Das Träumen in Twin Peaks
Als sich David Lynch entschloß, sein Epos „Dune, der Wüstenplanet“ in Mexico zu drehen, geschah dies aus innerer Notwendigkeit, denn er befand sich damals in einer intensiven Phase ungekannter Schaffenskraft. Die brauchte er, um in den Kostümen und Bauten einen derartig aufwendigen Film anzugehen und auch fertigzustellen. Zugleich fühlte er sich hochgradig inspiriert von den Werken Castanedas und zugleich von der Kultur der verschiedenen mexikanischen Indigenen. Als er schließlich von der Kultur der Tolteken Kenntnis nahm, geschah eine natürliche, wenngleich unerwartete Wende in seinen Träumen. Es schien, als habe eine unbekannte antike Kraft sein Träumen aufgesogen und in fremden Welten wieder ausgespuckt. Diese Erfahrung blieb ihm Nährquelle für alle weiteren Filme, bis hinauf in 2018, als er die dritte Staffel von „Twin Peaks“ mit sage und schreibe 18 Folgen in Szene zu setzen vermochte. Das Werk David Lynchens ist von Traumgewässern, Flüssen und fremden Landschaften, ja fremden Welten durchzogen. Mein zweiter Heros unter den Regisseuren lebt in beinahe ständiger Magie. Deshalb gelingt es ihm, alle Schauspieler/-innen, die er passend findet, anzuziehen, zuvorderst Kyle McLaghlan, den Unerreichten. Und wie viele (ja, viele!) von ins hohe Alter gekommene Schauspieler sterben ihm direkt in seinen Armen, noch während des Drehens oder unmittelbar nach Drehschluß! Sie alle sagen sich, mit diesem Werk habe ich den würdigen Schlußpunkt hinter mein Leben gesetzt. Jetzt ist alles gesagt, alles gezeigt. Ich habe hier nichts mehr verloren, ich wandere hinüber, meine Seele befreit. Doch nicht alle seine Akteure sterben alt, so wie David Silva, der Verkörperer des Dämons in den ersten beiden Staffeln. Motive des Seelenübergangs spricht Lynch wiederholt direkt an und aus. Er befaßt sich, wie es scheint, ganz unvoreingenommen, also wie ein Kind, mit der Rolle Gottes und des abgrundtief Bösen („Jao Dé“). Er entwirft einen Heilsplan, in welchem Hilfsgeister verschiedener Qualität ohne Ankündigung auftreten, so wie das Böse, das sich im Inzest, Drogenhandel oder allgemeinem Sadismus übt. Eigenartig: Die Hilfsgeister wie die Dämonen sitzen an einem Tisch, leben in einer gemeinsamen Welt, wissen gemeinsam. Sie alle folgen ihrer physiognomisch wie motivisch zugedachten Absicht. Inmitten all dessen ein Naiver, ein von seiner Mission erfüllter FBI-Agent, special agent Dale Cooper. Und schon wieder Tote, nicht nur Laura Palmer, die High School-Schülerin, von der alles seinen Ausgang nimmt.
An den toten und vergewaltigten Töchtern nimmt die Geschichte immer einen Anfang. Der Dämon setzt systematisch an den Unschuldigen an, an jenen, die sich noch in der reinen Glut des Bewußtseins befinden und wahr sehen. An ihnen stößt er sich, und sie attackiert er, gerade dort, wo er weiß, das Ich ist im Entstehen. Der Dämon hat ein Interesse, sich in uns zu vervielfachen. So versklavt und vernichtet er uns, wie ein Vampir, der sich kleine Möchtegernvampire, erfüllt von, wenn man sie läßt, grenzenloser Gier und verblendetstem Haß. Denn das Böse, das auch über die idyllischste Kleinstadt herzufallen versteht (so wie 2018 Paradise in Nordkalifornien) zehrt von diesem Feuer, das uns brennen und glühen läßt. Wir wissen, in uns brennt ein Feuer, das nicht wir entzündet haben. Jemand anderer, etwas anderes hat uns entzündet. Das wissen wir. Und wir wissen nur allzu bald, daß wir ein Vermögen haben, das die Gegenthese zu diesem Zwang des Brennen Müssens darstellt: Unser Vermögen, Menschen brennen zu lassen. Menschen verbrennen in Häusern, in den Straßen von bombardierten Städten, auf Scheiterhaufen. Gerade auf Scheiterhaufen, mit dem staunenden, sprachlosen Volk als willige Zuschauer, so wie bei den öffentlichen Hängungen im damaligen Wilden Westen oder den Enthauptungen auf der Place de la Concorde zuzeiten der sogenannten Französischen Revolution, die all ihre blutrünstigen Kinder fressen sollte, indem sie diese derselben monströsen Erfindung eines französischen Arztes zuführen sollte. Das Drama nimmt in der Jugend seinen Anfang, und es endet in der Regel, in der Regel, unter Qualen, Verwünschungen und geistiger Verwirrung. In der Regel. Ausnahmen lassen sich finden. Es sind wenige, so wie jene, die im Schlaf sterben. Keiner von uns Lebenden weiß, wie es sein wird, sollte uns eines Tages dieses Los direkt treffen. Der lächelnde Papst aus Venedig, Albino Luciani, der nur ein Monat das Amt bekleidete, bevor er schon wieder abberufen wurde, hat es erlebt. Und alle seine Nachfolger (alle!) fragten sich, warum es so geschehen mußte, dieses Drama der Papstwahl, der Wahl eines kranken Kardinals im Konklave, von dem die Kirche, somit wir, nur äußerst wenig (formulieren wir es einmal so) hatte, nämlich ein vereinnehmendes Lächeln, eine unübertroffene Unschuld. Was, so fragten sich viele, hatte Jesus mit einem solchen Mann vor, der die Unschuld wie kein Zweiter verkörperte? Ein Feuer läßt uns verbrennen, und nur allzu oft verbrennen wir schlußendlich an ihm. Es verlischt nicht, sondern wir löschen es gewaltsam, vielleicht in einem Amoklauf oder in einem der zahllosen, willkürlich und fadenscheinig vom Zaun getretenen Kriege, in einem Feldzug systematischen Mordens. Und die Soldaten gefallen sich in der Regel im Morden, sobald sie in Uniform gekleidet sind und den Marschbefehl, den Freibrief zum Töten empfangen. So ist es auf beiden Seiten, und so war es schon immer. Doch heute wird dies nicht mehr geschehen, nicht über der Hauptlinie der Verwerfung, nein, das sicher nicht, doch an den zahllosen Nebenversuchsplätzen, den Spielzeugkisten Afrikas (seit 250 Jahren) und am Fuß des Transhimalaya. Unter anderem. Das Feuer, zumindest das, was noch am Glosen war, verlischt mit einem Schlag, wie unter einer transkontinentalen Tsunami, der sprichwörtlichen metaphysischen Woge, und nachdem sich der letzte Rauch verzogen und alle Brandstätten verkohlt oder in Asche erkaltet haben, erscheinen die Spurensicherer inmitten des verschreckten Ortes. Die braven Leute wagen nur mehr zu murmeln und zu wispern: „Wir haben einen Mörder unter uns…“ Mörder gibt es immer, leider, und nicht immer tragen sie US-amerikanische oder sonstige Uniform. Die Mörderinnen sind in eklatanter Unterzahl. Frauen kaufen auch nicht Waffengeschäfte leer. Das sollte doch zu denken geben.
