straßenlaternen und Brücken Aufgehängte. 850 Ermordete pro Monat. Stellen Sie sich das vor, werte Leserinnen und Leser. Sie leben in einem Land, wo 850 Menschen in einem Monat grausam umgebracht werden und wo der Generalstaatsanwalt von den Drogenkartellen pro Monat 250.000 Dollar Schmiergeld erhält, so wie der Generalantidrogenbeauftragte der Polizei, und 10.000 Armeesoldaten sich über eine Verdopplung ihres Monatsgehaltes freuen dürfen, bewerkstelligt durch nicht einmal diskrete Gönner. Und die, die nicht mitmachen, werden von 18-jährigen Killern auf offener Straße niedergeschossen. Jugendliche, die für solche Auftragsmorde 100,- Dollar kassieren.
Im tropischen peruanischen Regenwald am Ostabhang der Anden, nicht unweit von Cuzco, gibt die Nummer 3 des „Sendero Luminoso“, „Artemio“, sieben schweißnassen Journalisten, die ihm zufällig über den Weg laufen, eine Pressekonferenz, derweilen 1.200 Soldaten, die ihn dingfest machen sollten, am Fuß der Berge geruhsam lagern. „Wir haben dort oben ein Wespennest der Terroristen“, sagt der befehlshabende General. „Es ist unverantwortlich, meine Männer dort hinaufzuschicken. Was passiert, haben wir gesehen. Unsere Heroine, die Polizistin und Pilotin Nancy Obregon ist mit dem von der DEA im Rahmen des 10 Milliarden Dollar-Programmes geschenkt bekommenen Hubschrauber hinaufgeflogen und wurde prompt abgeschossen. Dort oben würden wir auf Schritt und Tritt auf Sprengfallen treten. Die Terroristen haben die blutgetränkten Kleidungsfetzen am Wegrand aufgehängt. Wollen Sie das verantworten?“ Artemio steht im Gebüsch, im frisch gewaschenen Sporthemd, eine Mapacho-Zigarette in der Hand, und lächelt, so wie seine Leibwache, blutjunge, mit schwerem Gerät bewaffnete Burschen. Die Jugend hat eine Aufgabe. Endlich! Endlich Verantwortung übernehmen, für eine gerechte Sache. Ist es nicht gerecht, die Verelendung der Jugend zu stoppen, und sei es durch bewaffneten Kampf?
Im Zentrum des peruanischen Koka-Anbaus, dem sogenannten VRAE-Tal, arbeiten mindestens 10.000 Menschen für die Kartelle. Etwa 500 Jugendliche marschieren, jeder auf eigene Faust, mit einem Kilo Paste im Rucksack einen Weg von 100 Kilometern und gibt dann, wie beim Staffettenlauf, seine Ware an den nächsten weiter.
In Spanien regiert eine Jugendarbeitslosigkeit von 50%. England und Frankreich werden in naher zukunft Ähnliches erleben.
Die Zukunftslosigkeit der Jugendlichen aus der Vorstadt, aus den Slums, ist das Problem, zu dem eloquente Politiker im Wahlkampf lieber schweigen.
Was soll aus Kindern werden, die ihre Väter nicht kennen? Was soll aus einem Buben werden, dessen Vater von seinem Sohn sagt, „.. ich verleugne ihn! Es gibt keinen Beweis, daß dieser mein Sohn ist.“ Das war bei Breivik der Fall: Verwahrlosung seit der Krippe.
Und dieser unheilvolle Zug ist dabei, an Fahrt aufzunehmen. Die exponentielle Vermehrung der Menschheit. Gestern waren es noch sechs Milliarden, heute sind es schon sieben, und heute abend auch gleich noch acht. Der Planet explodiert. Morgen. Dann setzt die Raserei ein. Hollywood hat alles im Griff. Viggo Mortensen, der Heros aus dem „Herrn der Ringe“, jüngst in einem düsteren Machwerk mit dem simplen Titel „The Road“. Nachapokalyptisch. Vater und Sohn wandern durch die zerstörten, von Asche bedeckten USA, stets auf der Flucht vor Kannibalen. Atombomben? Für Condoleeza Rice unter Bush junior eine seriöse Option für das Iran-Problem.
