Wiederum Sonntag. Wiederum Besinnung. Rückbesinnung.
Hans Strotzka, der Gründer des Institutes für Tiefenpsychologie an der Universität Wien, wurde in seiner Hauptvorlesung einmal frech gefragt, warum denn auch er, so wie viele andere Analytiker, Zigarillos rauche, und Strotzka antworte, „Wissen Sie, Frau Kollegin, wenn Sie sich mit Haut und Haaren auf das Leid Ihrer Patienten einlassen – und das wird Ihnen nicht erspart bleiben auf der Suche nach der vergrabenen Wahrheit – dann stehen sie natürlich in der Gefahr, sich im Leid zu verlieren, und außerdem werden Sie schnell einsam, denn Sie können Ihre Gedanken nicht so einfach zuhause wiederholen. Sie gehen die meiste Zeit schwanger und werden schweigsam. Und da ich bei Gott kein Buddhist bin, sondern mir einen Rest von Appetit aufgespart habe, rauche ich eben. Ich hoffe, es stört Sie nicht.“
Ein andermal wurde er von einem linientreuen Studenten aus der hinteren Reihe gefragt, „Herr Professor, glauben Sie an Gott?“ Da schmunzelte Strotzka und lachte sein bubenhaftes, heiser-kerniges Lachen. „Ich könnte Ihnen antworten, Herr Kollege, bitte ersparen Sie mir diese Frage. Oder sollte ich eine neue Vorlesung eröffnen? Wie Sie wohl hinlänglich wissen, haben sich schon genug Kollegen diesem Thema gewidmet, so wie Herr Moser und mein Freund Horst Eberhard Richter, und Freuds letztes Werk, wie Sie wissen, galt Moses. Und wir haben genug Theologen in Wien, die sich gut auskennen mit Freud. Aber ich muß Ihnen leider sagen, wenn Sie des Ausmaßes an Leid in der Kirche, vor allem unter den Frauen, gewahr werden, dann tritt die Gottesfrage in den Hintergrund und Sie stellen sich pragmatische Fragen nach Solidarität. Aber ebenso wird schnell klar, Sie müssen die Bibel lesen. Oder nochmal lesen. Und dann, wenn Sie in Ihre erste Krise schlittern und Sie sich fragen, was mache ich denn eigentlich da? Was ist das für eine Sprache? Bin ich nicht eine Sprechpuppe? Dann stellen Sie sich gewisse Grundsatzfragen zur Kommunikation unter Menschen generell. Diesen Weg sind schon viele vor mir gegangen. Und es wurde immer Zeit, sich selbst wieder einmal auf die Couch zu legen.“
Hans Strotzka, dieser gutmütige Bär, dieser Riese, dessen Lachen oft kindhaft naiv und ursprünglich wirkte, der so ganz ohne Maske dahertrollte, er wurde am 16.Juni 1994 von uns gerissen, so wie Ingeborg Bachmann, beim Feuermachen seines Kanonenofens im Altersheim, so wurde geschrieben, fing er Feuer und erlag seinen Verbrennungen. Ein verspäteter Scheiterhaufentod, vielleicht Strotzkas ultimative, metaphysische Solidaritätsbekundung mit den Opfern des Mittelalters. Gott hab‘ ihn selig!
Mein Freund, der aus dem selben Grätzel stammt, lebt zum Glück noch. Er ist mein Hausarzt auf Entfernung, weil er sich neuerdings mit Fragen des geistigen Heilens beschäftigt. Er kennt eine Reihe von Curanderos, und bei allen konnte er sagen, wo sie der Schuh drückt. Als diskreter Arzt behält er solche Diagnosen natürlich für sich, erst recht, wenn der Hexer meint, er könne jede Krankheit heilen und sich selbst für pumperlg’sund hält.
