In den vergangenen Tagen hatte ich die Möglichkeit einem Schauspiel der besonderen Art beizuwohnen. Eine rotbuschige Eichhörnchendame brachte ihrem Nachwuchs das Klettern und Springen bei. Die beiden schwarzgefärbten Jungtiere rannten flink ihrer Mutter hinterher und imitierten mit erstaunlicher, doch kindlicher Eleganz die Manöver des Muttertiers. Das Szenario wandelte sich plötzlich. Die Mutter suchte einen Platz auf circa sieben Meter Höhe um von einem Baum zum anderen zu springen. In einer Astgabel, welche Platz für alle drei Tiere bot, verharrte sie für einen kurzen Moment und setzte dann zu ihrem waghalsigen Sprung an. Immer wieder sprang sie hin und her, wobei sie sehr nervös wurde und zum Teil auch auf den Jungen landete. Anscheinend war sie über deren Zaghaftigkeit und Vorsicht nicht sonderlich begeistert.

Plötzlich sprang eines der Kleinen los, doch verfehlte es den Ast. Nach einem drei Meter tiefen Fall konnte es sich mit Müh und Not an einem kahlen, exponierten Zweig festhalten. Es kletterte erneut zu der wartenden Astgabel empor. Noch immer sprang die rothaarige Mutter aufgeregt hin und her. Nach einer Weile bahnte sich der nächste Sprungversuch eines der jungen Eichhörnchen an. Es drückte sich ab, sprang, verfehlte den Ast und sauste in die Tiefe. Dieses Mal gab es keinen sicheren Ast.

Es schlug hart auf den Boden auf. Für einen kurzen Moment blieb es dort liegen. Rappelte sich aber erneut auf und kletterte den Baum ein Stückchen nach oben. Es schien leicht verletzt zu sein, doch der Schock sass tief. Die Mutter betrachtete das Kleine nur kurz, eher flüchtig. Sie erklomm wieder die Astgabel und sprang wie wahnsinnig hin und her. Das verletzte Tier machte sich anstelle zur Korne des Baumes auf den Weg zum Wurzelwerk, wo eine kleine Eibe eine natürliche Höhle bildete. Dort setzte es sich nieder und rehabilitierte sich.

Sieben Meter weiter oben, versuchte das zweite Jungtier seinen Sprung und schaffte es den Ast des anderen Baumes mit einer Pfote zu erreichen. Mühevoll zog es sich hoch, hatte es aber geschafft. Flink verschwanden die beiden und liessen das verletzte Eichhörnchen zurück. Als sie aus meinem Sichtbereich verschwunden waren, ging ich langsam zu dem Versteck. Ich kniete mich hin und fand mich mit dem Eichhörnchen Aug in Aug wieder. Es blutete aus der Nase und weinte. Es weinte!

Eine Zeit lang sassen wir beide da und sahen uns an.

Schliesslich zog ich mich aus der unmittelbaren Nähe des verletzten Tieres zurück. Es sammelte sich nach längerer Zeit und begann aufs Neue zu klettern. Der Sturz hatte es nicht allzu schwer verletzt. Nur die Nase blutete. Es stand wieder.

Die folgenden Tage fragte ich mich häufig, wie es dem Tier wohl seit diesem Erlebnis ergangen sei. Hatte es gelernt sich nicht mehr zu drängen, oder versuchte es nach wie vor über Abgründe zu springen, die noch zu weit entfernt waren oder niemals dazu gedacht waren übersprungen zu werden?

Hatte es gelernt, selbst die eigene Mutter in Frage zu stellen?

Ich sehe es klar vor mir, wie es mit blutverkrusteter Nase aber klaren Augen sagt: „Ich danke dir geliebte Mutter, da du mich gelehrt hast mir Selbst zu vertrauen.“

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  1. Die Träumer. Das Land meiner Träume

    Wir kommen aus dieser Misere nur heraus, wenn wir alles stoppen. So würde ich mir das wünschen. Das ist mein Traum: Alles stoppen. Jede Maschine steht still. Kein Mensch in irgend einem Hochhaus- oder Wolkenkratzerlift weltweit. Kein Mensch in einem Atom-U-Boot. Kein Flugzeug in der Luft. Alle Flugzeuge landen, keines startet. Alle Fahrzeuge stoppen. Alle Maschinen aus. Ein Traum, ja, doch ein anziehender. Alles verlangsamen, bis zum schlußendlichen Stillstand. Alle stehen still. Manche setzen sich dort nieder, wo sie gerade stehen. Die Uhren am Handgelenk ticken noch, so wie die Herzen im Brustkorb. Eine ungesehene, unbekannte Stille umfaßt den Erdball. Selbst das Denken kommt zum Erliegen.

    Nicht nur zu Weihnachten und auch schon im Advent frage ich mich, wann wird es endlich still? Ja, nur ein wenig leiser wäre bereits ein Segen. Aber nein, je näher Weihnachten, umso lauter. Zu Weihnachten Schweizerkracher, hier im tropikalen Südamerika. Blechernes, ekelerregendes Weihnachtsgepiepse von bereits im November blinkenden Weihnachtsplastikbäumen. Das ist unsere Situation, und man darf sich befugter- und berechtigterweise fragen, wie, um alles in der Welt, kommen wir aus dieser zum Himmel stinkenden Sch… je wieder heraus. Aus diesem unendlichen, allerfüllenden Gegröle, diesem von Schußstakkatos begleiteten Blutbad in allen Erdteilen, wo uns zerfetzte Körper aus dem Fernsehen entgegenfallen. Welcher Ungeist bläht sich hier erdballverschlingend auf und zieht bereits unsere Kinder von früh an in seinen Bann?

