Eine überfällige Klarstellung dank dem ehrenwerten Bruce Wagner

Bruce Wagner gehörte zum engeren Kreis von Carlos Castaneda. Ein Schriftsteller und Drehbuchautor, mittlerweile in Hollywood etabliert. Ein sympathischer, ernster Mann, kein Kleinkrämer. Eine priesterhafte Erscheinung. Ich erlebte ihn in San Diego, 1999. Er sprach über Castaneda, der knapp eineinhalb Jahre zuvor zum maßlosen Unglauben der Fangemeinde angeblich an Leberkrebs gestorben war. Ein ernstes, maßvolles und doch pathetisches, ein feierliches Statement, in dem er den Peruaner respektvoll „Nagual“ nannte. Was er sagte, war erlebt. Ein Statement aus erster Hand also, ein durchdachtes. Kein erlogenes. Die Stimme todernst. Der Höhepunkt eines Workshops, dem es an einer Galliosfigur mangelte.

Es ist bedankenswert, ihn jetzt wieder zu hören, Bruce Wagner in einem Interview mit James Boice, grade aus dem vergangenen Jahr. Ein Wegbegleiter durch den Zeitensturm somit, und deshalb sei ihm gedankt, jetzt, heute, am Gründonnerstag 2013, aus einem stürmisch regnerischen Amazonien, dem der große Fluß zum dritten Mal in Folge noch aus den Ufern treten wird. Eine Wortmeldung, wie sie überfällig war und nach der ich gelechzt habe. Eine Punktanbringung.

Boice fragt ihn, warum er sich nicht aufgeregt habe über die Schlechtmachung seiner Person im „Details“-Magazine [2005, durch Robert Marshall], und Wagner antwortet:

“Eine seiner [Castanedas] wichtigsten Lehren war, daß wir Wesen sind auf dem Weg zum Sterben – allgemein das Schlagwort “Nutze den Tod als deinen Ratgeber”. Ich würde nicht sagen, meine Nahbekanntschaft mit Castaneda veranlaßte mich, auf andere Weise zu schreiben; viel eher, daß er auf gewisse Grundumstände des Universums als eines sowohl feingestrickten wie räuberischen hinwies, bei dem es am Ende unerheblich ist, welches der beiden Extreme man bevorzugt. Feinsinnigkeit und Raubhaftigkeit als auswechselbare Konstituienten.“

Und er setzt fort: „Ich meine eben nicht, daß wir überhaupt die Anlage mitbringen, unseren Tod zu verstehen. Ich höre von Definitionen, Erleuchtung sei die Fähigkeit, im Moment zu leben, in Würde und Verletzbarkeit. Das was einem zustößt, Gutes wie Schlechtes, nicht persönlich zu nehmen. Wenn einer wirklich im Moment lebt, dann bedenkt er so eben nicht seinen bevorstehenden Tod. Es ist wie mit dem Sehen des Angesichts Gottes; die Weisen sagen uns, das ist unmöglich. Wir sind zu unbedeutend dafür, wir sind dafür nicht vorgesehen, unseren Schöpfer zu erblicken. Es ist wie mit einem verschüchterten Pilger, der seinen Kopf gegen den Boden hält – er denkt nicht daran aufzublicken und die Kathedrale zu bestaunen. Und wenn er es doch täte, wüßte er dann überhaupt, wo er sich befindet? Aber dennoch hörte ich einmal etwas Lustiges. Eine Lehrerin fragte ein Kind im Kindergarten, was es denn da zeichne. Das Kind sagte „Gott“. Da meinte die Lehrerin: „Aber wie soll das gehen? Niemand kennt Gott.“ Worauf das Kind: “Aber jetzt schon.”

Da kann ich halt nicht an mich halten. So etwas gehört in die Karwoche. Der Heilige Geist weiß genau, was er tut. Er weiß auch, warum er meinen Taufpaten vorgestern im 91.Lebensjahr zu sich berufen hat. Wir leben doch in der tiefsten Barbarei. Das Christentum treten wir mit Füssen, pervertieren dessen Hochfeste – Weihnachten und Ostern – bis es schlimmer nicht mehr gehen kann, die gröbste Unzucht und Lüsternheit, wie sie nicht einmal in Babylon kurz vor seinem Fall grassierten. Christus der schlimmste Spaßverderber in unserem Ausbeutungskarussel. Karfreitag ist der allerschlimmste Dorn im Jahreskalender. Noch haben wir es nicht geschafft, ihn mit Aschermittwochsheringsschmäussen zu kastrieren. Aber wir arbeiten eifrig dran. „Diese Sekte mit ihrem Kreuz…“ Genau so tönte es im alten Rom.

Sie johlen und saufen und polemisieren sich hinweg über das eigene Verhängnis. Den Vorhang, der einmal fallen wird, unwiderruflich. Sie glauben, es bleibt ihnen Zeit zur Vernaderei, zu Mord und Totschlag. Zur Verunglimpfung, zur Lächerlichmachung.

Dieser blanke Irrsinn, dieses lärmerfüllte Gejohle, dieses Schlachten der Lämmer, diese Spanferkel in den Zeitungen, der Kult des Fleisches, diese Rechthaberei, die mit dem Schwert der Justiz hantieren will, so wie in Den Haag.

Ja, mit Bruce Wagner spricht einer, der das Privileg genießen durfte, mit einem Gesandten, einem Auserwählten zu verkehren. Das mindeste, was er in diesem Logenplatz tun konnte, war, das Gehörte und Gesehene voll zu verdauen, so wie Marcel Prawy in der Wiener Staatsoper. Und deshalb dieser bewundernswerte Gleichmut.

Oder nicht zu repetierendes Pathos beim versinkenden Studium einer Totenparte, wie es sich letztes Jahr im grauen Herbst ein alter 81-jähriger Herr gegenüber seinem toten, jüngeren Cousin entrang: „Also ging er in die Ewigkeit.“

Shakespeare war ein Gigant. Und der Rest ist Schweigen.

0 Antworten

  1. Zerzauste Haare. Schreien und Flüstern.

    Sind wir noch bei Verstand?

    Aerin Alexander und Miles Reid legen sich mit Cleargreen Corporations wegen der "Eigentumsrechte" an den magischen Bewegungen, herkömmlich mit einem geborgten Wort als "Tensegrity" bezeichnet, an. Renata und Nyei Murez fungieren heute als "Creative Directors" der korporativen Schöpfung des Altmeisters. Die unappetitliche Leichenfledderei hat somit noch immer kein Ende. Wer, so bin ich versucht zu fragen, wendet sich da nicht mit Grausen ab? Die magischen Bewegungen, und da bin ich wohl nicht der Einzige, waren nie meins. Ich mag es nicht, in einer Sporthalle zusammen mit 600 anderen Unbekannten synchronisierte Bewegungen, die man mir vorzeigt, zu vollführen, und die mich wahrlich nicht an das alte Mexiko und dessen geheimnisvolles Erbe erinnern.

    Und ich konnte mich auch nur mit Abscheu abwenden, als ich von der Prozessierung gegen Victor Sanchez, den Mexikaner, las, einer Prozessierung einfach nur wegen seines harmlosen Buchtitels "Die Lehren des Don Carlos". Das alles noch zu Lebzeiten des Angelianers. Und um eine Million Dollar, danach reduziert und exekutiert auf 100.000 grüne "bucks".

    Der gerissene Peruaner läßt mich auch noch als verstreute Aschengestalt nicht los. Auch da bin ich nicht allein. Sie haben sich alle aus dem Staub gemacht. Niemand ist mehr erreichbar. Gut, könnte ich sagen, nur allzu verständlich. Er hatte Besuch vom FBI. Sie wollten die "Drogenerzählungen" nicht. Staatsgefährdend. Und auch die Nachfolger des KGB wurden vorstellig. Und wir wollen nicht mutmaßen, was die NSA alles an Daten sammelte. Angeblich wechselte der innere Kreis seine Handynummern alle paar Wochen. Und schlußendlich mußten sie abtauchen. Wohin? Ja, wohin?

    Ich kann mich nicht simplen Verschwörungstheorien hingeben. Mutmaßen, Amy Wallace wäre vom FBI gekauft worden, um Castaneda systematisch zu diskreditieren. Wir können nicht maximal skeptisch spekulieren, ob ihr Buch und ihre Interviews (so wie jenes mit Jeffery Pritchett, siehe Matertialsammlung 2) nur frei erfundene Chuzpe darstellen. Ein System der Desavouierung eines Sektengurus samt all seiner ausbeuterischen Machenschaften. Dazu wirkt die Dame nicht skrupellos genug. Ihrem Buch "Sorcerers Apprentice" haftet nicht der Geruch krankhafter Revanche für sexuelle Ausbeutung oder Egozerstörung an. Nein, das tut es nicht. Wir können der Dame trauen.

    Wenn dem so ist, müssen wir uns fragen, was hat es zu bedeuten? Warum verhielt sich der sogenannte "Nagual" derart zu ihr? Er war doch mit ihr intim, und das nicht allzu wenig? Scheinbar machte es ihm mit ihr am meisten Spaß. Warum also zieht er sie im Handumdrehen dermaßen – und das noch dazu öffentlich – durch den Kakao? Wenn es nicht krank war, wie er sich zu ihr verhielt, was war es dann? Ein kontrolliertes Manöver, um sich selbst posthum vom Podest zu stoßen? Amy Wallace die unwissende Kollaboratrice, die das ihr zugestoßene penibel und vielleicht sogar mit Stolz aufzeichnet und schlußendlich veröffentlicht? Sie eine Erfüllungsgehilfin für eine ruhiggestelltes Leben nach dem Tod? Also doch die Entlarvung eines Sektengurus, die von langer Hand vorbereitete Scheinentlarvung?