Und so begeben wir uns zu Bett mit einem guten Vorsatz: Wir wollen das Träumen lernen. Die Mächte – wer auch immer sie sind – mögen mir heute, heute, einen Traum schicken, den ich mir merke, einen abenteuerlichen, der mir Geschmack gibt für das große Abenteuer. Heute, in dieser stillen Zeit, wo phasenweise nichts funktioniert und mitunter Menschen in Atemnot auf Gehsteigen zusammenbrechen und verröcheln, möchte ich doch einmal reinen Tisch machen, ja, reinen Tisch, und übrig bleibt mir der geliebte schwarze Kaffee, mein geliebtes Schreibgerät, meine Uhr und mein Lieblingspyjama, in dem ich zur Not auch noch auf der Straße schlafwandeln könnte, ohne sofort angehalten zu werden. Vielleicht könnte doch etwas dran sein an der Idee, einzuschlafen und nicht mehr aufzuwachen. Dann hätte ich zumindest nicht die Arschkarte gezogen. Man hat mich nicht am elektrischen Stuhl geröstet und kein Irrer hat mich in Brüssel oder in der Moskauer U-Bahn in die Luft gesprengt, sodaß mein Kopf irgendwo herumkollern hätte müssen. Und schon gar nicht hat man mich erschlagen oder auf offener Straße erstickt. Und von meinem irren Ehemann erstochen zu werden, ebenso auf offener Straße, in einem Landstrich, der sich heimatverbunden das Mostviertel nennt, möchte ich mir auch ersparen. Diese Dramen sind allesamt atemberaubend. Gleich fällt das gesamte Kartenhaus, mein Puppenhaus, meine Lebensplanung zusammen. Alles bricht zusammen, alles vergeht, auch das heimeligste Frühstückskaffeerestaurant mit seinen lieblichsten Kellnerinnen in einem Landstrich, der von majestätischen, Jahrhunderte alten Sykamore Trees geziert ist, durch die ewige Winde rauschen und Eulen nächstens auf Beobachtung gehen, während über den Wipfeln ewige Ruh´ einkehrt. Ich möchte träumen. Am liebsten einen Traum, in dem man mir alles erklärt und man mich mit Namen anspricht. Wo ich endlich einmal nicht allein bin. Wo alles höflich zugeht, so wie bei diesem sympathischen FBI-Agenten, der immer lächelt und für den die Welt eine einzige Offenbarung darzustellen scheint. Von einem Ort möchte ich träumen, in dem Kennmelodien aus der Hand Angelo Badalamentis und Lieblingslieder sonder Zahl durch die Luft schweben, Hand in Hand, nach einander, wie bei den Jukeboxen meiner Jugend. So könnte es funktionieren. Ich bitte darum. Das Chaos soll derweilen ein Anderer, der die Macht in Händen hält, abstellen. Ich bitte darum.
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Die Wende
Das Arbeiten mit der Medizin wird von einer Unterströmung getragen, derer wir gewahr werden, sobald unsere Absicht, in diesem Leben maßgeblich zu lernen, eine unbeugsame geworden und zudem mit der nötigen Disziplin gepaart ist. Disziplin und mehr noch strategisches Vorgehen im Feindesland („Das Universum ist mehrheitlich ein räuberisches“; Juan Matús). Das strategische Vorgehen kommt zuletzt, sozusagen als letzte Realisierung der Unabänderlichkeit unserer Ausrichtung, d.h. unserer Marschrichtung inmitten des Malstroms. Im Malstrom kann man nicht gegensteuern oder gar kehrtwenden. Im Malstrom der Medizin, die wahres Leben bedeutet, gibt es nur eine Ausrichtung, nämlich, nicht wie ein Narr zu sterben. Der Malstrom ist wie das Beten des „Vater unser“. Das kann man auch nicht zurücknehmen. Wenn wir das „Vater unser“ beten – und vielleicht auch noch, nachgeschoben, das „Gegrüßet seist Du, Maria“ können wir uns immerhin vorsagen, Teufel sind wir immerhin nicht. Noch sind Hopfen und Malz bei mir nicht verloren, da sind noch einige kostbare Vorräte in meinem Weinkeller. Mit dieser Ausrichtung, Glaube und Hoffnung, keimt schlußendlich auch das auf, wofür es erst recht wert ist, zu leben, das höchste Gute, wie es Christus nennt, die Liebe. Liebe zu unseren Kindern, zum Vater, zur Mutter unserer Kinder, zum Mitmenschen, zur Schöpfung. Man kann die Schönheit der Schöpfung sehr wohl auch lieben, doch erst recht wollen wir danken, all dies Wundersame wahrnehmen zu dürfen. (Hier verwende ich dieses Verbum: „Dürfen“) Wir geben uns dem Malstrom eines durch und durch geheimnisvollen Lebens auf dieser dreifaltigen Plattform hin: Disziplin, unbeugsame Ausrichtung, strategisches Vorgehen. Die Situation ist ernst, ja , sie ist noch mehr, sie ist tödlich. Ich sitze bei einem Festmahl, ein ungebetener Gast tritt ein. „Jedermann, hier bin ich, um dich zu holen.“ Mitten beim opulenten, ausgelassenen Festmahl. Das kann schnell passieren. Alexander Aljechin, der damalige Schachweltmeister, starb einsam in seinem luxuriösen Hotelzimmer in Lissabon, kurz nach dem Krieg, an einer Fischgräte. Welch unprätentiöser Tod. Doch diesen können wir uns nicht aussuchen, sagt das Volk, zurecht. Mehrheitlich zumindest nicht. Manche hingegen schon. Doch für diese Menschen ist die Medizin erstmal belanglos. (Vielleicht ist sie es ihnen dann im Tod nicht, oder nicht mehr. Vielleicht gibt es im Tod ein Umdenken. Warum nicht?) Doch wir, die Hingegebenen, die Wackeren, die Geschlagenen, die Schlafwandler, wir Nicht-Millionäre, die wir kleine Brötchen backen, wir sind eben unweigerlich hingegeben. Wir haben den Entschluß in einem Moment gefaßt, an den wir uns eigenartigerweise nicht mehr erinnern. Der Entschluß, es anders zu machen als die der Verblendung Hingegebenen. Das heißt zwar noch nicht, daß wir nicht auch verblendet sind – klarerweise sind wir es -, doch eines Tages setzt in einer wahrhaftig ruhigen Stunde eine Erkenntnis ein, die uns durch und durch auf Leben und Tod verändert. Zumeist ist es das Erleben eines reinen Verbrechens, reiner Gewalt etwa. Jener Moment, in dem in uns etwas entschieden „Nein“ sagt, so wie Stauffenberg spät, aber doch, „Nein“ sagte zu diesem Scheusal, das sich so jovial gab. Von da an wurde sein Handeln ein strategisches. Uns fehlt die Strategie noch. Wir wissen erst mal nur, was wir nicht wollen. Wir wollen nicht Faschismus, wir wollen nicht Lüge, wir wollen nicht … das Böse. Gut, wir wollen nicht das Böse, sagen wir uns. Doch weiß ich eigentlich, was „böse“ ist? Weiß ich, was seine Natur, sein Wesen ist? Kenne ich all seine Facetten? Natürlich kenne ich sie nicht. Wie also mein eigenes Böses, das sich in mir gelegentlich bemerkbar macht, ausrotten? Wie es herauszerren, dieses sich sträubende, widerspenstige Biest, dem ich nicht den Kopf abzuschlagen vermag, denn dann wüchsen ihm sieben neue nach. Dieses Wort des Herrn gibt doch zu denken. Ein Wort, das auf die alten Griechen zurückgeht. Seltsam, daß auch der Herr es verwendete, als er seine Jünger warnte. Das Böse ist nie endgültig besiegt. Es ist nur abgewehrt. Ich habe mich zu schützen. Dort fängt Schamanismus an. Der Schamane ist nur ein kleiner Zwerg, ein Niemand, und mit Recht. Diese aufgeblasenen Pimpfe, die im Theatergewand auftreten, sie sind alle nur Blender und Verführer im Dienste des Abgottes, Magog, oder „Mammon“, wie ihn Jesus nennt. Die Abgötter sind es, vor denen wir uns mehr als alles Andere in acht nehmen müssen: das Geld, die Gier, der Haß, der Eigendünkel. Wir selbst, von dem/der wir einfach so, aus festgeschweißter Laune, keck hinausposaunen, um uns drehe sich die Welt. Spätestens mit unserem Tod ist jedoch alles anders. Übermorgen schon hat man uns vergessen. Der Malstrom hingegen, in den wir willentlich eingebunden sind, der Strom des Lebens, der uns trägt und schließlich verschlingt, ihn will ich würdigen mit meinem Leben. Mit meinem Leben, somit auch mit meinem Träumen. Denn meine Träume, soviel ist sicher, haben es in sich. Nicht nur, daß sie zeitweilig erschreckend sind, nein, vor allem sind sie unerklärlich, und das Ärgerlichste an all dem, ich bekomme die Veränderung nicht hin. Eine Veränderung hin zum Erklärbaren, zum Steuerbaren. Ach, wie gern würde ich doch einmal willentlich fliegen, und sei es ein Davonfliegen aus der Bredouille, vielleicht aus dem Schlachtfeld meiner Ehe, die doch nur blutig oder, im besten Fall, öde, ekelerregend enden wird. Wieso schaffe ich es nicht zu fliehen? Davonzufliegen! Am besten dorthin, wo mich niemand kennt. In ein fernes Land. In die Südsee vielleicht (wie die Sandmann), oder wie der Merkatz zu den Aborigines. Spätestens bei der Pension sag ich allen „Ade!