Das, werte Damen und Herren, und damit will ich enden, sind die Alien-Eier, die noch aufplatzen werden, und dann wird man sich des Anders Behring Breivik nicht mehr erinnern. Dann hilft nur beten. Ihr Opfer von Utøya, helft uns! In Gottes Namen, helft uns! Helft uns fort von dieser Insel der Verdammten!
This is the end
Die Wächter berichten, er spucke ihnen ins Gesicht. Ein anderer gibt bekannt, er sei von dem Subjekt gefragt worden, ob er das Ende des neuen Batman-Films kenne. „Der Kerl ist wirklich krank“, schließt er sein Statement ab.
James Holmes, ein 24-jähriger Student aus Colorado, hat mit seiner spektakulären Bluttat seinem zivilen Leben ein Ende bereitet. Mehr als ein dutzend Menschen mußten für diesen Irrsinn mit dem Leben bezahlen. Mehrere der knapp 50 Verletzten ringen noch mit dem Tod.
Barrack Obama ordnet für 5 Tage Staatstrauer und Flaggen auf Halbmast an. Er nennt das Geschehene eine „sinnlose Tat“. Doch darin irrt der Präsident. Er wagt es nur nicht, genau hinzusehen, denn das Ganze kommt ihm höchst ungelegen, zum falschen Zeitpunkt in seiner Wahlkampagne.
Die Tat war nicht sinnlos. Ganz und gar nicht. Sie macht Sinn. Ein Medizinstudent mit Fachrichtung Neurologie, sein Leben lang unauffällig, geradezu ein Musterschüler, verursacht um Mitternacht bei der Premiere des in den Vormonaten mit werbewirksamen Shows eingeläuteten „most awaited movie of the year: The dark knight rises“ ein symbolträchtiges Massaker, dem auch Kinder zum Opfer fallen. Kinder im Kinosaal von Aurora, der Morgenröte. Kinder um Mitternacht unterwegs. Für Batmann. Ein Film von 250 Millionen Dollar Produktionskosten und erwarteten Einspielzahlen von einer Milliarde Dollar. Der Joker macht den Studiobossen von Warner Brothers einen Strich durch die Rechnung.
James Holmes trägt eine Gasmaske und eine schußsichere Weste. Er steigt auf die Bühne vor der Leinwand und tritt eine Tränengasbombe los. Dann feuert er im Blutrausch ins Publikum. Er hat 6.000 Schuß vorrätig, drei Schußwaffen. Alles legal erstanden, wie wir wissen.
Er bricht die Tat ab und geht hinaus auf den Parkplatz, wo er sich neben seinem hochgerüsteten Auto widerstandslos festnehmen läßt. Seine erste Aussage, noch im Polizeipräsidium: „Vorsicht, ihr könnt in meine Wohnung nicht hinein!“ Dann bricht er zusammen. Die erste Vorstellung vor dem Richter zeigt einen komplett verstörten Mann mit orange gefärbtem Haar.
Von wo kommt diese Krankheit?