    Fakt ist, Aerin Alexander, Adoptivtochter des Blue Scout Nury Alexander, und Miles Reid, argentinischer Arzt wie Ché Guevara, disputieren mit Cleargreen gerichtlich wegen gewisser Rechte an den "Magischen Bewegungen". Nein, wie soll dieses Affentheater und dessen Streitobjekt magisch sein? Schütten wir bitte nicht das Kind mit der Badewanne aus. Lassen wir die Kirche im Dorf. Bleiben wir in den 60er- und 70er-Jahren. Geben wir uns keiner Massenhysterie hin. Das brauchen die unzähligen Teilnehmer nicht, Interessierte aus aller Herren Länder, keine Dummköpfe. Die inszenierte Massenhysterie, die bereit ist, im Notfall von der Brücke oder vom Hochhaus zu springen. Das gab es oft genug. Die Ärzte, die durchdrehen, weil ihre lebenslang erduldete Unzufriedenheit nach einer anspruchsvollen Nacht durchbricht. "Knie nieder und bete mich an!" Solche Starallüren sind kein Einzelfall, nein, sind sie nicht. Vielmehr die Beinaheregel. Systematisch hochgepäppelter Größenwahn, der mit Lichtgeschwindigkeit um den Globus rast. Ja, dieser Wahn hat Methode. Mit 2000 Frauen herumvögeln (ausgewählte Männer, Latinos zumeist) oder den Mann bespringen und mit einem megalauten Orgasmus beglücken, sodaß dieser nicht mehr von diesem vielzitierten magischen Objekt der Faszination loskommt. Um dann dramatische Eifersuchtsszenen mit Mord und Totschlag und Auftragsmord folgen zu lassen. Ja, nicht wenige behaupten von sich, sie wären Gott.

    Castaneda pushte Tensegrity systematisch hoch. Es war ihm eine willkommene Einnahmequelle. Doch wohl schon. Im Mexiko-Seminar 1996 (siehe Materialsammlung) benennt er es klar: Die alten Bücher sind nicht mehr aktuell. Jetzt geht es um Bewegung.

    Aber warum geht es jetzt um Bewegung?

    Wegen des Feindes, sagt er.

    Ja, sage ich, er hat Recht. Wir haben einen Feind. Einen Erzfeind. Mit dem ist ganz und gar nicht zu spassen. Ein nichtmenschliches Wesen. Ein Erzfeind, der uns in seinen Klauen hält. Der uns bei lebendigem Leib auffrißt, so wie die Kannibalen. Einer, der uns seinen Geist einimpft. So wie Nosferatu, der Vampir.

    Wir haben einen Erzfeind, der uns alle verschlingen möchte und der keine Sekunde dabei zögert. Das ist die Ausgangssituation. Der Tod ist dazu im Vergleich sekundär.

    Ich muß mich fragen, ist das für mich relevant? Und da kann ich nur sagen, ja, ganz und gar. Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als der Mensch es sich je zu erträumen vermag.

    In der Überlieferung des Nagual don Juan Matus werden wir mit Wissen konfrontiert, das man sich nicht aus den Fingern ziehen kann. Er nennt den Lernenden einen "Krieger", denn es ist Krieg. Und es ist Blödsinn zu sagen, ja, stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Sogar der Mönch aus Amdö nennt es einen Krieg. Der Krieg gegen unser falsches Selbst. Ein gigantischer Feind, der nie schläft. Tenzin Gyatso wurde ganz unheilig ernst und scharf und deutlich, als er unser falsches Selbst, unser Ego, als den schlimmsten Feind des Menschen auf Erden titulierte. Ein Feind, der uns 24 Stunden am Tag attackiert. Also sind wir im Krieg oder nicht? Ja, wir sind es. Geben wir uns bitte keiner Selbstlüge hin.

    Der Punkt aber ist, daß dieser Feind nicht abstrakt, sondern konkret ist. Er ist ein Wesen. Ein Ungeist. Damit fängt das Malheur an. Ein Ungeist, der urrast und der jede Geistigkeit zu vernichten, aufzuzehren trachtet.

    Das nennt Juan Matus die schreckenerregende Einsicht der großen Meister seiner Linie. Das ist wahrer Schamanismus: Den Feind wahrzunehmen und den Kampf gegen ihn aufzunehmen. Dasselbe sagt Percy Konquobe, Zulu-Sangoma aus Swasiland. Er muß es wissen.

    Ich kann also so wie Freund Bruce Wagner nur antworten: Was habe ich mit Leichenfledderei gemein? Nichts! Die Zustände sind besorgniserregend genug. Es wird flächenmäßig gebombt. Flächenmäßig gerastert. Es ist Krieg, und alle sind drin. Also bitte, orientieren wir uns. Reißen wir uns zusammen. Der Feind, das ist nicht der Mensch, es ist nicht der Mitmensch, der Andere. Der Feind, das ist der Vampir im Menschen. Und vielleicht, um nochmal Brad Pitt aus "Weltkrieg Zombie" zu zitieren, die hungrigen Untoten. Ist die Gier so groß? Ja, allenthalben. Wonach? Nach Menschenfleisch!

    "Soylent Green ist Menschenfleisch", ruft Charlton Heston, der mittlerweile Verstorbene, auf der Bahre aus, als sie ihn verwundet hinaustragen ("2021 – Soylent Green", so der ursprüngliche Originaltitel eines Films aus den 70er-Jahren).

    Wie nahe also sind wir am Kannibalismus? Verdammt nahe. Verdammt nochmal.

  2. Zwei Minuten der Atemlosigkeit

    Sie gehen an die Grenzen der Atemlosigkeit, diese Apnoe-Taucher. Diese verrückten Rekordtaucher, die sich ein Rettungsteam leisten, das sie, die Bewußtlosen, die letzten Meter wieder emporhievt. Das nennen sie Teamgeist und Heldentum. Dafür riskieren sie sogar tödliche Hirnblutung. Das tun sie, denn für sie zählt das pathetische Vorexerzieren, wozu der Mensch in seiner Langeweile fähig ist. Er riskiert es, aus Langeweile zu sterben. Eine andere Form von Selbstmord. Wie dieser Österreicher, der, sich selbst und seinem Sponsor, diesem Energydrink-Konzern, zuliebe, sich in 39 Kilometer Höhe hinauftragen läßt, um dann ins tödliche Nichts zu springen, alles minutiös geplant und live übertragen. Das Wagnis des Todessprungs für eine gelangweilte Welt. Der Heros, der doch so gerne der Übermensch sein möchte, oder wenn nicht der Übermensch, so doch ein Diktator.

    Der Sprung dieses Herrn Felix Baumgartner, mit dem er berühmt und sich so im Glanz der erstrebten Bewunderung sonnen durfte, er wird am Gang der Geschichte, am Dahinfließen der Zeit nichts ändern. Sein und seines Sponsors Spruch "Ja, es ist möglich, wir haben es bewiesen", dieser Spruch wird nichts am Hilfeschrei der entrechteten und verarmten Menschheit ändern, jener Kinder in Afrika und Indien, die auf den Strassen, in den Wüsten mit aufgedunsenem Bauch verhungern und verdursten. All diese Extremsportler, die sich dem Gott der Zerstreuung verschrieben haben, sie haben nichts anderes im Sinne als … Selbstanbetung. Hochmütige Selbstanbetung in einem wie ein Flächenbrand Stadt und Land überziehendes Unterfangen der modernen, realistischen Politik, die auf ihrem Banner unverhohlen den allgemein gültigen Wahlspruch vorzeigt: "Kampf der entgegengesetzten Egoismen. Zur Zerstreuung gehört die Zerstörung des Gegners."

    Aber dieser Alptraum darf nicht Wirklichkeit werden, sagt so mancher Betende. Steht Christus in unserer Mitte?, fragt der Betende. Bewahrt er uns vor dem Absturz in die Barbarei?

    Deshalb sprang Carlos Castaneda auf Geheiß seines Wohltäters Juan Matus in den Abgrund. Ohne Fallschirm. Im Vertrauen, im Wissen um das Wirken der jenseitigen Macht, die in das Diesseits herüberschwappte. Im Wissen, im stillen Wissen, am Platz der Stille sagte er "Ja!" Die Einweihung in das Mysterium, die doch gleichzeitig sein Tod, sein Absterben war. Das Zurücklassen seines bisherigen Lebens, des gesamten Lebens, der gesamten Ignoranz, … und aller Schuld. Castaneda nahm den Tod auf sich und sprang, so wie seine Begleiter, Pablo, Nestor und Benigno. Manche sagen, kann ich mir nicht vorstellen. Was ich mir nicht vorstellen kann, ist für mich nicht relevant. Da liegt wohl der Hase im Pfeffer. Denn was kann sich der Mensch denn nicht vorstellen? Auschwitz, Hiroshima, Die Zar-Bombe, die Klonung des Menschen, Guantanamo? Das kann er sich nicht vorstellen? Doch wohl das Gegenteil! Sehr wohl kann sich der Mensch das vorstellen, was in seiner Griffweite steht. Wie denn anders, wenn ein verzweifeltes Kind sich erhängt oder vom Hochhaus springt?

    Manche erwidern mir: "Ihre Forderung, meine 500 persönlichen Schwächen alphabetisch geordnet niederzuschreiben, grenzt an Sadismus, und meine geforderte Einwilligung an Sadomasochismus. Sie werden verstehen, daß ich Ihre Aufforderung ablehne. Abgesehen davon werde ich niemals 500 Schwächen finden." Doch genau das war es, was Juan Matus von Carlos Castaneda forderte, und Clara Grau von Taisha Abelar so wie von Florinda Donner-Grau: Die Liste der persönlichen Schwächen. Die Eintrittskarte in die Welt der Ehrlichkeit, in die Welt der Wahrheit. Und welche menschliche Schwäche ist nicht auch unsere Schwäche? Welche, frage ich Sie.