Dieser Freund ist so wie Strotzka Sozialpsychiater. In jungen Jahren ging er in den Kongo und überlebte dort wie durch ein Wunder Ebola. Das soll heißen, es war ihm so bestimmt. Er wurde geleitet. So wie die vielen Nonnen, die, vor Ort ansässig, in den Tod geleitet wurden. Der gute Mann kehrte zurück und vergaß nie mehr was gesehen. Dann eröffnete er seine Praxis und machte sich mit Mapachos rüstfertig, dem Elend zu begegnen. Und das Elend findet bis auf den heutigen Tag kein Ende, nein, heute droht es bereits die Kinder zu verschlingen. Als er in den ersten Jahren der Gründung Otorongos von Betsy Grobecker gefragt wurde, „Sir, was verstehen Sie unter einer schizoid psychotischen Persönlichkeit?“, und mein Freund ihr antwortete, es war später Vormittag, „Um es anschaulich zu beschreiben, Mylady, ein Mensch, der in einem Gebäude haust, dessen Statik nicht stimmt, das heißt, dessen Mauern vom Keller bis zum First Risse durchziehen, sodaß es irgendwann einmal einstürzen wird.“ Da blickte sie ihn nachdenklich an. „Ist das nicht gefährlich, ich meine, für Sie?“ Und mein Freund, nennen wir ihn Thorvald Einarsdöttyr (isländische Vorfahren, Vater früh auf See ertrunken), blickt sie ebenso versunken an, weil er diese direkte ehrenvolle Anpieksung so früh am Morgen (nun ja, nach Ayahuasca) nicht erwartet hatte, und antwortet: „Nun ja, freilich, das ist Berufsrisiko. Da muß man sich schützen und so weit als möglich abschätzen, worauf man sich einläßt.“ Und Betsy hakt nach: „Und wie?“ „Nun, durch Gebet, Mapachos und Weihwasser.“
Thorvald, der’s nicht leicht hat, weiß, wo den Hexer der Schuh drückt. Jüngst erhielt ich per Telefon einen wichtigen Rat, als ich ihm meine Bredouille schilderte, weil meine Tarockfreunde nach dem bitteren Tod unseres Pfarrers und Rundenteilnehmers nicht mehr unter dem Kruzifix die Karten verteilen wollen. Das macht sie zu nachdenklich, sodaß sie sich nicht mehr aufs Spiel konzentrieren können. Thorvald knurrte ins Telefon (es war sonniger Samstagabend): „Das hat Tradition und ist mir nur allzu bekannt.“
Verstehen Sie mich, werte Damen und Herrschaften? So ist mein Hausarzt. Du kannst mit jedem Anliegen zu ihm kommen (Geldsachen natürlich mal weggelassen), und er versteht dich. Normalerweise überleben einen die Hausärzte, das ist auch keine Schande. Thorvald wird also das Privileg eingeräumt, eines Tages eine Flasche Roten über meinem Grab zu leeren. Wohin, bleibt ihm überlassen.
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Die Mauer des Virus, genannt Tollwut
Wenn wir die Apokalypse, also die Auslöschung der Menschheit, unter der Vorstellung eines viralen Ausbruchs abwägen, stoßen wir notwendigerweise auf die Mauer des Wahnsinns. Der soziale Wahnsinn, wie er sich in vielen schreckenerregenden Facetten darstellt, ist nur ein Präludium zur unbeantworteten Heilsfrage, die in einen Ausbruch der Verweiflung einmündet. So wird es von Will Smith in „I am legend“ dargestellt. Er als einziger Überlebender in New York nach einer globalen viralen Katastrophe, darf sein Credo wiederholt und wiederholt schreiend gegenüber einer anderen Überlebenden aus Maryland darstellen: „Da gibt es keinen Gott! Es sind alle tot. Das Virus hatte eine Mortalitätsquote von 99%. 1% hat überlebt, doch diese 60 Millionen wurden von den zu Bestien mutierten Menschen aufgefressen. Da gibt es keinen Gott!“
Das ist also das Szenario und die Essenz der verborgenen Wahrheit: Gibt es keine Menschen mehr, so besteht auch keine Notwendigkeit für einen Gott. Wenn die von entstellender Tollwut gepackten, zombieähnlichen Überlebenden zu Menschenfressern werden, dann ist da kein Platz mehr für einen Gott. Dann hat sich die Heilsgeschichte und ihre Theolgie erübrigt. Natürlich ist so etwas Ideologie, amerikanische Ideologie aus Hollywood. Denn natürlich ist dieser angesprochene Unglaube für Will Smith kein Grund, ein Unwesen zu werden. Er spielt weiter Golf auf den Flügeln eines Supersonic-Clippers, liebt seine Hündin und Shrek, dessen Dialoge er auswendig kennt.