    Ich kann nur sagen: Ruhe bitte! Stille! Verlangsamung der Zeit! Das ist mir der liebste Club, die liebste Errungenschaft. „Verein zur Verlangsamung der Zeit“, in Wien gegründet. „Spare Nerven, fahre Bahn“, stand auf dem vorbeifahrenden Zug der Steyrertalbahn, vor vier Jahren, just in dem Moment, als ich meinen von meinem Jugendfreund angedeppschten PKW beim Garagisten zum letzten Mal abstellte. Kein größerer Geldvernichter als dieses Goldene Kalb. Sehe ich mir heute einen Auspuff an, aus dem Abgase quellen, ich kann es beinahe schon nicht mehr glauben. So etwas soll nicht sündhaft und dem Planeten schädlich sein? Schwermetalle finden sich heute bereits in der Antarktis, sagte mir ein betagter Kollege vor Jahren in der beschaulich stillen Einöde von Hohenwoos. Er hatte kein Auto mehr. Weiß nicht einmal, ob er je eins besessen hatte. Er lebte als Einsiedler zur Untermiete bei Martha, in der ehemaligen Volksschule, die noch mit Reet gedeckt war. Er war ein belesener Homöopath, ein leidender Humanist. Er sprach von der Faszination des Mythos. Er meinte, der Mythos komme aus alter Zeit, sehr alter Zeit, als die Welt noch eingetaucht war in einen sie im Griff haltenden Traum. Es war Traumzeit damals, so formulierte er es. Und er dachte dabei nicht an die First People Australiens. Ich jedoch denke immer an sie, und nicht nur, wenn ich an der nächsten Ecke der Wiener Käntnerstraße in frühwinterlich abendlicher Kälte einen passionierten Didgeridoo-Bläser ausmache, der mich automatisch stehenbleiben heißt.

    Ich denke an Bruce Chatwin, den Unvergessenen, der den Australianern mit „Traumpfade“ ein einzigartiges Denkmal setzte. Ich denke an Karl Merkatz, diesen Urwiener, ein Unikat in der Volksbühnenlandschaft, er ein aufrechter Sympathisant der Ureinwohner des Sechsten Kontinentes. Er, der jedes Jahr zum Walkabout mit ihnen aufbrach, und der manches Geheimnis sah. Schlußendlich, als es schon wieder heimreisen wollte, eines Nachts, vor vielen Jahre – ewig ist´s her -, traumwandelte er in seinem Hotel und wollte in den Swimmingpool springen, doch der war leer. Merkatz überlebte. Er ging blutüberströmt selbst noch zum Krankenhaus, den Schädel gebrochen. So endete Walkabout.

    Die Australianer, die Blauen Menschen. Agustín nennt sie die Blauen. Neben den Roten, den Weißen, den Schwarzen und den Gelben. Jeder Kontinent hat seine Farbe, sagte er bereits zu Beginn unserer Begegnung. Australien wurde von den Blauen besiedelt. Magier. Vielleicht die größten. Ich weiß nichts von ihnen. So sprach Agustín.

    Die blauen Buschmänner. Vagabunden. Nicht seßhaft und nicht einmal Nomaden. Sie wandern ihr ganzes Leben, zu Fuß. Nicht so wie das Fahrende Volk mit Mercedes und Anhänger. Sie wandern nackt. Sie pflücken Beeren, Wurzeln, Früchte. Sie essen Schnecken, Würmer, Heuschrecken. Vielleicht fangen sie einmal einen Leguan. Vielleicht. Ich weiß von alldem praktisch nichts, aber ich stell es mir so vor.

    Sie wandern herum. Sie wissen, wo sie sind. Das ganze Reich gehört ihnen. Sie hüten es. Jeder Landstrich hat sein Lied. Jede markante Formation. Und wir sprechen nicht vom Heiligtum schlechthin, Uluru. Nein, jede markante Formation hat ihr Lied. Jeder Fluß, jeder Bach, jede Wasserquelle.

    Sie wandern in einer Zeit, die nicht die unsere ist. Erstaunlich und notwendig. Das ist vorbildhaft. Eine erstklassige Leistung. Sie leben in ihrer Zeit, einer Zeit, die nicht die unsere ist. Das ist ein intellektueller Titanenakt: Sich dermaßen radikal vom Diktum unserer Zeit, jenem der sogenannten Moderne, freizuhalten, sich nicht behelligen zu lassen. Das ist titanenhaft und fordert unmittelbar Respekt.

    Sie wandern und singen. Singende Wandervögel, eins mit der Natur. Sie, die Blauen, die Verkörperung eines einstmals weltumspannenden Mythos. Vielleicht existiert dieser Mythos nach wie vor. Vielleicht ist er sogar unzerstörbar. Doch eins ist klar: Wir wollen nichts von ihm hören. Wir wollen ja überhaupt nichts mehr hören. Nur mehr unseren ständigen Monolog. Unsre eigene Selbstrechtfertigung. Wir wissen ja soundso bereits alles. Wem also sollten wir dann noch unser Ohr leihen?

    Sie wandern dahin, zeitweise unter glühender Sonne. Sie rasten im Busch. Sie feiern nächtens, beim Feuer. Sie tanzen und singen und musizieren. Kein Fremder ist eingeladen. Ausnahmen gibt es immer. Chatwin, Merkatz. Wenn Rettung, dann von den Blauen.

    Das war noch nicht das letzte Wort. Ich bleibe im Anspruch. Jetzt eine Mütze Schlaf.

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