“ Nur damit ihr es wißt. Wie also eine Verbesserung erzielen. Antwort Carlos Castaneda: siehe oben. Die drei Säulen. Ich habe keine Garantie, doch ich pack es an. Ich suche mir nicht Herrn Reinhold Messner als Wanderpartner für den Südpol. Das kann nur schief gehen. Zwei Egomanen zücken beizeiten den Taschenfeitel. Nein, ich kann nur alleine starten, mit festem Vorsatz. Irgendwann, so hoffe ich, werde ich im Heimatland der Pinguine einen schwarzen Punkt ausmachen, der ebenso wie ich nicht in diese Eiswüste gehört. Sieh an, ein Wandersmann. Das kann nur eines bedeuten, die Zeitgenossin Erika Schinegger (oder Jutta Schutting) hat es in die Einsamkeit ohne Fernsehprogramm verschlagen. Bald setzt Transformation, will sagen: Irrsinn ein. Was soll´s? Irren ist nur natürlich, ja sogar hartnäckiges Irren ist nur natürlich. Doch irgendwann, so sage ich mir, kommt der Moment, wo ich innehalte, nach 50 Jahren vielleicht, und ich frage mich: „Aber hallo, was wird hier eigentlich gespielt? Mittlerweile bin ich bereits zweifache Witwe, ein Enkelkind ist an Leukämie gestorben, einer meiner Söhne hat die Gattin bei der Geburt seiner Tochter verloren, doch ich krebse immer noch herum und suche nach dem roten Faden. Wann endlich spricht Gott zu mir in meinen Träumen?“
Und genau das ist der Punkt, an dem sich alles wendet. Das Einsetzen eines zarten Dialogs, der anfangs nur ein Fragen an Unbekannt ist. „Wann endlich meldest DU dich?“ Das ist dieselbe Frage wie in der Diät. „Geist der Medizin, bitte lehre mich! Hilf mir bitte, mich zu reinigen und zu läutern! Führe mir vor Augen, was ich falsch gemacht habe!“ Das ist ein handfester Vorsatz. Zu ihm braucht es Mut. In der Abgeschiedenheit der Diät ist es nur eine Frage der Zeit, bis man mit sich selbst zu reden beginnt. Stoßweise zumindest. Doch in der Nacht kann es tatsächlich passieren, daß wir einen Schritt weiter gehen. Aus dem Denken wir ein Ansprechen, und aus dem Ansprechen lautes Anflehen. Flehen! So wie die Baptisten Mittwochs, Freitags und Sonntags laut flehen. Sie reden, was ihr Herz bewegt. Auf Knien, auf hartem Boden. Sie liegen nicht wie der Papst, doch sie knien. Der Papst liegt auf dem Boden. Zuweilen hat er gar kein Kopfkissen, denn es geschieht unerwartet, wie in El Salvador, der Heimat des ermordeten Erzbischofs Romero. Oder er liegt in einer Basilika, weil er den Herrn anfleht, er möge endlich kommen. Die Welt, seine Welt, steht am Rande des Abgrunds. Die medizinergebene Schülerin und ihr Mitkämpfer haben bereits eine ähnliche Ahnung. In Ayahuasca kugeln sie auf dem Boden herum, schluchzend, weinend, scheinbar verzweifelt. „Gott!“, ruft sie aus. Markus ergänzt mit leiser Stimme: „Ja, Gott! Gott, erbarme dich unser!“ In Ayahuasca. Doch was ist hier zu erbarmen?
Alles.
Und dann fällt ein Blatt vom Baum, vor unserem Schritt. Und ein Kolibri umsurrt uns. Ein Schmetterling setzt sich auf unsere ausgestreckte Faust. Und unsere Seele wird ruhig.
Der windgewellte Teich
In Reidling-Sitzenberg steht die Zeit still. Im Ortskern gilt Rechtsverkehr und 20 km/h-Beschränkung. Der Ort am Rand des ortslosen Tullnerfeldes erwartet mich zum dritten Mal, genauer, mein nunmehr, vor kurzem, bereits 80-jähriger Freund, Clemens, der früher und im Reisepaß noch Rudi hieß. So wie Rudi Kayser in Surco, Lima. Lima. Das hier ist ein 2.000-Seelen-Dorf, eines aus der Zeit Josefs II. Die Kirche stand als erstes Gebäude, eine kurzweilige Schöpfung eines lokalen Grafen, der sich Sommers an den Fuß der waldbestandenen Hügel zurückziehen wollte. Man hat den Eindruck, es wäre ein Versteck gewesen. Am anderen Ende des Dorfes ein Steilhügel, so wie Kreuzenstein bei Korneuburg, und oben ein Schloß, heute eine Haushaltungsschule. Rudi sah ich vor 16 Jahren zum letzten Mal, ein denkwürdiges Foto mit Gattin und Salomon. Meine Gattin hat Padre Clemente bis heute nicht vergessen, den umgänglichen Bartwurzelsepp, der sich 1995 und 96, als er von Herzogenburg hierher abgestellt wurde, in einen bauwütigen Berserker verwandelte, der diese knapp zwei Jahre auf einer Baustelle, dem neu instandgesetzten Pfarrhof, schlief, und der, weil er eben Maurergewand tagein- tagaus trug, sich so die Anerkennung der Leute im Flug gewann. Er, der sogenannte Spätberufene, ein ehemaliger Kürschner. Rudi ist, wie sich schnell zeigt, Geschichtsträger. Den ersten Dienst, den er mir dankens- und liebenswerterweise sogleich erweist, ist eine telefonische Auferstehungsprozedur meines bereits totgeglaubten Umberto, des exzentrischen Schauspielers, der unschuldig verarmte, weil er zu Geld nie einen Bezug hatte. Eine meiner unverrückbaren Gallionsfiguren. Umberto liegt in Laxenburg, wo er bis zu Mittag schlafen kann. Umberto, der buddhistische Meisterträumer, so wie Han Chu aus Tibet (Han Chu hieß eigentlich anders, doch dessen Aussprache des Namens verursachte in meinen Ohren immer ein Klingeln und Rauschen, samt kaltem Schweißausbruch, sodaß ich es sofort sein ließ, nach seinem spirituellen Namen zu fragen. Sein Kloster steht nicht weit von Amdo), der, so munkelten die Dolmetscher, zwanzig Stunden am Tag schlief. Umberto bekannte mir dies unverhohlen, als ich ihn mit Delia Rosenkranz zum ersten Mal in Reichenau an der Rax aufsuchte und wir sogleich über sein Bett im größten, geradezu weitläufigen Raum seiner Mietwohnung stolperten. Das Bett war asymetrisch aufgestellt. Ich deutete nur hin. Umberto verstand, was ich sagen wollte, zumal ich in seiner Gegenwart nie groß reden wollte, ja nicht einmal den Ansatz von Lust verspürte. „Das ist das Zentrum meines Lebens. Von hier aus erschaffe ich die Gegenwelt. Wenn dies, sofern du es wissen möchtest – natürlich willst du es wissen!-, den Pakt mit dem Gepelzten bedingen müßte, würde ich ihn sofort eingehen, denn der Zottelbär wird ja als Hüter der Welt dargestellt, wenn du die Bibel genau gelesen hast. Der Gehörnte hat ein Interesse an der Erhaltung der Welt, im Besonderen der Tier und Pflanzenwelt. Er liebt die Vielfalt. Und deshalb scheut er nicht davor zurück, es allen menschlichen Übeltätern heimzuzahlen. Wer kann ihm dies verdenken?“ „Hubert, du steuerst die Weltneuerschaffung an.“ „Klar, kluger Mann. Und das punktgenau, ohne Unterlaß.