    Da heute Sonntag ist – zum Glück wieder Sonntag, so wie alle sieben Tage Sonntag ist, zum Glück -, möchte ich einmal den wahrlich lobenswerten Benedikt XVI. mit einem Passus anläßlich Pfingsten zitieren, der mir aus dem Herzen genommen und an eben jenem liegt. Benedikt schreibt zu Schuld und Sühne Folgendes: "Die Taufe schieben wir etwas in die Folklore ab und die Buße ins Anonyme, ins Kollektive, soweit wir sie überhaupt gelten lassen. Und dies ist kein Zufall. Denn Vergebung anzunehmen, fordert eine Demut, die uns nicht leicht fällt. Es verlangt zuzugeben, daß Sünde ist – daß ich sündig bin. Zwar kann unsere Zeit ohne weiters Fehler zugeben, technische Mängel, die man verbessern kann, und sie ist sehr eifrig dazu bereit, Schuldbekenntnisse für andere, besonders für frühere Generationen, abzulegen. Aber im Grund sind dies ja nur Mechanismen der Verdrängung, durch die wir die Sünde von uns wegschieben. Und der "Unschuldswahn", in dem diese Zeit lebt, an dem sie krankt, bleibt dabei unberührt. Aber wo das Wissen um Schuld verdrängt und deshalb scheinbar Vergebung nicht mehr benötigt wird, geschieht Gefährliches, Zerstörerisches mit dem Menschen. Nur wer an Gott glaubt, kann an Vergebung glauben. Und nur wer an Vergebung glaubt, kann Sünde zugeben. Aber alles dieses drei hat sich gelockert bei uns. Weil Gott ferngerückt ist, glauben wir Vergebung nicht, und darum können wir auch Sünde nicht zugestehen. Denn der Mensch, der nicht auf eine wirklich gültige und verwandelnde Macht der Vergebung hoffen kann, der muß auf die Dauer auch die Norm leugnen, die ihn mißt, weil er ja nicht auf Dauer mit einer irreparablen Schuld zusammenleben kann. Das geht nicht. Um Schuld zu beseitigen, muß der Mensch, wenn es keine Vergebung gibt, die Normen leugnen. Die Folge davon ist, daß ein jeder nur mehr sich selbst zum Maßstab nimmt. Wenn jedoch jeder sich selbst Maßstab ist, dann hat dies zur Folge, daß der Mensch in eine leere Beliebigkeit, in die Belanglosigkeit heruntersinkt. Es gibt ja kein Maß und kein Ziel für uns. Keinen Willen über uns, für den wir wichtig wären. Auf diese Weise entsteht nun erst recht in dem Menschen, der als Maßloser belanglos geworden, jene Selbstverachtung, vor der er zu entfliehen suchte. Der Mensch, der nichts bedeutet, kann sich nur verachten. Und all die Flucht, die wir heute kennen: Droge, Alkohol, Selbstmord kommt letztlich aus dieser Selbstverachtung, die unsere Zeit zeichnet und die die Wurzel all ihrer Krankheiten ist. Der Mensch mag sich nicht mehr. Weil er nichts wert ist, karikiert er sich als nackten Affen, als Störenfried der Natur, bespuckt und schämt sich seiner selbst. Und so versklavt er sich in die Lüge hinein. Er lügt die Norm hinweg, und die Lüge selbst vergewaltigt ihn, bis er wirklich nicht mehr atmen und als Mensch leben kann. Nur die Wahrheit könnte ihn frei machen. Aber die Wahrheit – seine Schuld – kann er nur annehmen, wenn Vergebung ist. Und darum ist der Geist der Vergebung zugleich der Geist der Wahrheit und der Freiheit. Er gibt uns die Freiheit, Wahrheit anzunehmen und wahr zu werden. Die Vergebung ist die eigentliche Befreiung, die hinter all dem Freiheitsschrei unserer Zeit unerkannt steckt, ja bewußt versteckt wird, obgleich sie doch das eigentlich Nötige wäre: Der pfingstliche Geist, der uns als Menschen leben läßt." (Über den Heiligen Geist, Augsburg, S.29-30)

    Geboren zu werden ist ein maßgeblicher Schock. Oft raubt er uns den Atem, wir werden blau. Apnoisch. Ein Leben lang kränkeln wir dahin, entwicklen uns zu Hypochondern. Wir sagen uns, "Was habe ich nicht seit Anbeginn an gelitten. Nur rechtens, mir jetzt mein Recht zu nehmen und das zu tun, wonach mir der Sinn steht." Das ist sozusagen die abgeleitete Antithese, die Leugnung des Geistes. Am Schluß dieser Leugnung darf ein Philosoph bekennen: "Gott ist tot …", und angesichts dieses Schocks der Freilassung ins Nichts in geistige Umnachtung fallen. "Ich bin Zarathustra…"

    Castaneda verschloß sich auf den Tod seiner Mutter hin drei Tage in seinem Zimmer. Der Schock seines Lebens. Dann kam er wieder zum Vorschein, fuhr nach Callao und schiffte sich nach San Francisco ein. Der Tod seiner Mutter war das Ende seines bisherigen Lebens. Er ließ ihn sein bisheriges Lebens hinter sich lassen. Dann traf er 1960 – er war bereits 35 – am Busbahnhof von Nogales den Yaqui-Indio Juan Matus, und wieder ging ein Lebensabschnitt zu Ende, unwiderruflich. Und schlußendlich, 1973, standen sie auf jenem Felsenplateau, und der Zögling übergab sich der Übermacht des Geistes. Des Geistes, wie Juan Matus es formuliert, "der schlußendlich herabsteigt und uns berührt." Wie herrlich. Pfingsten. Der Atem des Herrn, den er uns einbläst. Einblies.

    "Dazu bin ich gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen, und wie sehr wünschte ich, daß es schon brenne." Wer wohl hat solches gesprochen? Wer wohl?

  3. Das Nichts, das mich verschlingt

    „One night at dinner I told him, as Almodóvar put it, “todo sobre mi madre”—all about my mother. Afterward, we wandered outside. He pointed to the night sky and spoke with casual scholarship and warmth, as if the stars were old friends. He showed me Coma Berenices. Such was my ignorance that I’d never even heard of this constellation, yet I was touched because my mother’s birth name, a name she ultimately rejected, was Bernice. Again, he spoke about the act of energetically recapitulating one’s life, and I was reminded of a stunning chapter in The Autobiography of a Yogi called “Outwitting the Stars.” Paramhansa Yogananda wrote that man can escape the destiny imposed on him by the stars, the constellations of which were actually there as a goad and reminder from his moment of birth. “The soul,” Yogananda wrote, “is ever free; it is deathless because birthless. It cannot be regimented by stars.” The shamans of Carlos Castaneda’s lineage described a force called the Eagle that devoured awareness as our bodies came to the end of their usefulness. The recapitulation provided a facsimile of one’s life experience that the Eagle accepted, allowing one to enter the realm of pure consciousness and be free.

    I have always been devastated by the beauty of that.“ (Bruce Wagner, Remembering Carlos Castaneda).

    Der Adler. Das allerfüllende Nichts, das uns in seiner Sphäre – wohl dem Himmel –erdrückt. Castaneda muß seine Kohorten durch die „kosmische Vagina“, wie sich Silvio Manuel ausdrückt, in die Realität der Übermacht führen. Die Frauen packt er am Haarschopf, die Männer flüchten. So geht er selbst durch die Pforte hindurch, am Ende der Steinbrücke. Silvio Manuel und Eligio, Castanedas hochbegabter Kundschafter, halten die magische Pforte offen. Castaneda tritt ein und wird erdrückt. Sie schleppen ihn sofort wieder heraus, halbtot.

    Das ist Schamanismus. Davor haben alle Angst. Wie denn auch nicht? Die absolute energetische Realität, die alles umfaßt. Schwindler und Wasserläufer zerquetscht sie, ohne Nachsicht. Die Macht, die nicht mit sich verhandeln läßt. Die, vor der die Potentaten ausspucken. Die Macht, die den Massenmördern als Rechtfertigungsgrundlage dient. Was diese Ungeheuerlichkeit kann, darf ich auch können, sagen sie. Die Massenmörder aus allen Zeiten. Die Nihilisten, die sich nicht ins Gesicht schauen lassen wollen. Wie die Teufel eben. Denn der Teufel will sich nicht ins Gesicht schauen lassen. Deshalb setzt er uns in einem fort Lügen und Zerstreuung vor. Wer nicht wird zugeben, daß diese Lebensgrundlage ungeheuerlich ist? Die Ungeheuerlichkeit, die dem Menschen einen Freibrief ausstellt. Die Macht, die den Schrecken produziert. Schrecken und Bewunderung. Das, diesen Schrecken und diese Verwunderung des Am-Leben-Seins im Gleichgewicht zu halten, sagt Juan Matus zu seinem Schüler, als sie beide Genaro Flores bei seinem Zauberakt beobachten, sei die Quintessenz des Kriegers, der seine Welt über alles liebt. Die Majestät, die nicht mit sich reden läßt, sagt Juan Matus. (Läßt sie wirklich nicht mit sich reden?) Das Beten ist unsinnig, sagt er. Wie wolle der Mensch auf diese allerfüllende Übermacht Einfluß nehmen, wo doch die gesamte Menschheit nur eine unendliche Winzigkeit in allem Leben des Alls ausmache? Die Essenz unseres Lebens, seine Grundlage. Die Macht, die uns ins Leben ruft. Die uns ins Leben befiehlt. Genau so sagt es Juan Matus. Das Leben ist ein Befehl. An diesem Befehl können wir nichts und wieder nichts ändern. Wir leben bereits. Dagegen hilft auch nicht der Selbstmord. Das willentliche Aussteigen. Oder, genauso verworfen, das Töten. Wir leben bereits. Wir werden gelebt, ob wir wollen oder nicht. Wir können den Herzschlag manipulieren, – wenn wir buddhistisch versenkte Könner sind. Wir können ihn verlangsamen und uns so gegen Kälte unempfindlich machen. Wir können uns zu stupenden Glanzstücken der Yogikunst versteigen. Die Ausgangsbasis bleibt immer gleich. Wir sind bereits am Leben. Wir können ihm nicht so einfach entfliehen. Nicht einmal, wenn uns unmenschlicher Schmerz den Verstand raubt. Das Bewußtsein ist ein Druck, erklärt juan Matus seinem Schüler. Das All übt auf die Fäden deiner Komposition einen Druck aus, und dieser Druck bringt die Fäden zum Leuchten. Dieses Leuchten ist Bewußtheit. Sie wird kanalisiert durch einen Ring, durch einen Ball. Sie wird magnetisiert. Wir können dieses Leuchten der Bewußtheit nicht einfach abstellen. Nein, können wir nicht, sagt ebenso mein verehrter Lehrer Augustinus Wucherer-Huldenfeld. Wir können uns nur hinsetzen und beobachten, was mit uns geschieht. Das nennen die Zen-Leute Zazen, Sitzen. Sitzen und beobachten. Gewahr sein, gewahr werden.