Die Mauer des Wahnsinns, die der Psychiater wahrnimmt, die der sozialen Tollwut, ist konsequenterweise eine Lügnerin, denn der Patient, der ernsthaft gefährdete, ist abgrundtief vereinsamt. Er prallt gegen eine Mauer, eine gigantische, himmelhohe Staumauer, doch keiner erhebt für ihn, den Verwundeten, die Stimme. Keiner in der Politik, somit in der Geschäftemacherei, spricht offen aus, was eigentlich unübersehbar sein sollte: Wir sind vereinsamt und kontaminiert. Wir werden pausenlos beschossen und zerfetzt.
Der Psychiater sieht den Demiurgen Mensch in dessen Labors am Werk, und er fragt sich: „Wie retten? Wie heilen?“
Und selbst wenn dieser Arzt ein christlicher sein will, hat er es nicht leicht.
Er wird mit Texten wie diesem konfrontiert:
„Retten heißt: vom Bösen befreien. Es geht hier nicht nur um soziale Übel wie Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung; und auch nicht nur um Krankheiten, Katastrophen und alles, was in der Menschheitsgeschichte als Unglück eingestuft wird. Retten heißt: vom tief eingewurzelten, endgültigen Bösen befreien. Dieses Böse ist nicht einmal mehr der Tod. Er ist es dann nicht mehr, wenn auf ihn die Auferstehung folgt. Und die Auferstehung erfolgt durch Christus. Durch den Erlöser hört der Tod auf, ein endgültiges Übel zu sein, weil er der Macht des Lebens unterworfen wurde. Die Welt hat keine solche Macht. Die Welt, die ihre therapeutischen Techniken in den verschiedensten Bereichen verbessern kann, hat nicht die Macht, den Menschen vom Tod zu befreien. Und deshalb kann die Welt für den Menschen keine Quelle des Heils sein. … Retten heißt: vom ursprünglichen Bösen befreien. Dieses Böse ist nicht nur der allmähliche Verfall des Menschen im Laufe der Zeit und sein endgültiger Abstieg in den Tod. Das noch ursprünglichere Böse ist, daß sich Gott dem Menschen verweigert, daß er ihn auf Ewigkeit verdammt als Folge davon, daß der Mensch sich Gott verweigert hat. Die Verdammnis ist das Gegenteil von Heil. Beide sind sie verknüpft mit dem Schicksal des Menschen, ewig zu leben. Beide setzen sie die Unsterblichkeit des Menschen voraus. Der zeitliche Tod kann das Schicksal des Menschen, ewig zu leben, nicht zerstören. Und was ist dieses ewige Leben? Es ist das Glück, das aus der Einheit mit Gott kommt.“ (Johannes Paul II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994, S.97-98. Kursivsetzung von JP II dortselbst.)
Der Begriff „ewige Verdammnis“ ist für den Nervenarzt von äußerster Relevanz, denn sein Patient spielt mit diesem Gedanken. Es ist dieser Gedanke der ewigen Verdammnis, der den Patienten geradezu in die Umnachtung, in die Depression, in den Wahnsinn fallen läßt. Wahnsinn heißt ja, nicht mehr an den sozialen Konsens gebunden zu sein. „Er wird ein Risiko für die Gesellschaft und sich selbst“, wie es im Amtsdeutsch heißt.