“ Ich suchte instinktiv seinen Blick. Hubert wußte, daß dies meine Reaktion sein würde und hatte flugs bereits wieder die Maske des Jovialen, den die Welt aber ganz und gar nicht interessierte, ja nicht im Mindesten behelligen konnte, aufgesetzt. Nicht diese Welt, die verunstaltete. Die mit Autos, Lärm und geschäftiger Hektik gefüllte. Hubert hätte niemals ein Auto gesteuert. Das war ihm zutiefst zuwider, so wie Onkel Bernardo und Wucherer Huldenfeld. Umberto lebte in der Welt des Theaters, der Oper und deren Arien. Clemente hingegen steuert seinen Mitsubishi wie ein Förster durch die Auen und ist daselbst auch wie einer gekleidet. Weich fließendes, dickes, wärmendes Hirschledergilet im Alpenstil mit grün leuchtender Steppnaht. Ein Besucher von fern bei einem fuchsigen Einsiedler. Er bringt mir also die Toten zum Leben, ganz unerwartet, Christian Dauerböck, den im genialen Jugendalter gestorbenen „Starorganisten“ von St.Florian, und Eugen Pell, dem Georg Friedrich Händel-Spezialisten und Chorleiter, der einen zweiten Friedrich Nietzsche abgeben hätte können, hätte er sich für einen martialischen Schnurrbart entschieden. Der seine war nur eine vorübergehende Schmalspurausgabe in Schwarz, die ihm dennoch gut stand. Eugens Markenzeichen war Kulturkritik und maliziös zur Schau getragene Skepsis gegenüber allen Weltinterpretationen. Nach Christians Unfalltod war er dessen Nachlaßverwalter, so auch der Partitur von Emerson, Lake and Palmer, rockig gespielt auf einem Moog-Synthesizer. „Er spielte auf unserer Orgel in Herzogenburg von elf in der Nacht bis drei in der Früh. Ich war eine Zeitlang bei ihm, bevor ich ins Bett ging. Er spielte vollkommen im Dunklen, ohne Beleuchtung. Das Mondlicht genügte ihm. Vollkommene Ekstase, wie ich es nie mehr erlebt habe. Der Eugen erzählte mir, in der Nacht vor seinem Tod klopfte Christian ihm an die Scheibe. Der Eugen stand auf. Draußen steht der Christian und winkt ihm freundlich zu. So nahm er Abschied von ihm. Am nächsten Tag wurden er und Augustinus Kropfreiter in der Nähe von Udine auf der Heimreise auf einer vierspurigen Schnellstraße von einem Italiener frontal abgeschossen.“ Rudi steht auf und geht über den Flur hinüber in seine Zelle, von wo er die Sterbeparte hervorkramt. Eugen starb somit erst 2015, am 29.September. „Seltsam. Der Geburtstag meiner Schwester Belli. Ich dachte immer, es wäre zehn Jahre früher gewesen.“ Wir gehen hinüber in sein Zimmer, sechs mal sechs, alles in einem. „Nur die Dusche habe ich drüben, am Klo. Sonst alles in einem, auch die Waschmuschel fürs Zähneputzen und die Katzenwäsche.“ Er kramt die Hochzeitspredigt für Martha und Hannes hervor, 1982. Erinnerungen steigen auf. Die Zeit des Wiener Vakuums. Der Limbus der Hitler-Besetzung aus 38. Ich bin versucht, ihn zu fragen, ob es in der Dorfchronik Aufzeichnungen zur Ermordung der freigelassenen Häftlinge aus Stein in den letzten Kriegstagen gibt, lasse es aber dann. Rudis Gesicht freundlich. Siehe da, er werkt mit einer Wünschelrute, einem Tendor, herum. Ich will wissen, was bei mir anschlägt. Seltsamerweise dreht sich mein Freund gar nicht nach mir um, sondern bleibt an seinem Schreibtisch sitzen, so als wäre es das Normalste dieser Welt. „Könnte es sein, daß du Gaskammergeruch in der Lunge herumschleppst?“ Nun gut. „Was machst du dagegen?“ „Viele Kilometer Wandern, im Busch.“ „Paßt. Weitermachen.“ Wir fahren zum Wirten. Der Dorfpfarrer wird von allen gegrüßt. Wortwechsel nach rechts und links. Wir bestellen Menü, zweimal Reisfleisch. Das letzte Mal vor 30 Jahren. Könnte hingehen. Eine Dame kommt hereingewatschelt. „Mächtiger Wind stürmt auf. Was will er nur?“ Tatsächlich, draußen biegen sich die Bäume, doch keinerlei Wolken. Das soll uns nicht anfechten. Die Dame verzehrt mittlerweile ihr Menü mit zitternden Händen. „Rudi, wer bedeutet dir mehr, soll heißen, zu wem hast du eine tiefere Beziehung: Gott Vater, Jesus oder dem Heiligen Geist?“ Clemens konzentriert sich ehrlich. Ein Hustenanfall überkommt mich aus dem Nichts. Ich weiß, Hustenanfälle sind heutzutage sofort verdächtig, doch ich bin mit Babywindel adjustiert. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. („Die schon schwanger ist“, kommt es lakonisch von der Seite.) Ich kann es der Dame am Nebentisch am Gesicht ablesen. Ihr Zittern verstärkt sich nochmals, doch sie weiß, ein anschuldigender Blick verbietet sich. Der Pfarrer ist nicht mit Todkranken unterwegs, um mit diesen frischfröhlich zu speisen. Danach eine Wanderung um den Teich. Es windet so stark, daß es überall rauscht. Der weite, schön angelegte, sauber gehaltene Teich kräuselt sich in schmalen Rippen. Die schwarzen Schatten der Karpfen knapp unter der Oberfläche. „Acht bis zehn Kilo-Brocken, gute fünfzig Tonnen im Spätherbst. Die Fischhändler stehen schon Schlange, wenn abgelassen wird.“ Auf der anderen Teichseite eine umgestürzte Pappel. „Pilzbefall“, kommentiert mein Führer fachkundig. „In der Au ist es noch schlimmer. Manche Stämme brechen einen Meter über dem Boden ab, manche in zwei Metern Höhe. Das war früher nicht. Der Pilz. Ohne Wind, bitte. Letztens geschah es direkt bei mir am Weg. Wie ich nach einer halben Stunde zurückkehre, ist der Weg versperrt. Bei Windstille, bitte. Da ich aber vorgewarnt bin, führe ich immer eine Motorsäge mit mir. Denn sonst bliebe ich eingesperrt. Wer ahnte denn sowas?“ Weiter vorne hält ein Schwanmännchen Wache. „Er hat elf Küken. Die sind mit der Mutter im Grünschilf. Elf graue. Erst als Erwachsene mausern sie sich.“ Ein einladender Steg hinaus, draußen ein Ponton. Kurzentschlossen entledige ich mich meiner Kleider und stürze mich hinein, um mich dieser gewissen nachfrugalen Kopfschwere zu befreien. Ein Bad in Österreich nach hundert Jahren, schon wieder ohne Badehose, man verzeihe mir. Das erfrischende Wasser vertreibt mir alle Sorgen und Mühen im Nu. Eine Zeitlang mime ich treibendes Holz. Ja, Karpf Sein macht Sinn. Jetzt haben wir also doch den Naturlehrpfad zurückgelegt, fehlen nur mehr Professor Antal Festetics, der Stoiker aus Ungarn, und Otto König vom Wilhelminenberg („Rendezvouz mit Tier und Mensch“), wie sie aus dem Gebüsch hervortreten. Der eine auf seinem Rappen („Der Mensch muß sich als Tier mit den Tieren vertragen, sonst strandet er“), der andere in seiner Safariuniform am Samstagnachmittag („Tiere können Menschenleben retten. Vergessen wir das nie. Erbarmen wir uns dieser Geschöpfe!“). Gott hab sie selig. Langsam weiß ich, was Heimat ist. Das Land meiner Toten. Ach ja: Rudis Antwort auf meine Frage: „Jesus. Wegen der überlieferten Gesprächsbasis.“ Da hat er recht, der Gute. Mir kommen auch gleich die Bedln. „Wie wir Quarantäne hatten, durften wir die Messe nur zu dritt feiern. Das war hart. Wirklich hart. Besonders zu Ostern. Die Osterwoche nur zu dritt. Die Osternacht…“ Und aus den Augen meines Freundes quellen Tränen. „Doch geläutet habe ich immer. Die Leute sollten wissen, die Messe läuft. Immerhin, die Predigt konnte ich mir ersparen. Ein Drama. Die alten Pensionisten in den Pflegeheimen hat es fortgeheigt wie nur was. Aber nicht das Virus, sondern die Einsamkeit. Sie verstanden nicht, daß monatelang keiner mehr kam. Erst recht die fortgedämmerten, die wie Pflanzen sind. Die leben vom menschlichen, freundlichen Gesicht, auch wenn sie das eigene Kind nicht mehr wiedererkennen. Unsere Regierung war schlecht beraten.“
