Gestern pumperten sie an der Hintertür, um drei in der Früh, laut und vernehmlich. Sie weckten uns auf. Dann gingen sie hinüber zur Terrasse. Das Klopfen am Glas klingt anders. Das Herz fiel uns in die Hose. Die 80-jährige Mutter, der der Besuch galt, machte ihnen auf, derweilen wir uns aus Angst hinter dem Vorhang versteckten. "Wir haben hier etwa für dich", sagten sie zu ihr. "Wie du siehst, sind wir viele. Wir sind deine Vorfahren, groß und klein. Also, mit dem Dich-Schlafend-Stellen ist es aus. Das geht bei uns nicht!"
Verschneit liegt jenes Jahr zurück, als wir unsere Betriebsweihnachtsfeier in Baden bei Wien feierten, am zwanzigsten des Jahres 1995. Alle Zusammengekommenen waren festlich gekleidet. Als wir nach Mitternacht vor das Portal traten, lag die Landschaft in dickem frischen Weiß. Zwei liebe Kollegen baten um eine Mitfahrt, zurück in die Stadt. Die Autobahn war verschneit. Um die Romantik zu komplettieren, legte ich Shakira ein, jene Aufnahmen, als sie noch Naturbraun trug und nicht mit den Hüften wackelte. "Mil años atrás". Der eine der Freunde, Günther Wagner, stieg in seiner Dienstwohnung ab, der andere, Walter Sihorsch, der später unstet reisen sollte, an der Nachtbuslinie. Nichts habe ich von ihnen seitdem mehr gehört, den freundlichen. Weiß nicht, ob noch am Leben.
Gern denk ich an jene Nacht zurück, bei den so familiären wie noblen und später von tödlichen Unfällen geschüttelten Pneumatiques Michelin.
Damals waren es die ersten Weihnachten des Pascal Hoffmann bei uns. Er kam aus dem Senegal. Die Schwarzen hatten ihn als einen der ihren hofiert, weil sie ihn mochten. Er war höflich, ruhig und sanft, ohne sichtbare Vorurteile. Ein außergewöhnlicher Mensch. Ein Verkäufer, wie man ihn mit der Lupe suchen muß. Ein runder, beinahe haarloser Schädel, so als ob er damit schon geboren worden wäre. Die Lippen sinnlich und nach vor gewölbt, wie die der Schwarzafrikaner. Sein Sprechen ein sinnliches Sprechen. Er arbeitete immer nur mit DIN-A4-Zetteln, einen nach dem anderen. Nie mit Stapeln. Seine Ideen waren skizzenhaft, das genügte ihm. Sein Füller zog meditative Linien über das Papier. Bei ihm im Büro verging einem die Schwatzhaftigkeit. "Monsieur H., je vous entends", sagte er einmal. Mehr brauchte es nicht, um mich in sein Lager zu holen. Etwas jedoch quälte ihn fürchterlich, und das war nicht die fehlende Frau. Zeitweise wurden ihm die Rückenschmerzen unerträglich, sosehr, daß er sich am Boden wand, im Büro, vor den Augen seiner Star-Verkäufer. Er wollte sich um keinen Preis operieren lassen. Das war ausgeschlossen. Es hätte ihm zuviel Zeit gekostet. Ich kann bis heute nicht sagen, warum sie ihm so wertvoll war. Aber da war er getrieben, unser sympathischer Franzose. Er fuhr Mercedes, zeitweise doch überschnell, und das polizeiliche Angehalten-Werden auf der Autobahn brachte ihn in Cholerik. Und er ging mit seinem Verkaufsleiter gemeinsam aufs Pissoir, um dort weiterzudiskutieren, während die Natur ihr Recht forderte. Das brachte, wer könnte es ihm verdenken, seinen Verkaufsleiter, einen prinzipientreuen Michel justament aus der Heimat Thomas Bernhards, ins Staunen, – und das geschah nur alle heilige Zeiten.