Was aber tun, wenn der Demiurg dem Wahn der Allmacht fröhnt? Züchtung des krebsbesiegenden Virus, welches, oh weh, mutiert und zur globalen Tollwut führt?
Was tun, wenn das US-Militär sich das afrikanische Ebola-Virus dienstbar macht?
Sind wir dort an der Schwelle der Verdammnis? Ewiger Verdammnis, wie es Karol Wojtyla formuliert?
Zwei Tage vor seinem Tod brach der polnische Papst auf dem Balkon seiner Privatwohnung im Sitzen zusammen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit, als er merkte, daß ihm die Stimme versagte. Aus Wut schlug er sich mit der Faust auf die Stirn. Aus Wut. So brach es aus ihm hervor. Kein Arzt konnte mehr helfen. Aber er wollte nicht sterben, nicht verfallen.
Was wir jetzt gesehen haben, war doch Tollwut. Ein Mordkomplott auf öffentlicher Szene an jenem 11.September, zensurierter millionenfacher Mord im Nachfeld. Die chinesische Tollwut im heiligen Tibet. Die Finanztollwut auf der Wall Street. Handstreichgesten eines sich allmächtig wähnenden Demiurgen. „Wo soll das alles enden?“ fragt sich der verschreckte Bürger. „Leben wir in einem Irrenhaus?“
„Leider ja“, sagt da mein Freund Dieter. „Leider ja.“
Triebschicksal ist Lebensschicksal
Kollegiale Verneigung vor Freud
Nach Mitternacht. Regenwolken ziehen auf. Die Feuchte senkt sich in die Gärten. Sogleich fangen die Frösche mit ihrem Konzert an. Grillen mischen sich ein. So geht es über Stunden, bis kurz vor Morgengrauen. Die Frösche bringen eine Nachricht. Lieber Freund, Du Nächtens Wachender, es kommt ein Regen, der nicht aufhören wird. Wir rufen ihn herbei. Kein Weltenbrand wird es sein, sondern wieder die Sintflut. Wir sind ihre Boten. Eure Situation ist unhaltbar. Deine vielleicht auch nicht. Der Regen wird kommen so wie das Morgengrauen. Jetzt ist noch Nacht, und manch einer wälzt sich unruhig in seinem Schlaflager. Er sieht Gespenster und kann ihnen nicht entfliehen. Ein grinsender Totenkopf schwebt auf ihn zu und flüstert ihm eine Botschaft zu: „Guter Freund, du sitzt in der Todeszelle! Es gibt kein Entkommen.“ Unser Freund rafft sich hoch, gibt der Frau neben sich einen Stupser. „Frau, da läßt mir einer keiner Ruh‘. Nimm mich doch bitte in den Arm, damit ich spüre, ich bin noch am Leben.“ „Ach, was ist denn in dich gefahren, Mann“, antwortet die schlaftrunkene Gattin. „Schlaf weiter! Du siehst schon Gespenster!“ Und Franz-Xaver ballt die Hand zur Faust und steckt sie in seinen Mund. Was bleibt ihm anderes übrig, er muß horchen. Die Frösche senden ohne Unterlaß.
„Wandersmann, hör uns zu. Du kannst dich nicht verstecken. Du bist geboren und mußt bald wieder gehen. Den Kopf in den Sand zu stecken, wird dir nicht helfen. Umso qualvoller wird dein Sterben sein. Unerledigte Aufgaben schreien zum Himmel. Wirf die Motoren an! Phönix muß losrollen! Du weißt, wo es stinkt. Es stinkt überall. Auch du lebst immer noch in einem Saustall! Du hast dein Theater überzogen. Besinn’ dich! Das Erwachen wird schmerzhaft sein, wenn alle Felle davonschwimmen. Und dem Wehklagen ringsum wirst Du dich nicht verschlieβen können. Laβ’ das Gerümpel!”