Ein Medizinstudent, der sich mit Geisteskrankheiten zu befassen hatte. Ein Mann, der die beiden Bösewichte der letzten beiden Batman-Filme in seiner eigenen Figur zu vereinen trachtete. Der geschminkte Joker und Bane, der eine Maske auf Nase und Mund trägt, gewappnet mit einer dicken Schafspelzjacke. Die Leichen, die die beiden produzieren, gehen in die Dutzende. Filmdramaturgisch, wie es besser nicht geht, in Szene gesetzt. Der Zuschauer gebannt. Immer mit Schalldämpfer oder mit massenweise Sprengstoff. Völlig amoralisch, ohne jeden Skrupel, genußvolles Töten geradezu. Wir gaffen. Geil, wie er das macht. Trägt 15 Messer versteckt am Leib. Würde gerne Tausende in die Luft sprengen. Verheizt 50 Millionen Dollar mit Benzin. Alles sehr cool. Der Hauptdarsteller erhält einen Oscar, zurecht. Ach ja, posthum. Na wenn schon. Tom Hardy darf auch Stellung beziehen: "Tragisch! Mir fehlen die Worte!"
Holmes sieht, alle tragen Masken: der Joker, Bane, Batman, Catwoman. Die Politiker, die Sadisten. Somit auch ich. Nur recht so.
Und das Leben gilt nichts, lerne ich auf der medizinischen Fakultät zu Denver. Alles reiner Zufall, ohne Sinn. Somit gebe ich meinem Leben Sinn. Ich gebe die Mitternachts-Show, schwinge mich auf zum Herrn über Leben und Tod. „Geht nicht in meine Wohnung!“ „Danke für den Tipp, Junge!“ „Wirklich clever, der Junge! Alles vollgerammelt mit höchst sophistischen Sprengfallen! Gut, daß wir über´s Fenster eingestiegen sind.“
James Holmes, – ein Kind des 11.September. Ein Bub, der unter Zwangsgedanken litt und die ihn in die Verzweiflung trieben. Er suchte eine Psychiaterin auf und vertraute sich ihr an. Er schickte ihr ein Paket mit den detaillierten Mordplänen. Die Umstände – welcher Gestalt auch immer sie sein mögen – verhinderten es, daß es von der Empfängerin rechtzeitig geöffnet wurde. Er fühlte sich besetzt. Zersetzt. Aufgefressen. Nun wird er eingewiesen in eine Klinik für abnorme Rechtsbrecher im apokalyptischen Jahr 2012, unter ständiger Bewachung, um die Tötung durch eigene Hand zu verhindern. Und andere werden seine Exekutierung fordern.
Er wird nicht der einzige bleiben. Wahrlich nicht. Einige andere werden ihm nachfolgen. In jenem Land der Freiheit, in dem pro Jahr 31.000 Menschen durch Schußwaffen sterben.
Die Blutspur des Wilderers
17.September 2013, Niederösterreich, ein Tag vor Vollmond.
Ein krankhafter Wilderer, 55 Jahre alt, treibt seit langer Zeit, mehr als 15 Jahren, sein Unwesen im Bezirk Lilienfeld, jenem Bezirk, in dem der majestätische Ötscher, der so sehr an den Fujiyama erinnert, steht. Ein Naturschutzgebiet, ein Nationalpark sondergleichen, inklusive Urwäldern. Wild aller Gattungen, Bären, Gemsen, Hirsche, Dachse, Füchse, Wölfe, Raubvögel. Südlich anschließend Österreichs Heiligtum, die Wallfahrtsstätte Mariazell. Das Mariazeller-Land, wie wir es nennen. Ursprünglich, rauh und im Winter kalt, oft mit Rekordwerten. Ein Schneeloch.