Die Zerreißprobe der Unwirklichkeit
Zweifelsohne: die Angst, die in uns schlummerte, wurde durch dieses unvorstellbare Virus, das nur eines von unzähligen ist, zutage gefördert. Eine Angst, die schnell alle Grenzen des Gewöhnlichen zu sprengen bereit ist. Eine latente, kollektive Todesangst. Nur so ist es erklärbar, daß in Peru eine Weltuntergangsprophezeiung landauf, landab über Nacht grassieren und die Bevölkerung in einem Ausnahmezustand schlimmster Befürchtungen gefangen nehmen konnte. Die simple Prophezeiung eines somnambulen Kindes, das theatralisch seine Ankündigung von Seiten der Geistwelt über die Lippen lallen durfte und sofort schreckerfülltes Gehör fand. („Eine Rauchsäule wird aus dem Ozean emporsteigen und das gesamte Land verdunkeln“). Und das inmitten der Quarantäne, so als genügte diese in ihrer Hirnrissigkeit nicht bereits zur Völle. Die schreiende Absurdität einer Maskenunkultur und Maskenwirtschaft schlimmsten Ausmaßes (einzelne Masken von Indianerhand oder Pseudoindianerhand, offenkundig industriell im Schnellverfahren gefertigt, das Stück zwischen 10 und 20,- Euro), bei der eines ganz zuvorderst verboten ist, nämlich das eigene Denken, und somit ein Denken, das Fragen stellt. Fragen zu stellen ist verboten, desgleichen das Ausscheren aus behördlichen Geboten. Wenn mir vor einem Wort ekelt, dann ist es „die Behörde“. Als wenn es die Instanz der Allwissenheit wäre. Ausgeburt der schlimmsten Albträume Franz Kafkas. Der dachte genauso. Die Behörde und ihre Verordnungen. Zum Beispiel das Verbot, schmutzige Verkehrskennzeichen mit Schwamm und Seifenlauge zu waschen. Man könnte ja von der Leiter, die gar nicht gebraucht wird, fallen. Das ist das Gesicht des Faschismus. Ein blaßhäutiger Bürokrat in Anzug und Krawatte. Adolf Eichmann trug auch auch Anzug und Krawatte, wenn er zivil war. Josef Mengele, dessen Vornahme an seiner Person die reinste Gotteslästerung darstellte, ebenso. Der Faschismus vergewaltigt jeden und alles. Er wird aus Angst geboren und führt zur Massenvernichtung. Das erkannte Sophie Scholl ganz klar. „Wir geben unser Denken ab und verwandeln uns in gesichtslose, grölende Massenwesen.“ So wie die Zombies von George A.Romero. Das waren seine Supermarktzombies, Ende der Siebziger Jahre. 2010 kamen die Weltkriegszombies, mit Brad Pitt. Eigenartig, daß er sich für ein solches Machwerk hergab. Der Größenwahn geht in irgendeiner Weise immer mit dem Verfolgungswahn einher. Ja, der Größenwahn ist eine ernstzunehmende Krankheit. Gerald Butler, so gesellig er sich geben mag, hat auch ein Faible für diese Schinken. „Olympos has fallen“, „London has fallen“, und zum Drüberstreuen auch noch ein Atom-U-Boot-Spektakel gegen die Russen, ganz in der Manier der Abkupferung des „Roten Oktobers“ mit einem durch und durch noblen, gesetzten Schotten namens Sean Connery. Sean Connery hat Roger Moore überlebt. Roger Moore, der praktizierender Yoga-Anhänger war, wie mir zugetragen wurde. Ein Schüler von Bhagavan Sattyananda, diesem gutbäuchigen, hochgewachsenen Bauern mit dünnen Beinen, der auch immer nur nackt und barfuß herumwatschelte. Ach, wie sehr wünsche ich mir eine Wiederauferstehung dieser indischen Yogi-Kultur aus den Fünfziger Jahren und davor. Das Virus derweilen ist eine einzige Lüge. Sie terrorisieren uns mit Hetzparolen, doch von Rußland, Indien, Indonesien, Nigeria und Kenya berichten sie nicht. Sie handhaben ein Terrorvokabular. „Superspreader“. Und alle reden diese englische Wort nach. „Hotspots“. Doch wahre Brennpunkte findet man woanders. Chernobyl ist ein hotspot. Die Wallstreet ist ein hotspot. Und die Magmakammer vor Hawaii ist ein hotspot. Und ansonsten haben wir einen globalen hotspot in der Luft und in Gestalt des Irrsinns der menschlichen Gier und deren Umtriebigkeit. Wann endlich steht alles Treiben still? Das war ein Gedanke Claude Lelouches. Eines Morgens erscheinen zwei Sonnen am Himmel. Alles steht still, gafft und staunt. In „The day after“ (mit dem unvergessenen Jason Robards, der einen Arzt mimt), sind es zwanzig Minuten, während derer alles zusammenbricht. Einige sehen die Rakten aus den Silos hochsteigen. Es verschlägt ihnen die Sprache. Einer findet den Mut zu kommentieren: „Wie lange brauchen sie bis Rußland? Zwanzig Minuten.“ Und er und sein Nachbar blicken sich an. Sie denken beide das gleiche. Zwanzig Minuten. Dann macht es in zehn Kilometern Höhe zischend „Blobb“ und der Lichtblitz fällt herab. Das alles ungeachtet unserer Kinder, denen die Zukunft gehört. Und nur ihnen gehört die Zukunft, und wir sollten das ohne den geringsten Neid und ohne das geringste Jammern über das Altern anerkennen. Doch nein, das tun sie nicht, diese Verblendeten, die dem Abgott huldigen, und das tun sie schon seit Jahrhunderten. So wie Liza Minelli singt: „Money makes the world go round, the world go round, the world go round…“ Eine von unzähligen Lügen. In 200 Jahren, ich bin mir völlig sicher, wird es kein Geld mehr geben, doch die Welt wird sich immer noch drehen. Was ist das für eine Krise? Es ist eine Krise, die uns zum Himmel rufen läßt. Ein Heulen und Zähneknirschen. Die Kinder kennen es. Das tut mir weh. Sehr weh. Die Alten in den Pflegeheimen sterben aus Einsamkeit. Es ist zum Heulen. Was können wir tun? Sie besuchen. Jetzt zählt Mitmenschlichkeit. „Nächstenliebe“ nannte es Christus. Gebot Nummer 1b. Ich muß mich besinnen. Was bleibt mir Anderes übrig?
Ein Hauch von Schwermut
Das Leben im Wald ist Rettung. Es ist Rettung für alle Wesen, auch für die in den Gewässern. Der Waldmensch ist ein friedlicher, denn er lernt von Kindesbeinen an, mit den Kreaturen des Waldes zu leben. Die allermeisten sieht das Kind ja gar nicht. Es hört sie nur. Hört sie Tag und Nacht. Die Zikaden, die sich ablösen. Morgens die großen, nachts die kleinen. Der Waldmensch schläft viel, bei jeder Gelegenheit, so wie die Tiere, allen voran das Faultier, das sein Namen natürlich gänzlich zu Unrecht trägt. Doch am Faultier kann ich mir ein Vorbild nehmen. Alles, was es tut, vollzieht es gemächlich. Was für ein Phlegma. Geradezu der existentielle Gegenentwurf für ein Leben der Sinnlosigkeit. Ein Leben triebhafter Hektik, der niemals Gutes entspringen kann. Das Faultier verrichtet seine Notduft nicht am Ast oben, an dem es hängt. Dies anzunehmen wäre krasser Irrtum. Das Tier begibt sich gemächlich hinunter an den Stamm, wo es eine Toilette unterhält. Das ist eine Prozedur von mehreren Minuten. Das Faultier lebt ein Leben lang stumm. Naiv blickt es mit seinen großen, schattiert umrandeten Augen in die Welt hinaus, immer in Schieflage. Eines meiner Libelingstiere, und nicht nur meiner. Auch die Kinder staunen im Zoo, sobald sie an den Vitrinen vorbeigehen und die zusammengerollten Pelzvertreter schon wieder in ihrer Koje mummeln sehen. Freilich, da fährt das Teufelchen im Nu in das Kind und es kann nicht anders als sich als Störenfried zu gebärden. Und schon klopft es an die Fensterscheibe. Es ist zum Weinen. Kein Elternteil schreitet ein. So bewahrheitete es sich jeden Tag aufs