    Stimmt es, daß Gott weise schweigt, wie Benedikt XVI. es formuliert? Liegen darin die Wurzeln unseres Seins und unseres Handelns? Weht Gottes Geist, wo er will? Ist sein Wille tatsächlich die Einheit, die zum Leib geworden ist, zum Leib Christi, der der Welt begegnet und sie verändert? Der Heilige Geist, wie Benedikt schreibt, ist zuerst Schöpfergeist. „Schwachsinn!“, rufen die Humanbiologen und Biochemiker dazwischen. „Dieses pietistische Schönreden ist ekelerregend.“

    Tatsächlich? Ekelerregend? Ein in Weisheit geschaffenes All ist ekelerregend? „Die ganze Wirklichkeit, die uns umgibt, ist Gestalt gewordene Idee des Schöpfergeistes und spricht vom Geist Gottes her zu unserem Geist.“ Solches Reden ist für Sie ekelerregend, Frau Renée Schröder? Für mich, soviel steht fest, ganz und gar nicht. Deshalb schreibe ich darüber, aus einem tiefen Anliegen. Denn für mich stöhnt und leidet die Schöpfung bis zur Stunde. Die Schöpfung, die frei werden will von der Knechtschaft der Zerstörung. Die Schöpfung, die sehnsüchtig wartet auf bekehrte, gereinigte Gotteskinder. Kinder, die im Feuer ihr Vergehen sühnen konnten und wollten. In Tamshiyacu sind von der malaysischen Mafia in Verbund mit korrupten Politikern in Lima 2.100 Hektar Primärurwald zum Zwecke des Kakao- und Palmölanbaues geschlägert worden. Diese Verbrecher planen ein Zerstörungswerk von bis zu 24.000 Hektar, eine Fläche 12 x 20 Kilometer. Das Holz interessiert sie nicht, nicht die Pflanzen, nicht die Tiere, nicht die Menschen. Das ist der Antichrist, wie er am Werken ist. Die Schöpfung und mit ihr die Menschheit zerstören, unter ständigem Proklamieren: Das Leben hat keinen Sinn, nur den, daß es uns gut geht. Ihr könnt vor die Hunde gehen.

    Ist die Welt also Maya, der trügerische Schein des endlos bewegten Rades des Leidens, der immerwährend wiederkehrenden Schicksale, aus dem zu entfliehen einzig man trachten sollte? Ist diese eine Macht der oder das völlig Andere, namenlos und dunkel, der Untergang, in dem wir aufgehen sollen? In dem uns aufzulösen von Beginn an anbefohlen wurde?

    Don Genaro wirft heiter ein: „Alles allzu pathetisch! Ein Adler, der einen unendlichen Strom von Blasen der Bewußtheit glattstreicht und verzehrt – ja, warum nicht „verschlingt“? -: klingt das nicht ein wenig widersinnig? Wer soviel verzehrt, müßte doch auch mal irgendwo ein Häufchen machen?“ Soviel der ungenierte Genaro. Ein Seher. Er muß es wissen. „Gott ist groß. Gott ist wirklich groß“, sagen die Buschmänner der Kalahari. Sie müssen es wissen. Hat Gott also ein Gesicht? Ich zweifle nicht daran. Mag ich es im Tode sehen oder früher. Ich zweifle nicht. Und auch nicht an den Worten des Herrn, dessen Worte wie Posaunen bis zum Jüngsten Gericht in meinem Sinnen erklingen. Posaunenschall, der ihn selber ans Kreuz brachte. „Wer mich sieht, sieht den Vater!“ Ja, das ist eine Rede. Darüber lohnt nachzusinnen. Diesem Schall höre ich gerne nach. Diesem Atem, der heiliger Geist ist. Von diesem Atem lasse ich mich nur allzu gern anwehen und erwidere ihm mit meinem Atem, den mir zu Anbeginn jemand in die Nase einhauchte, als er mich aus Lehm schuf. Dieses Wesen, das ein Herz hat, denn nur als Herz ist es Liebe. Ist ER Liebe. Das ist doch die Zuversicht des Nagual Juan Matus, als er von seinem Schüler auf der Felszinne Abschied nimmt. „Wo auch immer ich sein werde: Wenn du in der Scheiße sitzt und nicht mehr aus noch ein weißt, werde ich trachten zu kommen.“ Daraus spricht Liebe. Die Liebe eines einzigartigen Schamanen. Eine Einheit der Liebe von Gott und Mensch. Eine viel erhabenere Liebe als es die Einheit eines kleinsten, nicht mehr teilbaren Teilchens sein könnte. Unser Gegenüber, zu dem wir „Du“ sagen, Tag und Nacht, ohne Unterlaß. Und zu dem ich meinen Blick hinwende. Aus seiner Hand entfallen wir nicht.

    Und so verstehe ich auch den Nagual, diesen geheimnisvollen Zauberer aus der Wüste von Sonora, wenn er sagt, zum Adler zu beten sei ein Unding, denn der Mensch ist viel zu klein, als daß er die Quelle allen Lebens berühren könne. Das ist meisterliche Strategie. Ein meisterliches Unterfangen, das zum Denken herausfordert; zum Glauben und schlußendlich – denn darauf kommt es ja letztendlich an – zum Sehen. Auch wenn der Herr sagte: "Selig, die nicht sehen und doch glauben!" Zu Gott zu beten ein Unding? Ganz und gar nicht. Zu glauben, man könne Gott nicht anrühren? Ein Unding. Denn, und Juan Matus wußte es nur allzu genau, denn er sah es: Gott ist unendlich. Er ist allmächtig. Bei ihm ist nichts unmöglich. All dies steht in der Bibel. Er, der Wahre und Eine, er, unser Vater, er ließe sich von seinen Kindern nicht anrühren? Wie kleinmütig und geschmacklos, zu meinen, wir seien verloren. Oh Gott, oh Gott! Der Nagual wußte es. Das war sein Meisterpaß an uns. Seine Steilvorlage.

  4. Ein Raumüberbrücker

    Im Inneren, im Stillen wissen wir es. Das war doch immer schon so. Niemand, auch nicht weitum, bezweifelt das. Wenn der Unhold, das „Biest, das bis zum letzten Atemzug kratzt“, wie Juan Matus sich ausdrückt, zur Ruhe kommt, eingeschläfert wird. Wenn es uns selbst zu dumm wird und wir die Fronten wechseln. Nicht zu Mütterchen Rußland, direkt in Putins Arme; nicht zu den Geschäftemachern, den Denunzianten, jenen, die mit dicken Backen und Schweinsäuglein philosophieren: „Das Recht des Stärkeren ist Naturgesetz! Sieh‘ zu, daß du immer bewaffnet bist!“ Nein, nicht zu diesen; und auch nicht zu jenen, die sagen, am Ende siegt immer der Tod, und vor ihm das Alter. Zu all diesen wechsle ich nicht die Front.

    Ich wechsle die Front, wenn ich loslasse von mir. Wenn ich, im Dunklen im Bett liegend, mir klar werde: Das meiste, was ich denke, ist von geringem Wert, wenn überhaupt. Wenn ich mein Denken für einen Moment über Bord werfe und ein magisches Wort laut ausspreche: „Du!“ Wenn es mir gelingt, diese Selbstüberschreitung durchzuhalten, ohne den fremden, vergifteten, mir eingeimpften Gedanken: „Wenn dich jetzt jemand sehen oder hören könnte!“

    Wieviele der Erdenmenschen, die niemals beten. Wieviele, die sich über ihr Urteil etwas einbilden. „Zu beten, das ist doch Geisteskrankheit!“

    Dabei ist das Gebet der Ausgangspunkt für unser Heil. Der Heiland möge auf uns herabblicken. Er möge zu uns herabsteigen. Er oder zumindest ein Engel. Ein gottähnliches Wesen. Eine Transzendenz. Und wenn sie schon nicht herabsteigen, so mögen sie uns anhören, anblicken. Die Übermacht, mit welchem Auge auch immer. Nicht die verschlingende Übermacht, die Tsunami, die über uns hereinbricht. Nein, nicht der stille Tod, sondern das Wort. Ich lechze im Stillen nach dem Wort. Nach dem Wort, das mich aus der Dunkelheit anspricht. Ich höre. Oder, wie es der allerhöchstverehrte Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, eine Geistesgröße erster Ordnung, ausdrückt, „wir sitzen und hören.“ Im Zen nennen sie das „Zazen.“

    Alle Ureinwohner, alle „First People“ beten und singen. Und die meisten tanzen zudem. Und das tun sie wohl nicht zur Selbstergötzung und auch nicht zur Ergötzung ihres Publikums, das sie vielleicht hier und da haben. Sie singen und beten und tanzen in die Höhe. Sie wenden sich an den Vater, Wakantanka, den Großen Geist. An den, der immer DA ist. Sie heben ihre Gebetspfeife in die Höhe, vielleicht die Adlerfeder. Doch immer die Gebetspfeife. So reden sie, in ihrer gutturalen, schnarrenden, sonoren Stimme. „Ho he!“ Einer Stimme, der man es anhört, wieviel Leid mußte dieses Volk bereits ertragen, durchstehen. Dieses Volk, so nahe an der Auslöschung. Diese Völker, die eigentlichen Bewahrer der Überlieferung. „Diese Welt wird enden, so wie die fünf vor ihr!“ Niemand will so etwas hören. Niemand will so etwas sich vorstellen. Deshhalb verunglimpfen sie die Überbringer dieser Weisheit; wollen sie zum Verstummen bringen.

    Als der Peruaner Carlos Castaneda im Jahre 1960 in der Wartehalle der Greyhound- Bushaltestelle von Nogales, Arizona, dem so unbeschreiblich geheimnisvollen Yaqui-Indio Juan Matus, einem weißhaarigen Großvater in dessen 70ern, begegnete, wurde eine Epoche eröffnet, die erst im Frühjahr 1998 in Westwood, Los Angeles, Pandora Avenue, enden sollte. Eine Epoche von transkontinentaler Strahlkraft. Das wissen die Deutschen und auch die Russen unbezweifelbar. Das indianische Vermächtnis, ansatzlos einem messianischen ähnlich. Betrachten wir doch nur den Nazaräner: Seine Anhänger haben einen schlechten Stand. Sie werden lächerlich gemacht. „Was, ihr glaubt, das war Gottes Sohn? Wir wissen doch nicht einmal, ob er tatsächlich gelebt hat; ob das, was wir von ihm in der Bibel lesen, nicht schamlos erfundenes Gewäsch von machtgierigen Trägern der Amtskirche aus den folgenden Jahrhunderten ist? So etwas glauben Sie? Gottes SOHN, der auf die Erde herabstieg, um uns zu ERLÖSEN? Genieren Sie sich nicht?“

    Bedenken wir: Die Nordamerikaner sagen selbst, alle 20.000 Jahre trete ein Messias auf. Jener vor dem Nazaräner, Ramta, sei aus Nordamerika gekommen. Ein Messias, ein Heilsbringer. Der, dessen Draht zu unserem Vater, dem Einen und Allmächtigen, glüht. So nennt es der Nagual aus Sonora: Der Nagual, jener, der im Unendlichen ruht, reinigt sein Bindeglied zur Absicht. Er klärt es. Er reinigt seine Verbindung zum Geist. Er sieht den Geist, wie er weht. Er sieht die Omina. Sie sprechen zu ihm, unzweideutig. Er sieht die Befehle und gehorcht ihnen. Er sieht die Befehle Gottes.