Pascal Hoffmann wurde dann vorschnell nach Karlsruhe versetzt, wo sie ihn dringender brauchten. Sein Kollege, auch ein Franzose, ein adliger, wünschte ihm alles Gute, denn er wußte, die Kultur mußte er leider zurücklassen. Pascal Hoffmann fuhr im Mercedes nach Karlsruhe, und ich litt mit ihm. Hoffentlich übersteht er die Fahrt, die lange, und überhaupt das ganze Hin- und Herfahren auf diesen alles beherrschenden deutschen Autobahnen. Dann war er fort und es dauerte etwas mehr als ein Jahr, daß sein Nachfolger, ein Mann aus dem Ruhrpott, für den die Schwarzen "Bimbos" waren, uns eines Morgens versammelte und die Nachricht vom Ableben unseres Freundes Pascal Hoffmann bekannt gab. Und wir blieben wie begossene Pudel sitzen, und jeder dachte sich seinen Teil. Unser Hausjurist, einer der Langgedienten, der wesentlich zur Identitätsbildung unserer Agence beigetragen hatte, ebenso ein grader Michel mit dem Herz am rechten Fleck, ging wie immer auf Spurensuche, und er förderte die Wahrheit zutage. Kurzschlußreaktion nach verzockter Börsenspekulation. Wer hätte das gedacht? Es dreht mir immer noch den Magen um, wenn ich es mir vorstelle.
Unsere Kantinenchefin sprach das Schlußwort: "Ich war bei ihm im Büro, eines Abends, es war im Sommer. Er schaute mir beim Putzen zu, sagte aber kein Wort. Ich wußte, was er dachte. Um halb neun sah ich ihn draußen am Parkplatz wieder. Ich winkte ihm unbeschwert zu, als er den Schlüssel schon in seiner Autotür stecken hatte. Er hielt inne und dachte etwas. Er hätte es nur aussprechen müssen. Das hätte ihm das Leben gerettet. Aber leider, es sollte nicht sein."
Pascal Hoffmann, einer unserer vermißten nächtlichen Ayahuasca-Gäste. "Je vous salue, Monsieur!"
0 Antworten
Der französische Großunternehmer Édouard Michelin, Vorstandsvorsitzender der Manufacture Française des Pneumatiques Michelin, war der Urenkel eines der beiden Gründerbrüder Michelin, die im 19.Jahrhundert den heute weltgrößten Reifenkonzern mit Hauptsitz in Clermont Ferrand und weltweit 125.000 Angestellten aus der Taufe hoben. Sein Urgroßvater hieß ebenfalls Édouard. Die Großfamilie Michelin ist katholisch orientiert, verfügt über eine aufrechte Beziehung zum Vatikan und zeichnete sich stets durch ausgesprochenen Paternalismus aus. Der Name des Patrons des Unternehmens wurde immer mit Ehrfurcht in den Mund genommen. Das klingt heute lächerlich, doch es war lange Zeit Usus und wird vom hohen Management des Konzerns bis heute so zelebriert. Der Patron hat Vorbildcharakter und sollte makellos sein, auch wenn man seine Entscheidungen nicht im Detail versteht.
Édouard Michelin war, als er 1999 die Führung des Konzerns in einem der französischen Marine entlehnten Ritual aus den Händen seines zu Tränen gerührten Vaters François übernahm, gerade erst 35 Jahre alt. Von mehreren Seiten wird die Medienscheuheit des Sohnes bestätigt. Ein Mann, der ganz und gar nicht dem anscheinend modernen amerikanischen Macher-Typus entsprechen wollte, ja vielleicht nicht einmal konnte. Édouard Michelin trug die Handschrift seines Vaters im Körper, und nicht nur, wie sich zuletzt tragisch herausstellen sollte, diese. Über die Jahrzehnte, eigentlich das ganze Jahrhundert hinweg mußten die Michelins, die so viel für Clermont tun wollten, bittere Verluste an Menschenleben im eigenen Familienkreis hinnehmen. François Michelin verlor seine Eltern kurz hintereinander im zarten Kindesalter und wuchs danach bei seiner Großmutter auf. Zwei weitere Verwandte, beide im Vorstand des Konzerns, verstarben in ihren 30ern, viel zu früh, der eine mit dem Flugzeug, der andere mit dem Auto.