Neue, Zoos zeigen uns mehr über die Menschen als über die dort gehaltenen Tiere. Doch zurück zur freien Wildbahn. Der Wald lehrt das Träumen. Er verwandelt das Wesen. An Herrn Stohrl ist es von weitem erkenntlich. Friede, Mitgefühl, Gelassenheit. Stohrl, wäre er nicht ein untersetzter Waldschrat, gäbe mit seinem knorrigen Stock und dem langen Bart einen herrlichen Rübezahl ab. Rübezahl wandert in der Dämmerung und in der Nacht, deshalb fürchteten ihn die Tschechen. Vielleicht heute noch ein paar Kinder. Trotz seines freundlichen Brummens. Der freundliche Riese, der uns den rechten Weg weist, sobald wir uns verlaufen haben und die Angst, vielleicht nie mehr zurückzukehren, in die Knochen fährt. Das Nie mehr Zurückkehren in die verloren gegangene Kindheit, weil wir uns ausgesetzt fühlen in den Schrecken und Wirrnissen der Wildnis, für die wir uns nicht geschaffen wähnen. Doch dies ist ein Irrtum, den bereits Robinson Crusoe zu berichtigen gezwungen war. Wir sind für die Natur geschaffen, mehr als alles andere. Und wir sollten zu ihr zurückkehren. So wie Walter Engetsberger, der vom Tod Gezeichnete. „Du kannst mich hier verschwinden lassen, Wolfgang“, murmelte er, mir direkt ruhig in die Augen blickend. Verscharre mich und setz ein Bäumchen über meinem Leichnam. Ich verspreche dir, ich lasse es wachsen.“ Die Toten, die Otorongo erlebt haben, nehmen es wie einen Hauch mit. Und zuweilen, wenn sie Ausgang erhalten, kehren sie zu uns zuück. Sie, die nicht Verfremdeten. Ihnen, den Seelen, ist es ein Leichtes, sich in das Träumen einzuschleichen. Wer die Toten erlebt, wird unwiderstehlich in deren Sphäre gezogen. Er schlittert in sie von höherem Gesetz hinein, weil sich ihm im Hineinschlittern eine fundamentale Wahrheit offenbart, die Vergänglichkeit des Seins, die nirgendwo festzumachen ist. Gleichwohl, wie will ich es der von ihr berührten Person verargen, wenn sie den Schrecken zu überspielen versucht? Das tun wir doch alle. Im Ansatz. Es braucht Ruhe, um die Angst, die eingetrichterter Ängstlichkeit entspringt, gemächlich, mit Bedacht, abzuschütteln. Das Träumen hilft uns dabei massiv. Das Träumen, die Pflanzen, die Tiere und der von Gott gesandte Mitmensch. Dieses kindliche Träumen macht uns anspruchslos. Mit der Anspruchslosigkeit beginnt unsere wahre Essenz wie Bernstein unter dünner Haut auf- und zugleich durchzuglimmen. Im Träumen regelt sich alles, über kurz oder lang, und es regelt sich von selbst, denn es wird von einer Wirkkraft getragen und durchdrungen, die unseren Eigenwillen, unsere Sturheit, unseren Trotz, unsere Dummheit und, das zuvorderst, unsere Trauer auf bekömmliche, liebliche und dennoch hartnäckige Weise auflöst. Die Träumer werden weltfremd. Doch gleichzeitig erschaffen sie die Welt neu. Und man sieht es ihnen an. Träumer sind ehrliche Menschen. Soviel steht fest. Sie sind keine Verbrecher. Sie mögen ungeschickt sein, lethargisch und Zweifelnde. Doch es bleibt ihnen nicht erspart, die Wahrheit, die sprechende Wahrheit, trotz aller eigener Gequältheit sprechen, und immer wieder sprechen zu lassen. Solange sie sprechen zu lassen, bis sie das Gesagte hören und danach, nach Momenten stummer Betroffenheit, verstehen. Und mit dem Verstehen es anerkennen. Und niemand enthebt mir diese Pflicht. Die Qual der Verpflichtung zur Selbsteinlösung. Erkenne ich es?
Besuch bei einem Freund
Vergangene Woche ging es in die Vergangenheit, hinaus aus der Stadt, die altbekannte Straße am Flughafen vorbei, Carretera Iquitos-Nauta. Lange ist’s her. Das letzte Mal war 2014. Ich kann’s fast nicht glauben. Tatsächlich, 2014. Damals galt mein Besuch dem Shipibo-Meister, dem ehrwürdigen Herrn Arévalo. Damals hatte ich noch nicht mit der Mutter des Meisters gerechnet, Doña Maria. Neben mir saß zum wiederholten Male ein Schweizer, ein höflicher junger Mann, dem ich, Gast, wie er war, einen Vergleich zur abgeklärten, etwas abstrakteren Medizin von Otorongo bieten wollte. Das war kurz vor der Ermordung von Doña Olivia, der Chefin der Shipibo-Curanderas, durch den Kanadier, bei Pucallpa. Ich fiel also (Wirkung der mit Mapacho gestopften Haselnusspfeife von Doña Maria; ein Zwutschkerl, weiter nichts) unerwartet, doch gleichzeitig quälend langsam ins Nichts und verlor das Bewußtsein. „Das war das letzte Mal“, hatte ich mir noch Sekunden zuvor geschworen. Mein Herz raste unbekannt schnell und wie ohne Grund, dann war ich weg und kam erst wieder zu mir, als mich Guillermo, vor mir im Schneidersitz sitzend, an den Fußsohlen kitzelte, weil er mir ein Lied vorsingen wollte. Ich rappelte mich von meiner Querlage hoch, um halbwegs vorzeigbare Figur abzugeben, doch gleichzeitig hätte ich auch nicht beantworten können, warum mir diese Ehre zuteil wurde. Ringsum Geister im gespenstischen Scheinwerferlicht. Gar nicht untypisch für Guillermos Medizin, damals von Don Walther gebraut. Der Geheimnistrunk der Indios, wie nicht anders zu erwarten. Gut, diesmal, heute, war nicht Kilometer 13 meine Zieladresse, sondern Kilometer 9, Ron Wheelock, mein ziemlich gleichaltriger Wahlbruder seit 1999, auch er Schüler Agustins, wenngleich in anderer Strickweise, und auch er Castaneda-Kenner samt einschlägigem Tatoo auf die Lektüre von „The Eagles Gift“ hin. „Ron wohnt auf Kilometer Neun“, instruiert mich Martin. „Neuerdings bin ich sein Nachbar. Ruhige Gegend. Wirst sehen, Doctor.“ Wir rattern also los, beide mit Brille wegen des notorischen Straßenstaubs in der öden Industriezone. Es ist Sonntag und fast kein Verkehr, naßfeuchtes Wetter, geschlossene Bewölkung. Am Fluß vorhin noch Kentergefahr wegen hoher Sturmwogen, doch der Wind legte sich und die jammernden Frauen durften sich wieder beruhigen. Wir erreichen also Kilometer 9, den Garten von Edén, der Luxusfriedhof, wo Eva Zingerle begraben liegt. Direkt gegenüber, rechts, die Abbiegung. Das Caserío hat keinen Namen, doch alles wirkt ungewohnt, doch angenehm weitläufig und unvermüllt. Einfache Hütten, sogar ein Spielplatz und ein Schwimmbad. Die Wege schlaglochdurchwirkt, doch nicht allzu schlimm. Ruhe allüberall. Martin tuckert unverdrossen mittendurch, es ist ja sein Zuhause und immerhin haben wir 60,- Soles Fahrpreis ausverhandelt. Hin und Zurück, versteht sich. Es geht zum Ende hin, dort, wo der Wald beginnt. Siehe da: ein Schlupfloch in einem Labyrinth von Blechdachzäunen. Der Weg rumpelt um zwei Ecken, dann stehen wir vor Rons Hazienda. Das beengte Panorama könnte aus Afrika stammen. Mein erster Gedanke. Wie wohl! Hinter dem Haus dunkler Wald, eigentlich ungewohnt, davor und rechts und links hochgezogener Wellblechzaun. Sicherheitsmaßnahmen. Wegen der realtiven Abgeschiedenheit nicht verwunderlich. Ein schmales Eingangstor, der Weg regennaß. Der Hausherr begrüßt mich standesgemäß, barfuß und mit nackter Brust, in kurzer, ausgefranster Jean. Das Haar zeitlos lang an einem sonst kahlen Schädel. Das Markenzeichen von Mister Wheelock. Das Hausinnere ganz so, als wären wir in New Mexico. Bilder an den Wänden. Ein schwarzer Panther. Ein übergroßer Fernseher an der Wand, stilvoll in Holz eingerahmt. Immerhin: das Wohnzimmer eines waschechten Gringos. Ich fühle mich auf Anhieb wohl und nehme auf einem Ledersofa Platz, wo ich sofort von zwei zutraulichen Hunden, die ja eigentlich scharfe Wächter abgeben müßten, beschnuppert werde. Der eine scheint sich bereits in mich verliebt zu haben, denn seine Schnauze ruht perfekt eingepaßt in meiner Leiste, sein Blick treuherzig ganz mit dem meinen gekoppelt. Sei’s drum, sage ich mir, das paßt doch alles perfekt. Ich bin bei Ron, endlich, was will ich mehr? Martin catcht sich derweilen unaufgefordert in die Hängematte und legt mit seiner Schaukelei los, während wir auf Englisch loslegen, wir haben einander ja viel zu erzählen. Karina, Rons bildhübsche peruanische Gefährtin, wie eine Luxuskatze ungezwungen neben ihm. Martin hatte mich bereits vor ihr gewarnt. („Der Ron hat Geschmack. Den echten Frauen gefallen ja die häßlichen Männer.