    Castaneda hatte, als er zum Nagual wurde, nichts mehr mit der Anthropologie zu tun. Eine Atombombe, die zündet, hat nichts mehr mit ihrem Auslöser zu tun. Sie wird zu einem schicksalshaften Elementarereignis. Ein Stein, hundert Kilo schwer, der auf dem Mond einschlägt, hat nichts mehr mit den Kräften zu tun, die ihn dorthin lenkten. Denn sein Einschlag ist elementar. Seine Geschwindigkeit ist elementar. 60.000 Kilometer die Stunde. Ungebremster Einschlag. Ein Krater entsteht, der acht Sekunden nachglüht. „Was war das?“, fragt der Hobbyastronom, der seinen Augen nicht traut. Er schilt sich selbst, denn er hatte das Kontrollvideo nicht eingeschaltet, als es geschah.

    Was war das mit diesem eingewanderten Peruaner? Womöglich eine Lebensrettung durch Gewinnung einer unbeugsamen Absicht. Amen. Das hat nichts mehr mit bürgerlichen Werten zu tun. Nichts mit akademischem Wissen, das beim nächstbesten Feuer verbrennt. Wir können alle Titel dieser magischen, einzigartigen Bücher des Angelianers, alle Kapitelüberschriften auflisten, und wir erkennen, das hat mit uns ganz persönlich zu tun. Mit uns. Mit unserem Leben, mit unserem Tod. Niemand, aber auch wirklich niemand, kann uns dabei dreinreden. Eine Ära geht zu Ende. Eine neue beginnt. Eingeläutet von den Glocken einer Kapelle im zeitlosen Chapparal der Wüste von Sonora. Ein Junge, schweißtriefend, steht unter dem vereinzelten Torbogen einer verfallenen Kapelle, in welchem die Glocke hängt. Der Junge, ein Indiojunge, schwankt, unter der Last, die auf seinen Schultern steht. Der Junge, der halbwüchsige, weint, doch er kann nicht weinen, eine Mundharmonika klemmt in seinem Mund. Sein gepreßter Atem tönt die Harmonika an. Schlußendlich erträgt er die Last nicht mehr, er fällt in den Staub. Sein Vater ober ihm verröchelt im Seil. Henry Fonda grinst.

    Lange ist’s her. Alle tot, Charles Bronson, Jason Robards und alle anderen. Nur nicht Claudia Cardinale.

    Wovon Juan Matus spricht, ist epochal. Und diese Epoche wird nicht verklingen. Sie wird nicht verlöschen. Der Wind wird sie nicht verwehen. Jeder von uns, aber wirklich jeder, ohne Ausnahme, wird es bezeugen. Ho he.

  5. Regine, die königliche

    Erinnerungen

    Ein Feld läßt mich nicht los, wie denn auch? Es geht um gewisse Frauen. Frauen mit Sprengkraft. Frauen aus der Vergangenheit, die bis heute nachhallen. Es geht um den Krieg, der da tobt, bisweilen unter Schluchzen und Tränen, oder den stummen, den verbissenen. Es geht um die Schlucht, die die Geschlechter trennt; um den unüberbrückbaren Abgrund zwischen den Geschlechtern, wie es mir ein befreundeter Maler direkt nach einer Ayahuascasitzung formulierte. Natürlich ist das ein Generalthema. Muß es sein, erst recht, wenn ich die homosexuellen Paare sonder Zahl sehe. Irgend etwas läuft hier grundverkehrt schief. Ein massiver Protest gegen den Krieg. Ein Abschiednehmen vom Krieg, ein trauriges. Der Sex ist ein Verhängnis mit allerlei Verquerungen, Qualen und Konvulsionen. Mitunter führt er direkt in den Tod. Wer bleibt davon verschont?

    Heute nacht holte mich wieder einmal die Vergangenheit ein. Eine Dame aus der Vorzeit meldete sich mit Macht. Ich möchte von ihr erzählen:

    Sie hieß Regine, somit die königliche. Attraktivität pur. Ein elastischer Körper, alles wohlproportioniert. Anmutiges Gesicht, wie gemeißelt. Bronzene Gesichtsfarbe, als wohne sie in Griechenland. Doch sie war blond. Eine braunhäutige Skandinavierin. Sie war durchtrainiert, großgewachsen. Praktizierte Tai Chi. Sie sprach wohl abgewogen in Stil und Inhalt, ohne jemals die Balance zu verlieren. Eine Dame mit Stil, allein auf weiter Flur. Ich konnte ihr meine Verwunderung, oder sagen wir ehrlich: meine Bewunderung, für sie nicht verhehlen. Ich pilgerte einmal zu ihr hinaus, in den Süden Wiens, nach Rodaun, ohne Gastgeschenk (dazu war ich damals noch zu wenig erzogen), um ihr meine Betroffenheit zu gestehen. Ich gestand ihr, daß mich ihre Kultiviertheit und natürliche Schönheit verzaubere. Von wo habe sie diese her? Sie gab mir eine überraschende Antwort: "Vom Kind." Sie hatte ein Kind. Sie blieb mir unerreichbar. Heute nacht, nach 35 Jahren, kam sie wieder. Warum wohl?

    Castaneda hatte eine Kohortin, Regine Thal, eine Deutsch-Venezolanerin, wir wissen es. Florinda Donner-Grau. Die Autorin des preisgekrönten Buches "Traumwache". Allerfeinste Sahne. Regine Thal, die kleingewachsene, 1,55 groß, nicht mehr. Eine Chefin im Ring. Eine, die zeitlebens wie ein Mädchen wirkte und die, wie sie selbst schreibt, gewohnt war, ihren Altersausweis vorzeigen zu müssen. Regine Thal, die Meisterträumerin. Die zeitlebens mit Leichtigkeit in den Zustand der Traumwache zu gleiten verstand, den Zustand des erhöhten Bewußtseins. Ein Überwechseln wie auf einer Überholspur: Leicht, selbstbewußt, harmonisch, gleitend. Sie muß erst lernen, diesen Zustand zu würdigen, denn sie ist die Unmäßigkeit, die Gier in Person. Sie ist, wie es ihr die vier Pirscherinnen des Nachts bei einem belauschten Gespräch kundtun wollen, die größenwahnsinnige Schlampe. Das kleine blonde Biest, das haltlos mitlacht, gilt der vertrauliche belauschte Tratsch doch den vier Träumerinnen, Nelida, Zuleica, Hermelinda und Clara. Regine Thal macht in den gut drei Jahren ihrer "Erziehung" alle Kapriolen einer übersteigerten Intrigantin mit, die sie sich nie vorstellen hätte können. Eine Hochschaubahn in Permanenz, bei der sie Gift und Galle spuckt, ja Mariano Aureliano, den alten Nagual, nahe Tucson auf dem Parkplatz einer Imbißbude ins Bauchfleisch beißt (und dabei ihre Zahnbrücke verliert) und Juan Tuma, einen hühnenhaften Yuma-Indio, gegen dessen Schienbein tritt. Erst ganz zuletzt sieht sie ein, daß es ihr nicht vergönnt sein wird, sich Isidoro Balthasar, den neuen Nagual, ins Bett zu angeln. Ganz zuletzt. Ganz zuletzt kapituliert sie, als sich ihr Zuleica, ihre Traumlehrerin, zeigt. Zuleica, eine Meisterträumerin allererster Güte, die sogar imstande ist, das Geschlecht zu wechseln. Eine Meisterhexe der Geschlechterversöhnung pur. Epochal, von Wichtigkeit bis in unser Jahrtausend. "Ganz sicher bist du gespalten"…., und Regine Thal gesteht in Verzweiflung: Unser Geschlecht, ein Volk von Schizoiden.

    Und wir Männer, darf ich hinzufügen, ein Volk von Mördern.

    Zum letzten Mal sah ich Regine, die Kriegerin aus Wien 3., in einer Sitzung bei Kayserling. Kayserling kannte Castaneda, aus Los Angeles. Weiß der Teufel, wie er Zugang zum Angelianer bekam, er hatte auf jeden Fall freies Entrée. Es verwundert mich nicht. Wir sitzen also an einem Donnerstag-Morgen in Kayserlings Vorlesung auf der Angewandten, als er zum Trommeln anhebt, aus heiterem Himmel. Er bittet uns, die Augen zu schließen. Etwas trägt mich mit Leichtigkeit weg. Ich lande in Auschwitz, im Krematorium. Am nächsten Morgen, in der Mensa, spricht mich eine Polin an, aus heiterem Himmel. "Fühlst Du Dich nicht auch manchmal grenzenlos fremd hier?" Ihr Name war Irina. Ich besuchte sie noch am selben Abend in ihrer Untermietwohnung. Es schien mir dringlich. Sie war seltsam. Sichtbar entwurzelt. "Wo bist Du geboren?", frage ich sie. "In Auschwitz", antwortet sie. Zur Feier des Abends hatte sie belegte Brote vorbereitet. Auch ich war diesmal besser vorbereitet und hatte Roten mitgebracht. Sie leerte ihn. Mir ließ sie ein Glas. Das war mir nur recht.

    Die Frauen sitzen gegenwärtig wohl am Steuer und geben Gas. Doch Vorsicht, sie rechnen nicht mit Blitzeis im April auf der Höhe von Altlengbach. Massenkarambolage, 50 Autos darin verwickelt, auf einer Länge von 750 Meter. Oder, wie es eine andere Dame, bei uns zu Besuch, vor ein paar Monaten ausddrückte: "Sie wollen mir doch wohl nicht sagen, daß damenhafte 180 auf unseren Autobahnen nicht erlaubt wären, oder?"

    Oh, oh! Vorsicht!

    Es gab noch eine Unvergessene, eine Träumerin der Extraklasse, sie hieß Irmgard. Auch sie, so wie die anderen, zum Glück noch am Leben. "Ich fuhr", so erzählte sie mir einmal bei Gelegenheit brühwarm, "vergangenes Wochenende ins Waldviertel, nach Waidhofen an der Thaya, meine Schwester besuchen. Ich komme aus einem Wald, ungefähr 80 km/h schnell. Ein Hase quert die Fahrbahn, ich weiche ihm aus. Im Nu überschlägt sich das Auto und landet mit mir in der Wiese. Weit und breit kein Mensch. Das Auto stand wieder auf den Rädern. Das Dach hatte Blessuren. Ich schaffte es sogar wieder herauszukommen. Ich fuhr die ganze letzte Strecke im Schock. Erst bei meiner Schwester bekam ich einen Heulkrampf. Ich habe mir geschworen, von heute an nie mehr einem Tier auf der Fahrbahn auszuweichen. Denn einen solchen Schutzengel habe ich kein zweites Mal."