Ein Wilderer treibt seit vielen Jahren sein Unwesen. Er zündet Jagdhütten an. Er erlegt Hirsche nächtens von seinem Auto aus, blendet sie wohl mit dem Scheinwerfer. Er enthauptet die Hirsche. Läßt das Wildpret verrotten. Ein schändliches Vergehen. Er treibt es soweit, daß die Kriminalpolizei sich genötigt sieht, die Spezialeinheit "Cobra" mit Zivilfahrzeugen beizuziehen. Sie lauern ihm auf, die Falle schnappt zu. Doch die Beamten rechnen zu ihrem Verhängnis nicht mit der kaltblütigen Mordlüsternheit des Wilderers. Der schießt sich den Weg frei. Er tötet zwei Beamte und einen Sanitäter, nimmt einen dritten Cobra-Beamten in Zivil als Geisel. Angeblich gibt es einen Schußwechsel, bei dem der Täter einen Bauchschuß erleidet. Er fährt mit seiner Geisel 70 Kilometer nach Norden auf seinen wuchtig wirkenden Hof, wo er alleine lebt, nur drei Kilometer vom weltberühmten Stift Melk entfernt. Ein entlegenes kleines Dorf. Er ist verwitwet, erfahren wir. Angekommen, erschießt er, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Geisel und verschanzt sich auf seinem Hof. Er beschießt die ankommenden Sicherheitskräfte mit Hochpenetranzmunition. Die Polizei zieht das Bundesheer mit dessen Spezialgerät, leichten Sturmpanzern, bei. Gegen 17.30 Uhr stellt der Attentäter das Feuer ein. Es wird totenstill. Regen setzt ein. Knapp vor Mitternacht stürmt eine Spezialeinheit der Cobra das Gebäude. Sie treffen auf keinen Widerstand. Gespenstische Stille. Es riecht nach Feuer. Sie gehen einen Gang entlang, finden eine Tarnwand, dahinter einen Geheimbunker. Durch das Öffnen der Geheimtür strömt frischer Sauerstoff in das Verlies, facht das Feuer aufs Neue an. Es wird gelöscht. Die Leiche des Täters, der sich selbst durch Kopfschuß gerichtet hatte, verkohlt am Boden. Die Polizei findet ein Waffenarsenal "in dreistelliger Höhe", wie ein Sprecher bekannt gibt.
Vier tote Männer. Vier Familientragödien. Sechs Kinder, die ihren Vater verloren, drei Gattinnen, denen der Mann ohne Vorwarnung geraubt wurde. Sprachloses Entsetzen geht um. "Wie nur das? Warum?" Keiner kann Antwort geben. Dr.Pritz, Direktor der Sigmund Freud-Universität in Wien, hält krankhafte Paranoia im Zusammenhang mit einem inszenierten Selbstmord nicht für ausgeschlossen. "Hätte man diese Tat verhindern können?" wird er gefragt. Wie soll man eine solche Frage beantworten?
Der niederösterreichische Landtag, repräsentativ mit Jägern bestückt, trifft sich zu einer Sondersitzung. Der für Sicherheitsfragen beauftragte Landesrat gibt eine Stellungnahme ab. Die Innenministerien trifft die in Tränen aufgelösten Witwen und Waisen in einem vorbildhaften Akt der Achtung und des Beileids.
In der Gespensterburg des Mörders finden die Sicherheitskräfte des weiteren eine Reihe von Trophäen, Indizien für mutmaßliche Straftaten in der Vergangenheit. Was sagen die Jagdkollegen an ihren Stammtischen? Sie werden nicht laut reden und fuer lange Zeit nachdenklich bleiben. Im Internet zirkuliert ein Foto, das den Täter in Waidmannspose hinter einer erlegten Gams zeigt, das Gesicht von der Redaktion unkenntlich gemacht. Neben sich die Hand eines Jagdfreundes.
Was hat diesen Mann angetrieben? War er bereits zu Lebzeiten seiner Gattin Wilderer? Hatte er Kinder? Woran starb seine Gattin? Was geschieht mit seiner Leiche?
Doch zuletzt, nach allem, wird dieser Hof bestehen bleiben. Wer wird diesen Hof erben und was wird man aus ihm machen? Eine Geisterburg wie jene in Blacksburg. Keiner wird daran denken, daß die Seele dieses Mannes an diesem Ort umgehen wird können, so wie die Seelen der armen Opfer, Männer, die der Tod in Menschengestalt bei helllichtem Tag überfiel. Der Schrecken wird einziehen in jenem kleinen Dorf. Amen.