“ „…und Verbrecher, willst du sagen.“ „Ja, genau. Und Totkranke, die noch am Sterbebett die baldige Witwe über sich lassen.“ „Von wo hast du denn das her, Martin?“ „Von mir, Doktor, wenn du’s genau wissen willst. Du erinnerst dich ja, wie ich vor ein paar Jahren schwere Diabetes hatte. Dem Ron verdanke ich mein Leben. Ein Monat harte Diät, mit Abuta und Madre.“ „Madre? Tatsächlich?“ „Ja, Doktor. Madre vom Allerhärtesten. Jeden zweiten Tag.“ „Wenn du das überlebst, bist du ein echter Hund, sagte mir Ron. Und ich hab’s überlebt, wie du siehst. Seitdem weiß ich ein bißchen mehr von mir.“) Es gibt genügend Stoff, das Virus, die Medizin, Tamshiyacu, die letzten Einsätze in Costa Rica und Texas, die letzten Gäste und, neuester Tratsch, die Jaguarsituation. Wir halten unsere jeweiligen Anekdoten griffbereit auf Lager. Agustin, so Ron, hat vor ein paar Wochen aus dem umtriebigen Jaguarweibchen, das ihm 8 Hunde und die gesamte Entenpopulation (zum zweiten Mal nach 2013) gerissen hatte, den Garaus gemacht, mittels einer Falle. Als Köder diente einer seiner letzten Hunde. Ein fachgerecht zusammengezimmerter Doppelkäfig mit einer Trennwand. Der Jaguar spaziert hinein und: Plumps. Was für ein Schreck für den Lockhund. Zuerst dachten sie noch ans Weiterverkaufen, doch in Quistacocha sind alle Tiere verendet, denn es gab in der Pandemie letztes Jahr keine Besucher und so auch kein Futter. Traurig. Was also machen? Kurz entschlossen erschießen sie die Katze, und weil bei unserem Hexer dem schamlosen Experimentieren keine Grenze gesetzt zu sein braucht, verspeisen sie das Tier erstmal im Selbstversuch. Lebensmittel sind ja teuer. Ron bekommt den Rest vom Schützenfest, als er in Yushintaita dem Meister seinen Höflichkeitsbesuch abstattet. „Chicharrón del Tigre, schmeckt ein wenig wie Cecina, nur zäher.“ Nach einer knappen Stunde schreiten wir gemessenen Schrittes zum Motiv meines Besuches, er weiß, ich suche Medizin für ausgewählte anspruchsvolle deutsche Gäste. Er öffnet seinen Schrank voller Schätze und läßt mich eines der schwarzen Pastapakete befühlen. Klassische Mischung, ohne jeden Sonderzusatz, wie er lakonisch anmerkt. Der Preis ist stolz, außerhalb meines momentanen Budgets, was ich ihm unverhohlen kundmache. Mein kleines Geständnis inkommodiert den Freund ganz und gar nicht. Offenkundig geschieht so etwas nicht zum ersten Mal. Elegant legt mein Freund das Paketlein wieder zurück und öffnet mir in der wie eine niedrige Waschküche mit schwachem Licht wirkenden Kammer eine mit einem schweren Stein gesicherte 150 Liter-Tonne. Dunkelbraune Melasse wabbert mir entgegen. Was ich hier mit nüchternem, gar nicht erstaunten Blick wahrnehme, ist offenkundig Fort Knox, und vor mir steht der Schatzmeister der US First Reserve. „Zeigst du mir, wo du das alles braust, Ron?“ „Kein Problem!“ Wir gehen ein paar Schritte hinaus in den umzäunten Garten. Mehr brauche ich nicht zu sehen. Eine industrielle Anlage. Der Mann hat hier Brenn-Installationen aufgebaut, die einer schweren Schmiede alle Ehre geben würden, bis hin zu 3 Kubikmetern Festholz. „Die Kessel sind aus Stahl“, klärt er mich mit glänzenden Augen auf. „Aus Quispe. Zuerst um 1.800,- Soles das Stück, ganz zufällig, welch ein Glück! Kannst du dir das vorstellen, Wolfgang? Zuerst habe ich gezögert. Nach 2 Wochen schaute ich wieder bei ihnen vorbei. Das Stück nur mehr um 900,- Soles. Die Hälfte! La Madre meint es wirklich gut mit mir! Und weißt du, was das beste ist? Mir wurden Wurzelstöcke angeboten, 20 Jahre alt. Soooo dick!“ Und Ron öffnet die beiden Handflächen. „Kein Wunder, daß das dabei raus kommt. Doch eines mußt du wissen, Wolfgang. Letztens habe ich Chacruna geschenkt bekommen, also habe ich es experimentell verkocht, auch wenn ich seit Huambiza bei Chacruna keine Wirkung zeige. (Wenn Ron von „keine Wirkung“ redet, meint er es auch so). Wie überrascht war ich, als ich beim kurzen Austreten feststellen mußte, daß sie beschlossen hatte, mich zu überfallen. Natürlich habe ich mich bei ihr bedankt.“ Und seine Augen lächeln und glänzen treuherzig. Ich sehe das Naß in ihnen, wie bei einem Mystiker. Wie bei Wucherer Huldenfeld, kommentiert es mir die Mutter ein paar Tage später in der Nacht. „Du schreibst bitte über ihn“, kommandiert sie. „Schlußendlich ist er dein Freund und er genießt meine Gunst. Haben wir uns verstanden?“ „Ja, Mutter.“ „Du fragst dich also, warum mixt er die Mördermischung, Stufe 10, und du bekommst mich in der Textur für Hasenfüsse, egal, was du anstellst. Ist es nicht so?“ „Ja, Mutter.“ „Die Antwort ist ja klar: Er ist ein Bauer aus Kansas, die Kalifornier machen dewegen einen Bogen um ihn, er fährt eine antike, schwere Harley, wie du gesehen hast, hier in Iquitos, bitte schön, und du bist ein englischer, vatikanverbrämter Sir mit entsprechenden Teegewohnheiten. Glaub mir: Besser so! Er jagt den Leuten mit seiner Medizin keinen Schrecken ein, weil sie wissen, Ron kann niemals ein Teufel sein, du aber bist ein versteckter Teufel, und deswegen zucken alle Frauen schnell bei dir aus, weil sie in sich spüren, wie der Feuerschlund der Hölle in ihnen aufgeht. Bei Ron holt man sich nur den Tod, bei dir aber den Wahnsinn. Das ist nur gerecht. Aber vergiß, was ich dir da sage, denn du weißt es ohnehin schon längst, und mit meiner Zuwendung brauchst du nicht zu onanieren. Das weißt du ja auch, oder?“ Ich murmle zu allem Ja und Amen, finde aber keinen nachfolgenden tiefen Schlaf. Das Käutzchen draußen beginnt seltsam aufgeregt zu gurren und ich gleite wieder fort in einen Halbschlaf des Zwielichts. Die Medizin holt mich nach kurzer Weile nochmals zurück und klärt mich unmißverständlich auf: „Agustin hat dir vorgestern im Vorbeifahren die Hand gereicht. Nach all den Jahren. Dein Gruß zuvor hat ihn massiv bewegt. Er wußte sofort um den Moment. Er weiß, er hätte bei seinem Unfall sterben können. Er und Marlene. Direkt vor der Haustür. Ihr alle seid unterwegs. Ihr laßt euch läutern, und ihr werdet geläutert, jeder auf seine Weise. Mehr muß ich nicht sagen. Sei froh, daß du gesund und am Leben bist. Alles Weitere erschließt sich dir im Gebet. Jeder betet auf seine Weise. Wußtest du das?“ „Ja, Madre, irgendwie schon. Zeitweise ärgert mich das sogar.“ „Wissen wir. Muß es aber nicht. Ihr seid alle Geschöpfe, und ich auch. Also mach weiter und laß nicht nach!“
It is happening again
Carel Struycken, der Feuermann. Fire walks with him and not with him.