  6. Wir werden alle in Los Angeles sterben

    Aus dem Don Carlos-Zyklus.

    Als Osho Bhagvan Shree Rajneesh in einem Gefaengnis in den Vereinigten Staaten starb, war es ein Schock fuer seine Anhaenger, besonders jene, die in seinem naechtsten Umkreis gelebt hatten.

    Als John Lennon von einem geistig verwirrten "Fan" vor seiner Wohnung in Manhattan erschossen wurde, war es ein Schock zum europaeischen Morgenfruehstueck. Der Unfall von Jochen Rindt in Monza geschah an einem Samstagnachmittag, dem 5.September 1970. Die motorsportbegeisterte Jugend Oesterreichs lag daraufhin in Agonie.

    Wenn Agustin Rivas eines Tages gehen wird, wir es eine Bewegung in der Luft geben. Natuerlich bei weitem nicht so stark wie bei Tenzin Gyatso, dem 14.Dalai Lama, aber immerhin ein Beben. Manche in Europa werden ihm eine Kerze anzuenden, denn am Alten Kontinent hat er Freunde, die ihm besonders nahe stehen. Es wird ein Beben in der Luft geben und nichts mehr wird sein wie zuvor. Wie beim Vater, der geht. Danach ist alles anders.

    Bei dem exemplarischen Mann aus der Stadt der Engel war es eine tektonische Verschiebung, deren Nachzittern bis heute anhaelt. Die Mitarbeiter von Cleargreen leiden noch heute an seinem Verlust, denn dieser kam voellig unerwartet, galt er doch als faehig, den Tod in einer magischen Form zu transformieren. Insgeheim erhofften sie und die Praktizierenden von "Tensegrity" von ihm das Wunder der "Grossen Ueberquerung", nicht unaehnlich dem Glauben mancher Sektenmitglieder, die in den vergangen Jahrzehnten teilweise zu Hunderten den Massenselbstmord begingen, so wie 1978 die Anhaenger des Jim Jones in Britisch-Guyana.

    Der Mann aus der Stadt der Engel, brasilianischer Herkunft, ein Magier mit Charisma, er hatte es mit seinem Freund Rodrigo Cummings bereits zu Studentenzeiten an der UCLA ausverhandelt: Die Liebe zu dieser Stadt wuerde sie alle das Leben kosten. Es war eine Liebe so wie jene Wim Wenders‘ zu Berlin, dessen Film vielleicht das beruehrendste Denkmal darstellt, das ein Filmemacher einer Stadt setzen konnte (unter Mithilfe eines amerikanischen, verschrobenen Magiers, Peter Falk, "Columbo", Schachliebhaber. Und natuerlich mussten sie ein solches Werk in Hollywood abkupfern, mit Nicolas Cage und Meg Ryan, und nach L.A. verlegen. Ein Abklatsch.)

    Sich Castaneda zu naehern erfordert genaues Studium seiner Buecher. Genaues, jahrelanges Studium, und eine gewissenhafte, lebenslange Praxis. Praxis ist alles im Schamanismus.

    Der wahre, mystische, in seiner Geheimnistiefe unergruendliche, ja furchterregende Schamanismus ist ein lebenslanges Werk bis zur Erschoepfung, bis zur Ausloeschung, unter dem Mandat des Heiligen Geistes, dem niemand entfliehen kann, nicht einmal der Menschenschlaechter Saulus in uns. Bis zu den letzten Sekunden unseres Lebens, wenn wir den Kopf freiwillig auf den Richtblock gelegt haben und unser letztes Wort "Christus!" sein wird, so wie bei Paulus. Derart bewusst zu sterben ist Erleuchtung. ("Ich sage Dir, noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein").

    Wenn Agustin sterben wird, ohne Zeugen, wird es ein Wort von seiner Seite und ein Licht von der anderen Seite, vielleicht ein Feuer, geben, und es wird ein Beben in der Luft einsetzen, eine Welle, und die Voegel werden es uns kundtun: "Agustin ist tot!" Und wir werden in uns gehen und weinen, und manche werden beten, und im Stephansdom zu Wien werden wir Kerzen fuer ihn anzuenden, und er wird uns erscheinen, so wie er es uns versprochen hat.

    Als Castaneda starb, unter welchen Umstaenden auch immer und was auch immer sein Fortgehen zu bedeuten hat, und egal, ob er nun in Culver City eingeaeschert wurde, es war eine geraeuschlose Implosion, die seine Entourage bis ins Mark erschuetterte, sosehr, dass sie binnen Monaten alle verschwanden, bis zum heutigen Tag, jene aus der ersten Reihe, seine Kampfgefaehrten, die Allertreuesten. Als letzte ging Carol Tiggs, seine engste Mitstreiterin, eigentlich die Pallas Athene im Club, sie, die sich in der Oeffentlichkeit immer bedeckt gehalten hatte, obwohl sie sein Leuchtfeuer war, sie, die Meisterin, die viergeteilte Nagual-Frau, unter Traenen, in Ontario. Und die Spitzzuengler, die bis zum letzten Tag nicht fehlen werden, sprachen natuerlich sogleich von Selbstmord, erst recht angeheftet an Patty Partin alias Nurey Alexander, seiner Tochter aus der Welt der Anorganischen Wesen. Aber in der Welt der Zauberei (vielleicht ein heiligeres, weil dem Menschen zugaenglicheres Wort als das Tetragrammaton "JHWH") ist alles moeglich, – die Lottospieler beweisen es Woche fuer Woche, weltweit. Die Zauberei steckt in unseren Kinderknochen, in unserem kindlichen Verstaendnis. Wir tragen das Kind in uns, und der Nazaraener sagte es zwei Mal ganz deutlich: "Werdet wie die Kinder! Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!"

    Der Angelianer war ein Troll der Sonderklasse, ein gemaessigter Spassvogel, der dem Dalai Lama das Wasser haette reichen koennen, waeren sie wirklich zusammengetroffen und haette der gute Mann nicht ein dermassen unstillbares Vergnuegen empfunden, auf der sexuellen Neid-Schiene alle zur Weissglut zu treiben.

    Die Hopis und Tibet bilden eine Bruecke, an der das Heil der Welt haengt. Von den Hopis gibt es eine direkte Verbindung zu den Yaqui, und parallel dazu von den Navajos zu den Huicholes. Und Castaneda war zuerst eingepflanzt in Arizona. Er wuchs dort auf, unter dem Schutzmantel Meskalitos, des heiligen Peyote.

    Man kann nicht, selbst wenn es wissenschaftlich und literaturkritisch verbraemt ist, ins Gossenhafte abrutschen und feststellen, der Mann saugte sich alles aus den Fingern. Die, die so reden, stellen ihm damit das groesste Zeugnis aus. Aus welcher Feder kann ein solch magischer Text, mehrfach und komplex verwoben, entrinnen? Wer Castaneda einen Betrueger zeihen will, sollte eine hermeneutische Analyse seines Werkes vorlegen, und er wird in seiner Vorwurfsarbeit innehalten, denn er wird merken, das Geschriebene spricht ihn an. Wenn er nicht gar inmitten des Anhebungsversuches stirbt. Immer ist es einfach, einen Menschen wegen Ungereimtheiten in dessen Verhalten charakterlich mittels eines Rasierschnittes zu verunglimpfen.

    Castaneda schrieb mit dem letzten Atemzug "Tensegrity", und als er selbst spuerte, dass etwas in seinem Koerper ihm zurief "Es wird bald Zeit", "Das Wirken der Unendlichkeit". Die Leute machen bis heute elegante Boegen um diese Werke der Selbstentbloessung.

    Die Selbstentbloessung kann sich nur einer leisten, der weiss, bald gehe ich fort. So wie Christus, um dessen Leibrock sie wuerfelten, als er ueber ihnen schon am Kreuz hing, nur mehr mit dem Lendentuch bekleidet.

    Aber Castaneda ist mehr als nur der unbekannte grosse Bruder, den wir im Herzen als Vorbild mit uns tragen. Es ist seine Welt, in die nur ganz wenige eindringen durften. Wir nur literarisch. Die grossen Zauberer Mexikos. Sie sind es eigentlich, um deren Erbe es unablaessig geht und weiterhin gehen wird! Und keiner kann ihnen mehr habhaft werden. Was fuer ein Pech! Ja, was fuer ein Pech! Doch welcher Ansporn dem Lernenden! Deshalb stellen die Ideologen (und wir leben in einer Welt der Ideologie, mehr als jemals zuvor) sie kurzerhand als Produkte der Erfindung hin. Aber im Hintergrund laufen Nachforschungen; inquisitorische. Der CIA schickt Spezialisten in die Seminare, so wie die Russen, die schon immer fuer jeden Spuk zu haben waren. Und die Cleargreener, die alles dem Geist weihen, treten, das Gedraenge antizipierend, offen auf, hopp oder dropp, und gehen direkt nach Moskau, so wie demnaechst wieder. Das hat Charakter, meine Herren! Und in Langley wissen sie, oh Mann, wir haben die Crème de la crème dabei, Vorsicht, Herrschaften, Rechtsanwaelte aus New York und Washington D.C., und Schauspieler, oh, oh, Vorsicht! Besser mit Hintergrundarbeit arbeiten! Artikel lancieren!

    Was fuer ein Segen, der Buchdruck! Selbst die Nazis kamen mit ihm nicht zu Rand. Wie laecherlich muten die Feuerhaufen von damals heute an. Was war das doch fuer ein franzoesischer Geniestreich, dieses "Fahrenheit 471" mit Oskar Werner. Buecher in diktatorischer Zukunft in Waeldern auswendig lernen. Menschen als wandelnde Buecher. Francois Truffaut, ein getarnter Ausserirdischer ("Close encounter of the third kind"), der ebenso ueberraschend starb – keiner konnte es glauben -, er wusste es schon in den 60ern. Wir gehen schwierigen Zeiten entgegen. Nichts wird mehr diskreditiert werden als das Wissen, die Wahrheit. Die Wahrheit.

    Es gibt die Wahrheit. Die Wahrheit des Schamanen ist formuliert. Eines Nachts stehst Du auf, in deiner Wohnung, vom Bett, und gehst in das Badezimmr hinueber. Du machst kein Licht und siehst schweigend in den Spiegel. Etwas blickt Dir entgegen. Ein sterbliches Wesen. Deine Zeit verrinnt, auf ewig.