Die Michelins hatten ihr Leben dem Reifen gewidmet. Das war ihr Bekenntnis, ihr Ideal. Der Lebensinhalt, dem sie alles unterordneten, auch die Fragwürdigkeit der Herstellung von Industrie-Ruß, der dem Reifen Elastizität und gleichzeitig Zähigkeit verleiht. Die Michelins waren Techniker und Erfinder, erstklassige Diener des goldenen Kalbes. Sie hofierten das Goldene Kalb in allen Bereichen, bis hin zur Formel 1. Noch im Jahr 2005 verteidigte der junge Michelin das Credo des Unternehmens. Die Anzahl der Autos werde sich noch einmal verdoppeln. Der Mensch setzt unablässig und zurecht auf individuelle Mobilität. Gleichzeit sind, offenkundig, die Ressourcen begrenzt. Ziel Michelins kann es daher nur sein, sichere Reifen zu erfinden, die genauso lange "leben" wie das Auto, dessen einziger Kontakt mit dem Boden, dem "Grund", wie er es formulierte, sie, die Michelin-Reifen, sind.
Édouard Michelin’s Unternehmen bereift alles, was sich bewegt: Die größten Flugzeuge, die größten Erdbewegungsmaschinen bis hin zu unscheinbaren Geräten wie etwa Rollstühlen. Dem Götzen des Menschen dienend, produziert Michelin hochklassige Land- und Städtekarten sowie, dem Gedanken der automobilen Beweglichkeit folgend, die berühmten Reiseführer, doch erst recht die sagenumwobenen Restaurantführer, die, so die Chronik, bereits so manchen ambitionierten Restaurantbesitzer in den Tod getrieben haben sollen. – Sosehr nimmt man sich in gewissen Kreisen eine Abqualifizierung der anonymen Michelin-Testesser mit dem Verlust eines Sternes zu Herzen.
Édouard Michelin arbeitete jeden Tag etwa bis 22 Uhr. Er beehrte unerwartet abendliche Arbeitskreise, wenn seine Angestellten bereits dachten, nun würde doch wohl auch einmal er zu seiner Frau und den sechs Kindern heimkehren. Nein, dem war meist nicht so. Auch dieser Familienvater war zuhause ein abwesender Vater. Nur der Sonntag gehörte der Familie.
Michelin gab sich schüchtern. Er sprach leise, prononciert, so wie sein Vater, hatte dabei jedoch nicht dessen stechenden Blick. Er sprach einfach und vermittelte niemals das Gefühl, Brotgeber für 125.000 Familien zu sein sei eine Hypothek. Michelin verfolgte keine "Hire and fire-Politik", soviel kann mit Sicherheit gesagt werden. Doch er verlangte Loyalität, und das hieß für viele, unbezahlte Überstunden. Und als Patron mochte er traditionellerweise keine Gewerkschaften, schon gar nicht kommunistische. Da war der eigene Gerechtigkeitssinn außen vor, und der hielt zumeist den Belastungen stand. Der Gerechtigkeitssinn der Michelins ging so weit, im Vatikan nachzufragen, worin der Sinn der Gehaltspfändungen bei kirchensteuersäumigen österreichischen Katholiken bestünde. Fürwahr, das Auftreten des Konzerns mitsamt seinem "Bibendum" in der Öffentlichkeit hatte etwas Anachronistisches, das die Konzernleitung aber nicht im Geringsten zu irritieren schien. Die Michelins hatten Standvermögen und waren wohl deshalb beim Kunden sosehr beliebt. Diskret und sicher wie Schweizer Uhren oder Schweizer Banken. Handfertigung für Porsche-Tempo 250 auf Deutschlands Autobahnen.