So wie wir vor Äonen, zu einer Zeit, die schon wie unwirklicher Nebel zu verblassen beginnt, an den Wochenenden in den Diskotheken unserer Jugend Ausschau nach dem Leben zu halten pflegten, so geschieht es noch heute, wenngleich unter modifiziertem Gefühl, in Kanada, den USA, Grönland und in Tokyo, doch so wie es damals geschah, geschieht es, traurig, aber wahr, nicht mehr heute, denn damals, damals, zu unvergessener Zeit, wirkte David Lynch im Regiestuhl und Julee Cruise im roten Kleid sang im Road House von Twin Peaks in tiefer Trance von der Rotation der Erde um die eigene Achse, so wie wir rotieren um unser Selbst, die Instanz, die seit Menschengedenken unser größter Wert sein will, und sie sang von der Nachtigall und deren abendlich nächtlichem Gesang von der Sehnsucht nach vergänglicher Liebe, einer Liebessehnsucht, die uns spannt, – und zumeist überspannt. Die Menschen, all die, wie sie damals waren: Matrosen, Prostituierte, Jugendliche in Spannung, Vergnügungsüchtige, Polizisten, ein einsamer Militär, und all die Heerscharen der Einsamen, sie alle, die heute schon nicht mehr sind, sie trafen sich damals, 1986, im rauchgeschwängerten Road House, aus Nah und Fern kamen sie. Agent Dale Cooper alias Kyle McLaghlan, Sheriff Truman und die Log Lady, die gewissenhaft auf ihr Holzscheit hört, das sie wie ein Baby im Arm trägt, weil es zu ihr spricht, das Holzscheit. Agent Cooper, wie immer in vorbildlicher Adjustierung, macht sich nicht einmal die Mühe, sich seines langen Trenchcoats zu entledigen, sosehr schlägt ihn die Atmosphäre in diesem großen Saal mit Bühne augenblicklich in Bann. Er läßt sich nieder, während Sheriff Truman ein Bier bestellt und die Log Lady, sichtlich mit Appetit gesegnet, Erdnüsse fachgerecht aus der Schale polkt. Die Idylle schlechthin. Drei Menschen in gegenseitiger Geduld, ja Sympathie, an einem Tisch. Und Andere. Der Abend schreitet voran. Und plötzlich das Licht, in völliger Stille, ein Licht, das Kyle McLaghlan gilt. Es blendet ihn. Ein Riese steht auf der Bühne. Er spricht klar und deutlich seine Botschaft: „Es geschieht wieder.“ Ein Mädchenmord wird wieder geschehen. Es trifft die Cousine der toten Laura Palmer, und wieder ist es Leland Palmer, der von einem Dämon besetzte Vater, der nichts von der eigenen Besetzung weiß. Im eigenen Haus. Zu spät erkennt Maddy Ferguson, die Todgeweihte, das Unheil vor sich. Flucht hilft nicht mehr. Der Entweste schafft die Leiche außer Haus. Seine Frau, die ebenso das Böse, über das sie nicht zu sprechen braucht, in sich trägt, sucht im Alkohol Zuflucht. Später, in einer Bar, durchbeißt sie einem ekelhaften Anmacher, der sich über die alte Frau obszön belustigen zu müssen vermeint, in einem Akt sekundenschneller Mutation mit monströsem Gebiß dessen Halsschlagader, ohne Blut auf den eigenen Lippen. Sie, die Antithese zur himmlischen Tochter. Jáo Dé. Twin Peaks ist griechisches Drama inmitten rauschender Wälder mächtiger Sykamore Trees. Die Eulen sind nicht das, was sie zu sein scheinen, weisen die himmlischen Begleiter unseren Suchenden. Dale Cooper gleitet wie magnetisch angezogen hinüber in höhere Dimensionen, dort, wo er den tanzenden, sprachverzerrt weissagenden Zwerg mit Klumpfuß antrifft (Michael J.Anderson), und einen weiteren, nobel gealterten Riesen, der, wie es scheint, die Zeit in seinen Händen hält, was nur einen Schluß zu seiner Identität zuläßt.
Wir singen, wir tanzen, wir lieben. Alles nur einen Augenblick. Wir irren, auch das nur einen Augenblick. Auf den zweiten Blick nehmen wir Fühlung auf. Was der Entschleierung harrt, entschleiert sich selbst. Wir tun derweilen nichts, so wie Agent Cooper. Der verfolgt allerseltsamste Spuren, als wäre Solches das Natürlichste auf der Welt. Die Suche nach dem Mörder gerät ihm zu einem Eintauchen in magisch-verwunschenes Land, Indianerland, im Bundesstaat Washington. Er lernt alle Einwohner kennen, und alle entpuppen sich, gelinde gesagt, als Schrullige. Daneben die Outcasts, jene, die, wie Harry Dean Stanton (auch er bereits tot) in Wohnmobilen wohnen, die Hüttenbewohner, die Waldmenschen, die Kaffeehausbediensteten. Das Kaffeehaus ist der zweite Zentralort, dort, wo Annie Blackburn arbeitet, die erste Frau im Leben des arrivierten FBI-Agenten. Heisenbergs Unschärferelation gehört zum Gesprächsstoff im vertrauten, kaffeegespickten Moment. Später wird auch sie Mordopfer, Ritualopfer aus den Händen des der schwarzen Magie ergebenen Kollegen von Dale Cooper im Büro, Windsom Earl. Ein Verleiteter, ganz der Gier ergebener Möchtegernteufel, der Seelen – die Seele des bereits toten Tochtermörders Leland Palmer – versklaven möchte. So endet die erste Staffel. Der Dämon Bob – dargestellt vom unvergessenen, bescheidenen David Silva – belehrt den Möchtegernteufel mit wilder Fratze, daß keinem Menschen Gewalt über eine andere Menschenseele gegeben ist, und entzieht ihm in einem Sekundenakt dessen Seele. Dale Coopers tödliche Messerstichwunde schließt sich derweilen in einem wundersamen Akt in der White Lodge, als er neben seiner blutgetränkten toten Geliebten auf dem irisierend gezackten Fliesenboden liegt. Wahrlich, das Erbarmen des Feuermannes ist groß. Wo ist Hoffnung? In der Unschuld.
„Ach Kind, ich habe mich dermaßen ein Leben lang vor den Menschen gefürchtet. Sie waren mir alle Teufel. Ich habe verstanden, daß ich nur das Allerwenigste, wenn überhaupt, verstehe. Alles ist Dreck, glaub mir. Ich weiß es mit Sicherheit. Alles, was sie schreiben und in die Welt hinausblasen, ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Sie sind alle Teufel. Ich muß aufpassen, nicht selbst von ihm unversehens gepackt zu werden. Manches an mir ist mir unheimlich. Ich suche in solchen Momenten nach Rettung. Wo ist Rettung, Kind? Mein Mann kann sehr wohl auch ein Teufel sein. Er weiß es nur nicht. Wie arrangiere ich mich mit einem Teufel, der neben mir im Bette liegt? Ich brauche dir nicht davon erzählen. Ich weiß, du hast mit mir gefühlt. Doch mach mir wegen deines Vaters keinen Vorwurf, bitte. Wer hätte denn gewußt, was in der großen Stadt auf mich zukommen würde? Meine einzige Heimat war die Liege in der Sonne im Sommer und der Strand in Italien, im Urlaub. Die Berge erschlagen mich. Ich bin bewegungsunfähig. All diese Plagen. Ich brauche nach all den Geburten Ruhe, sonst werde ich noch verrückt. Und dann habe ich endgültig deine Gunst verspielt. Verzeih, wenn ich so rede. Der Erzengel Michael hat mir immer geholfen, im Stoßgebet. Dein Vater, das Rauhbein, hat davon nichts gewußt. Wer will es ihm verübeln? Er ist im Krieg groß geworden und hat sich nie versteckt. Er hätte hätte mitgekämpft, als Verführter. Das Grauenhafte, das er im Leben gesehen hat, ist unbeschreiblich. Du weißt es wahrscheinlich noch viel besser als ich. Ich kann ihm nur danken, daß er sich so gut gehalten hat, trotz der Tonnen auf seinen Schultern. Wirklich ein Felsen. Die absolute Zuverlässigkeit. Ich wüßte keinen zweiten. Wirklich nicht. Der Krieg ging an mir vorüber. Doch ich könnte genauso gut bereits seit langem tot sein. Die Welt des Unsichtbaren ist schauderhaft, glaub mir.“
„Was ist Krieg, Großvater?“ „Etwas, was sich dem Reden entzieht, Bub.“
„Herr Professor Strotzka, was ist Irrsinn?“ „Der Zusammenbruch der Beschreibung, Herr Kollege. Vielleicht der Zusammenbruch einer lebenslangen Beschreibung. Dann setzt sich derjenige in Salzburg auf eine Bank im Mirabellgarten und rührt sich von dort nicht mehr weg. Wie auch immer, die Polizei kommt erst nach 12 Stunden. Vielleicht wurden sie aufmerksam wegen seines Urinierens.“