    "Wir werden alle in Los Angeles sterben". "Und dann, Sir, besteigen wir die grosse Faehre, den Grossen Wagen, nicht wahr, Sir? Und man erwartet uns, nicht wahr, Sir? Die Engel! Gracias por todo, Caballero!"

  7. Der kleine Max

    Cleargreen veröffentlichte vor wenigen Tagen auf ihrer Webseite die Ankündigung eines weiteren Workshops, und leitete dessen Titel mit folgendem Statement ein:

    “Astronomers have recently discovered that our own Milky Way Galaxy lies at the outskirts of a recently identified "ginormous" supercluster of galaxies which they have named "Laniakea," Hawaiian for "immense heavens." Superclusters, among the largest known structures in the universe, are made up of groups of dozens of galaxies, and massive clusters that contain hundreds of galaxies, all interconnected in a web of filaments. Our Laniakea Supercluster is 500 million light-years in diameter and contains the mass of 100 million billion Suns spread across 100,000 galaxies. (from Astronomy News)

    Isn’t it amazing to stop and consider that we once thought our earth was the center of the universe? And that we ourselves, as humans, were also the focal point? What a wonderful reminder that if we can step outside our "shadow roles," and our need to be the center of focus, that we can glimpse an incredible vastness of previously unknown realms–and humbly acknowledge that there are parts of it we will never know…So, in this spirit:

    Let’s Keep Getting Out of Our Own Way.“

    Let’s keep getting out of our own way. Das ist das Motto. Das Motto angesichts dieser astronomischen Beobachtung. Man könnte auch sagen: das Motto angesichts astronomischer Dimensionen. Dazu ist wegen der dichten Verwobenheit des Statements mehreres anzumerken:

    Die erste Frage, die sich spontan ergibt: Inwiefern ist das für mich von Belang? Man kann die Frage auch allgemein formulieren: Inwiefern ist diese Beobachtung der Astronomen aus Memphis, Tennessee, für uns Menschen von Belang? Von Belang kann sie nur für Menschen sein, die davon Kenntnis erlangen. Nehmen wir einmal an, diese Beobachtung wird für uns als Tote nicht mehr von Belang sein. Doch ausschließen können wir es ebensowenig. Darauf kommen wir zurück.

    Die Damen von Cleargreen, Renata und Nyei Murez, verwenden diese Beobachtung für ihre eigenen Belange, eben zur Bewerbung eines Workshops, in welchem es angeblich um „getting out of our own way“ geht, also um so etwas wie „über den eigenen Schatten hüpfen“. Dazu muß sofort eine Frage erlaubt sein: Ist es denn überhaupt notwendig, über seinen Schatten zu springen, von unserem Weg loszukommen? Ist das notwendig? Inwiefern ist das astronomische Argument der großen Zahlen ein Argument – mithin eine Berechtigung -, um mir nahezulegen, mich von „meinem“ Weg loszueisen, oder, von mir aus, zu „befreien“?

    Bezeichnenderweise beginnt Carlos Castaneda sein Letztwerk – wenn ich es einmal so nennen darf – „Das Wirken der Unendlichkeit“ mit einer Präambel, einem Prolog, einer Art von Gedicht, in der er auf die sogenannte Wissenschaftlichkeit der Aussage des Urknalls und die Sterblichkeit desjenigen, der diese Aussage tätigt, zu sprechen kommt, ebenso wie auf die Sterblichkeit desjenigen, der die Aussage vom Urknall bezweifelt.

    Die Reichweite dieser Aussage von Castaneda – nebst den dramatischen Umständen des Verschwindens von Castaneda – hat seinem Schüler Miles Reid schlußendlich die Augen geöffnet. In einem 20-Sekunden-Statement auf YouTube unterstreicht Reid die fundamentale Einzigartigkeit dieses schamanistischen Ansatzes. Er wiederholt einen Ausspruch von Don Juan Matus, der seinem Schüler erklärt, der Tod würde ihm, wenn es soweit ist, die Hand auf die linke Schulter legen und ihm sagen, diese Berührung ist das einzige im Leben des nun Sterbenden, das zählt. Das ist eine fundamentale existentielle Aussage, die meiner Meinung nach nicht überboten werden kann. Die fundamentale Tatsache, die fundamentale Wahrheit, die wir ständig ignorieren, ist die Tatsache, daß wir sterbliche Wesen sind und in jedem Augenblick sterben können. Das fortwährende Leugnen dieser Tatsache, sagt don Juan Matus, wird eines Tages den Untergang der Menschheit bedeuten. Nicht mehr und nicht weniger.

    An diesem Punkt heißt es innezuhalten. Inwiefern kann diese Ignoranz die Auslöschung der Menschheit bewirken? Eine Antwort drängt sich auf: Weil der Mensch in seinem Größenwahn vermeint, alles tun zu können. Weil er meint, der Turmbau von Babel der modernen Zeiten in allen Megalopolen ersetze Gott durch die Wissenschaft, die Erfindungskraft des Menschen. Weil der Mensch meint, er sei frei. Weil er meint, er lebe ewig. Weil er meint, er müsse nichts verantworten. Er müsse nicht die Zerstörung des Planeten verantworten. Weil er meint, er müsse das Morden nicht verantworten. Und das ist schlichtweg Geisteskrankheit. Anders können wir es nicht bezeichnen. Unser Herr, jener aus Nazareth, bezeichnete dies die Sünde gegen den Geist, die nicht vergeben werden könne. Und ich glaube, das nach und nach zu verstehen, so wie Miles Reid, unser Arzt aus Argentinien, der beileibe nicht auf den Kopf gefallen ist.

    Diese obsolete Haltung wird ihre Climax erreichen, und diese Climax, eines Tages, wird gleichbedeutend sein mit der Auslöschung der Menschheit. Kaum ist Ebola an der Westküste ausgebrochen, ist es auch schon wieder vergessen. Wen interessieren drei schwarzafrikanische Staaten und deren Bevölkerung? Etwas, das nicht mehr in den Medien kursiert, ist nicht mehr existent. Ganz einfach. So zu leben, in diesen Zeiten, rächt sich eines Tages.

    Das astronomische Argument ist somit Manipulation. Versuchte Manipulation einiger weniger. Dieses Argument mag manchen Ehrfurcht einflößen, doch auch hier fragt sich sofort, Ehrfurcht vor was? In früheren Zeiten genügte ein stiller, klarer Sternenhimmel. Später, als man von der Existenz der Milchstraße erfuhr, ein Blick auf dieses schimmernde Band quer über dem nächtlichen Himmel. Alles andere war dem Blick und dem Verständnis entzogen. Die Mehrheit der Menschen heute leben erst recht wieder in bitterer Unwissenheit. Sie wissen nichts von der Kugelform der Erde. Sie kennen nicht einmal die Erdanziehung. Die Menschen, die in dieser Armut des täglichen Kampfes um das sogenannte Überleben sich befinden, diese Menschen haben ganz und gar keine Ahnung, daß es vielleicht sinnvoll sein könnte, von sich selbst wegzukommen. Ein Kind, dem der Hunger den Bauch aufbläht, faßt keinen verwegenen Gedanken von der Gestalt „Let’s Keep Getting Out of Our Own Way.“ Vielleicht faßt das Kind einen Todesentschluß, einen Selbsttötungsgedanken aus Verzweiflung, doch das ist doch wohl etwas gänzlich anderes. Ich brauche wegen des Wissens um die Unendlichkeit nicht über meinen Schatten springen, um mich von der Notwendigkeit, mich ändern zu müssen, überzeugen zu lassen. Dazu brauche ich keine galaktischen Supercluster. Dazu genügt mir Ehrlichkeit, ein halbwegs klarer Blick auf mich selbst, meine Schwächen. Ein bißchen Klugheit, die mir sagt: „Mein Freund, du jagst einem falschen Selbstbild nach. Du gefällst dir etwa in der Rolle des großen Gatsby?“ Eine leise Ahnung genügt, die mir sagt: „Mein Freund, du bist nichts anderes als eine Serie von Gewohnheiten.“ Genau das sagt ja auch Don Juan Matus seinem Schüler Castaneda: Du bist nichts anderes als eine Anhäufung von Gewohnheiten. Du bist vorhersagbar. Du bist verknöchert. Du bist unbeweglich. Du bist dem Tode nahe, und merkst es nicht einmal. Man könnte eine Liste all deiner Gewohnheiten anfertigen. Diese Liste ist nicht allzu lange. Die eine oder andere Gewohnheit mag vielleicht gefinkelt und maskiert sein, denn du liebst es, dir selbst in die Tasche zu lügen, doch es bleibt eine Gewohnheit, eine exzentrische vielleicht. Doch von mir wirst du nicht sagen können, was ich mache, nachdem ich mich von dir verabschiedet habe.“

    Das verdeutlicht etwas klarer, warum mir das Statement der beiden Chacmools, Renata und Nyei Murez, sauer aufstößt. Für den Kampf gegen mich selbst, für den Kampf gegen meine apathische Resignation benötige ich nicht das Wissen um Supercluster, denn die Astronomie der großen Zahlen birgt eine große Gefahr in sich, und diese Gefahr wird an Stephen Hawking, dem Rollstuhlfahrer aus Cambridge, dem wir wegen dessen Krankheit die Unart des Eiswürfelwasserbegießens verdanken, deutlicher. Für Hawking, wie wir wissen, ist die Philosophie tot. 2.500 Jahre des Philosophierens haben sich totgerannt. Das vermeldet er lakonisch in einem Kurzsatz seines Buches „Der große Entwurf“. Dasselbe Buch beendet er mit einem ebenso lakonischen Satz: Für den Kosmos ist kein Schöpfergott notwendig, mithin auch nicht für den Urknall. Die Gesetze der Gravitation regeln alles selbst. Hawking ist das Paradebeispiel eines hochdekorierten, hochapplaudierten, maskierten Zynikers. Sein Zynismus besteht im Zentralsatz des wissenschaftlichen Positivismus: "Du verdankst dein Leben nur blindem Zufall." Hawking ist der Vorreiter der Ignoranz. Hawking darf sich jeden Gedanken erlauben, denn jedermann, der ihn sieht, sagt sich: „Eins ist sicher, dieser Mann, dieser Krüppel, dieses Gewächs kann mir niemals gefährlich werden. Aber eins interessiert mich doch wohl: Wie verbringt dieser Kerl, der schon überhaupt kein Glied mehr bewegen kann, seine Zeit?“ Stephen Hawking macht die Welt neugierig. Und wie beantwortet Hawking diese Neugier seiner Zeitgenossen? Mittels künstlicher Stimme, die aus dem Sprachcomputer schnarrt, und freundlicher Unbeweglichkeit. Ja, Stephen Hawking ist vollkommen ungefährlich. So meinen alle, die ihm in den Auditorien zuhören. Meinen sie. Der Professor, so sagen sie sich, ist zu menschlicher Leidenschaft nicht fähig. Das macht ihn ungefährlich und deshalb sympathisch. Und insgeheim denken sie sich: „Ja, das ist doch nett! Dieser Mann hat mit Benedikt XVI. auf Castell Gandolfo zu Abend gespeist und hat es ihm ordentlich reingesagt. Dem Papst ist sicher ob solcher Unverfrorenheit der Bissen im Hals steckengeblieben. Bravo, das lob ich mir!“

    Doch die Retourkutsche kommt unverzüglich. „Herr Professor Hawking: Da Sie nicht an Gott glauben, sagen Sie uns doch bitte: Leben Sie gerne?“ „Ja, doch wohl! Ich habe noch einige Pläne für meine Pension. Man hat mir sogar einen Schwerelosigkeitsflug geschenkt. Und eigentlich ist es das Leben doch wert, genossen zu werden.“ Soweit der Professor. Er lebt ohne Gott, scheinbar nicht unzufrieden. Er philosophiert über die Frage, warum die Naturgesetze so ausgefallen sind, wie sie sind.