1995, nur Tage nach seiner "Inthronisierung" als designierter Nachfolger des Vaters, sprach Édouard über interne Kommunikation, sinngemäß etwa so: "Ziel der internen Kommunikation ist, die Mitarbeiter in ihrem Ziel, der Mitarbeit im Konzern, zu bestätigen. Interne Kommunikation ist immer eine Prüfung der Werte, die wir leben. Deshalb ist sie dermaßen sensibel. Sie erinnert uns an unseren eigenen Wortschöpfungsprozeß, für den jeder von uns stets die volle Verantwortung übernehmen muß. Polemik wird nie den Grund eines Unternehmens ausmachen können. Im Grunde ist Polemik schal, denn sie entledigt sich billig der gemeinsamen Verantwortung und vergißt die Aufgaben, die uns stets jeden Tag auf’s Neue erwarten." Das sagte er mit einer brennenden Marlboro-Zigarette in der Hand, die er ungeraucht verglimmen ließ. Alleine diese vordergründig unbeholfene Geste machte ihn sympathisch. Freilich, 1999 mußte auch er dem, wie es der Boulevard nennt, "mörderischen" Konkurrenzdruck von Bridgestone und Goodyear Konzessionen einräumen. Rund 9000 Posten fielen dem börsenorientierten Rotstift alleine in Europa zum Opfer. Langjährige Mitarbeiter wurden verabschiedet. Welch bitteres Los.
Die Stunde der Wahrheit kam allerdings am 26.Mai 2006, als Édouard Michelin in einem idyllischen Fischerdorf der Bretagne, Audierne, frühmorgens, bei dichtem Nebel, mit seinem Freund Guillaume Normant, dem örtlichen Fischereiverbandsvorsitzenden, dessen nur 8 Meter großes Boot "La Liberté" bestieg, um gemeinsam zum Angeln in höchst gefährliche, von Klippen und Unterströmungen herumgewirbelte Gewässer hinauszutuckern. Was auch immer geschah (das Boot wurde in 7 Meter Tiefe gefunden, unbeschädigt; die örtliche Präfektur: "Niemand hat etwas gehört, niemand hat etwas gesehen, niemand kann sagen, wie es passiert ist"), es kostete den beiden Männern das Leben und stürzte den hochbetagten Vater so wie die junge Gattin und sechs Kinder in tiefe Verzweiflung. Édouard Michelin starb im 43.Lebensjahr, nicht durch eigene Hand (wie etwa Klaus Woltron, der ehemalige Chef der Verstaatlichten in Wien), aber vorzeitig, so wie nicht wenige Mitarbeiter, die er in diversen Agencen nicht gehen hat sehen, und die zur sprachverstummenden Perplexität des anspruchsvollen Manangements, das nur auf nüchterne Leistung bedacht war, für immer sich der weltlichen Hand entziehen sollten. Der Tod machte allem ein Ende, zuvorderst der Ausbeutung, und erst recht dem Geschwindigkeitsrausch, und den Thron vakant. Aber Totenstille, das darf nicht sein, … in diesen Zeiten. Ein Kopfsenken der 125.000, vielleicht, wenn überhaupt.
Und ein Waisen-Mädchen aus einem entlegenen Land, das nie seinen wahren Vater kennen sollte, sagte einmal am Tag der Aufnahme seiner Schulbesuche in einem anderen entlegenen Land zu seinem Stiefvater, "Papa, wenn es nach mir ginge, meine größter Wunsch ist, daß alle Autos verschwinden."
Wie ehrlich und bewegend.
Vielleicht war das das Verhängnis des Édouard Michelin. Die eigentliche Unterströmung. Aber wie der Volksmund in seiner Weisheit es kommentiert, "den Tod kann man sich nicht aussuchen."