Der Chullachaqui-Caspi Baum
Sanft und weich fühlt sich der Dschungelboden unter meinen Barfußschuhen an. Es ist, als würde ich durch den Dschungel schweben. Der dicke, braune Blätterteppich verschluckt meine Schritte und fast kommt es mir vor, als wäre ich selber Moos, eine zerfallene kleine Brücke oder das dichte Grün des Dschungels. Fast 5 Wochen lebe ich schon in einer Diäthütte außerhalb des Camps‘s Otorongo in der Stille mitten im Dschungel von Peru. 21 Tage davon hatte ich kaum menschlichen Kontakt und ernährte mich von Gemüse und Reis ohne Salz und Zucker. Falls es das Wetter erlaubte und nicht schwere Regengüsse oder nahende Gewitter einen Spaziergang im Dschungel unmöglich machten, ging ich fast jeden Tag auf den gleichen Pfaden spazieren. Mein erster Zielpunkt war immer der Chullachaqui-Caspi Baum, ein Baum der mir bei meinem ersten Dschungelaufenthalt als Wohnort von Chullachaqui, dem Herrn des Waldes, vorgestellt wurde.
Wie immer, hefte ich meinen Blick auf den Boden um nicht versehentlich auf eine Schlange oder andere giftige Lebewesen zu steigen. Meine Schritte sind langsam und bedächtig. Kleine Äffchen schmeißen von hoch in den Baumkronen Früchte oder andere Dinge herunter – möchten sie sich bemerkbar machen? Ich brauche so ca. 40 Minuten um zum Chullachaqui-Caspi Baum zu kommen. Der Pfad ist voll von Erinnerungen der letzten Wochen. An einer bestimmten Stelle habe ich am ersten Tag meines Aufenthaltes ein Brüllen gehört und kehrte voller Entsetzen zum Camp zurück. Ich war überzeugt, dass dieses Gebrüll von einem Jaguar stammte. Mir wurde versichert, dass seit einem halben Jahr kein Jaguar in dieser Gegend gesichtet wurde und das Gebrüll eines Jaguars den ganzen Dschungel für einen Augenblick verstummen lässt. Die nächsten Tage hatte ich noch ein bisschen Angst. Sie ist mit der Zeit ganz verschwunden.
Eine Gruppe von umgefallenen Bäumen versperrt den Weg. Ich klettere über die Stämme um auf die andere Seite des Weges zu kommen. Später muss ich wieder unter einem Stamm durchkriechen. Im Dschungel fallen manche Bäume einfach um. Man sagt, dass die Bäume müde sind und sich ausruhen wollen. Oft sind ihre Wurzeln noch immer mit dem Boden und der Baum wächst einfach horizontal weiter.
Zwei Huyhuyshu Vögel rufen immer an der gleichen Stelle ihr „Hurra, hurra, hurra, hurra“, in einer aufsteigenden Tonleiter. Ich habe sie das erste Mal richtig gehört, nachdem ich meine Angst vor dem Jaguar überwunden hatte. Wie doch das Gehirn Außenereignisse sofort auf sich bezieht!
Am Anfang meines Aufenthaltes bin ich zweimal am Chullachaqui – Caspi Baum vorbeigegangen ohne ihn zu bemerken. „Der Herr des Waldes hat Sie in die Irre geführt“ sagte Dr. Himmelbauer, als ich ihn von meiner Suche erzählte. Eine mächtige Liane, die nur ein paar Meter vor dem Chullachaqui -Caspi Baum wächst, zeigt mir jetzt immer an, dass sich der Baum direkt dahinter befindet.
Heute habe ich in meinem kleinen Rucksack neben Zeichensachen, Mosquitorepellent, Taschenlampe und Kamera auch eine kleine Kerze und meine kleine Guan Yin Kristallstatue mitgenommen. Ich möchte mich beim Dschungel für die wunderbare Zeit bedanken. Kein besserer Platz ist mir eingefallen als beim Chullachaqui-Caspi Baum, dem Wohnort des Geistwesens des Dschungels. Viermal habe ich diesen Baum schon gezeichnet, seine Beinwurzeln, Verknotungen, Verknorrungen und Zwischenräume. Leicht berühre ich seine fast seidig anfühlende Rinde und blicke in das Innere des Baumes, wo mir plötzlich klar und deutlich ein Gesicht entgegenschaut. Schelmisch und verschmitzt lächelt es mich an. „Ich existiere wirklich“ scheint es mit tonloser Stimme zu sagen. Der Dschungel ist eine magische Welt.