    Cleargreen in Los Angeles philosophiert über andere Dinge: Wie können wir unsere Seminare peppig bewerben? Zum Beispiel mit einer faulen Katze auf einem Baumast, die, hingeflötzt, ihre vier Extremitäten in die Tiefe hängen läßt. Einer amerikanischen Katze, wohlgemerkt. Einer Katze die sterilisiert ist. Motto des Seminars: „Streßentspannung“. Die beiden Direktorinnen von Cleargreen wissen nicht, wie Katzen sein können. Kater fressen Junge, so wie Löwen. Das gefällt manchem Zeitgenossen nicht.

    Wenn ich nach unten blicke, von meinem Stammtisch aus, wird mir schwindlig. Ich hätte gerne festen Boden unter den Füßen, so wie Dustin Hoffmann, der Rain Man. Ich brauche keinen Einflüsterer, der mir sagt, „Partner, im Grunde genommen bist Du auswechselbar. Du bist nichts weiter als ein feuchter Furz, zum Tode langweilig. Wenn du wenigstens imstande wärst, eine Frau mehrmals am Tag zu beglücken, so wie Castaneda, könnte man sagen, oh, was für ein toller Stier! Doch bei Dir ist alle Hoffnung verloren!“

    So what? Ja, was? Wie heißt es doch so schön? Weitermachen! (Doch nicht mehr wie bisher). Mahlzeit!

    Die Herrschaften aus Memphis haben ein dreidimensionales Spinnennetz konstruiert, ein Modell unseres Universums. Und siehe da, was haben wir denn da?, fragen sie. Wir haben hier Supercluster, die miteinander verwoben sind. Und wir haben sehr viel dunkle Materie und noch mehr dunkle Energie. Sehr, sehr spannend, werte Zuschauer. Hier müssen wir weitermachen. Das ist Ihnen doch wohl klar?

    P.S. In dieser lebhaften Diskussion hat noch jemand ein Wörtchen mitzureden, Tensin Gyatso, seine Heiligkeit, der 14.Dalai Lama. Ein Mann, dem ich immer wieder gerne zuhöre, sogar dann, wenn ich mir noch nicht die Zähne geputzt habe. Gestern hat er vermeldet, er wolle gerne 100 Jahre alt werden. Zwar träume er gegenwärtig lebhaft, er werde 117, doch 100 genügen ihm auch, und außerdem habe er seine Absicht, nicht mehr wiedergeboren zu werden, widerrufen, und das, solange es leidende Wesen auf diesem Planeten geben. Hut ab, Eure Heiligkeit, und "Danke". Tensin Gyatso kennt das Problem der Supercluster aus seinem wissen um die Wiedergeburt. Und damit schenkt er uns auch die Antwort, ob der Kosmos im Augenblick unseres Sterbens für uns relevant werden könne. Wir dürfen es annehmen, denn dann – und das ist doch wohl äußerst beruhigend – werden wir keine alten, vermaldeiten Auffassungsprobleme mehr haben, für die sie uns in der Volksschule grün und blau geschlagen haben.

  8. Die Unerhörtheit einer Lehre

    Wann auch immer es ruhig wird inmitten des hektischen Getriebes eines vor nicht abschüttelbarer Hitze strotzenden, lärmerfüllten Arbeitstages, Bilder des Friedens tauchen auf, und, ja, ich will es so nennen, es sind friedvolle Einblicke in eine Vergangenheit, die nie vergeht, die immer lebendig bleibt und vor meinem Auge, dem einwärts oder hinüber blickenden, hervorkommt aus dem Dunst der Müdigkeit, der Verdrossenheit, der Angst. Ja, der Angst. Wie nicht der Angst und ihren vielfältigen Gesichtern verfallen, in einem von hunderten von Momenten eines Tages, die uns Unaufmerksame, die wir so gerne stumpfsinnig dahindümpeln möchten, versklaven wollen, versklaven zu konsumatorischen Tieren. Schlachtvieh?

    Wann auch immer Besinnung einkehrt in diesem Moment der Bedachtsamkeit, der Bescheidenheit, des Vertrauens in geliebte Menschen, und geliebt sind mir nicht nur die Lebenden, die Nahen, die mit mir Gehenden, es sind auch und mehr denn je die Altvorderen, jene, die das Erbe der Menschlichkeit, des Mitgefühls, der Wahrheitssuche und ganz zuvorderst des Glaubens auf ihren Schultern trugen und sogar in ihr Herz eingepflanzt hatten.

    Wann auch immer Friede einkehrt in meinem Sinnen, gepaart mit Dankbarkeit, am Leben sein dürfen, danke ich zugleich diesem unfaßbaren Erbe der Weisheit jener Männer und Frauen, die in ihren Heimatkontinenten als „First People“, als „Natives“ bezeichnet werden. Sie sind es, die auftauchen aus dem Dunst der Vergangenheit, an Orten, an denen ich damals, als ES geschah, nicht sein konnte, damals, als die entscheidende Begegnung vonstatten ging, eine weltverändernde Begegnung, so unscheinbar sie sich auch ausnehmen sollte.

    Ein Schüler begegnet seinem Meister. Er wird ihm vom Großen Geist, dem Einem, dem durch und durch Heiligen, zugeführt. Die Jahre sind gezählt. Immer sind die Jahre gezählt. Sie wandern in der Halbwüste, sie wandern im Küstengebirge. Sie wandern in der, heute, größten Stadt dieses Erdballs, Ciudad de México. Es dämmert Abend, sie sitzen im Park von Alameda. Ein Mann stirbt vor ihren Augen. Er stirbt ohne Gewalt, am Boden. Die Umhergehenden machen einen Bogen um ihn. Niemandem fällt auf, hier stirbt ein Mensch. Niemand realisiert, hier, direkt neben mir, waltet die Unendlichkeit. Bei einer anderen Gelegenheit, wieder im selben Park, doch diesmal am helllichten Nachmittag, kommt ihnen die „perfekte“ Frau, wie sie der Meister als solche bezeichnet, entgegen. Der Schüler, dessen Aufgabe es wäre, sie aufzuhalten, weil sie ihm, aus einer geistgeleiteten Warte, durch das Omen für ein Leben der Erfüllung bestimmt ist, der Schüler stammelt in seiner Hilflosigkeit, doch der Meister, der seinesgleichen sucht, weiß, was zu tun ist, und er markiert sie mit seiner Absicht, um die junge Frau später wiederzufinden.

    Jahre vergehen, Jahre der Qual. Jahre des Disputes. Lernen fällt niemandem in den Schoß. Lernen ist Qual. Lernen ist Selbstüberwindung. Lernen ist, den klaren Blick erlangen. Selbstunvoreingenommenheit. Unvoreingenommenheit des Selbst, das in einem Moment entgegen aller Widerborstigkeit gelernt hat, sich zurückzunehmen und die Sinne zu öffnen. Lernen ist ein Quantum Disziplin über eine Durststrecke hinweg. Dann ergibt sich wesenhaft Neues.

    Und im Handumdrehen rechtfertigt der Meister dieses Tun auf eine nicht unkluge Frage seines sich scharfsinnig wähnenden Schülers hin: Alle Wege führen nirgendwo hin. Es bleibt uns also nur übrig, einen Weg mit Herz zu wählen, einen Weg, dem Herz innewohnt. Das, so will es mir scheinen, ist der Inbegriff von Weisheit. Und heute, im Alter, erst im Alter, gestatte ich mir, all das, was mir das Leben beschert hat, zu schätzen. Ja, ich schätze es, und ich schätze all diese Autoren, die mir Jahre der gefesselten, der atemlosen, der aufmerksamen Lektüre beschert haben, aber hier, ganz zuvorderst, ist es mir ein Herzensanliegen, dem Arbeitseifer Carlos Castanedas zu danken, der die Worte dieses einzigartigen Yaqui-Lehrers Juan Matus und die Erlebnisse mit ihm zu Papier gebracht hat, minutiös, akribisch, atemberaubend, ja, sosehr atemberaubend, daß sich mancher Leser, wie etwas Dr.Miles Reid, eines der ominösen Bücher im Gehen zu lesen gezwungen sieht. Nahrung für ein ins Unbekannte führendes Leben. Nahrung.

    Eine Lehre, die den Tod des Menschen thematisiert, seine äußerste, tagtägliche Gefährdetheit, eine solche Lehre kann nur verstören und wird gezwungenermaßen von jenen, die sich, in alltäglicher Ignoranz übend, unsterblich wähnen, angefeindet. Es ist ja noch schlimmer. Wir wähnen uns nicht nur unsterblich, wir töten mit diesem heimlichen Credo, wie es Nietzsche nur allzu hellsichtig aussprach, Gott. Wir haben ihn getötet und wir töten ihn täglich aufs Neue.

    Und hier kann sich ein wahrhaftiger Krieger wie der Nagual juan Matus, ein Yaqui-Indio, nur angewidert und traurig abwenden. Denn er sieht. Er sieht: Wir suchen den Tod. Etwas in uns sucht Befreiung im Tod.

    Das läßt mich verstummen, denn es ist unerhört.

    Bilder tauchen auf aus dem Nebeldunst der Sonora-Wüste. Worte erklingen. Worte, die gesprochen werden mußten.

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