Das Gerümpel, das ist die Verrücktheit, die uns in den Eingeweiden sitzt. Das Feuer, das so heftig in jedem brennt, “der so mächtige Eros”, wie es Freud genannt hat, der “Gott des Lebens”, dem Gegenspieler Thanatos’, der Auflösung sucht. Unsere Verrücktheit mag uns zerreiβen, doch nicht jedem sieht man es sogleich an. Man muβ länger hinschauen. Manche von uns führen ein Doppelleben. Und manche von uns kompensieren es, mit Zigaretten und Alkohol. Die Glut der Inbrunst, die uns bereits in den Windeln ergreift, läβt uns bis ins hohe Alter nicht los. Ja gerade im Alter bricht der Eros durch und gräbt sich Bahn mit Wucht, wie eine Sturzflut, entgegen allen Hemmnissen, und sucht Befriedigung, und sei es die abseitige. So wie drauβen gerade ein Sturzbach vom Himmel herniederrauscht. Es ist Zeit zur Versunkenheit.
Warum dieses Ausmaβ an Sodomie in Wien, dieser gezeichneten Stadt im Herzen Europas? Dieser Überhang an Witwen, die mit ihren Schoβhunden im Ehebett liegen.
Warum diese Extremitäten in der Sexualität? Geradezu entgrenzte Lust- und Schmerzversuche. Menschen, Männer, die sich im Etablissement in Särge mit Sichtfenster legen, die Domina mit gespreizten Beinen über ihnen. Auspeitschungen der Lust. Männer, die zu Dackeln werden. Und auch ehrwürdige Frauen bekennen im Alter: “Der Sex ist eine Geiβel, die uns bis zum Tod aufpeitscht. Ich würde meinen Mann gern gegen zwei junge austauschen.” Andere bekennen: “Ich habe nie verstanden, was ein Orgasmus ist. Mit mir muβ etwas nicht stimmen. Sehen Sie doch bitte einmal nach, ob ich eine Klitoris habe.” Andere gehen in Swinger-Clubs. Sie genieβen es, vor den Augen des Ehepartners Sex mit einem/einer Fremden zu praktizieren. Oder sie gehen in eine Kommune wie jene des Otto Mühl, der in den 70er-Jahren die freie Liebe auf seinem Friedrichshof im Burgenland plakatierte, und der sich dabei an Minderjährigen vergriff. Im Gefängnis fing er zu malen an. Heute werden seine Werke in Vernissagen ausgestellt. Die Kommunarden von damals sind in alle Winde verstreut. Manche bewegen sich in der Finanzwelt, andere in Klöstern.
Im Sexkeller hat jeder von uns seine Leichen. Wer mag sich davon ausnehmen? Ja, nicht einmal die Fachleute. Paul Watzlawick, einer der Marksteine der Theorie der therapeutischen Kommunikation († 2006 im kalifornischen Palo Alto, seiner Wahlheimat), ein Villacher: Vier Mal zerbrochenes Eheglück. Paul Feyerabend, der erfrischend lesenswerte Anarchist unter den Wissenschaftstheoretikern (auch ein Wahlkalifornier, auch er leider seit 1998 verschieden) ähnlich. Doch kehren wir vor der eigenen Haustür. Mea culpa.
Glücklich preise sich der, der davon nichts versteht. Die einfachen im Geiste. Die, die sich ein kindliches Gemüt bis ins Erwachsenenalter bewahrt haben. “Sie haben ein kindliches Gemüt, Herr Radegund. Das paβt zu Ihnen als Erwachsenen nicht, erst recht nicht in der Position, die Sie bekleiden!” Dem so Angeredeten schieβen die Tränen in die Augen. “Wissen Sie, Herr X, ich habe die Bibel gelesen. Werdet wie die Kinder, denn ihrer ist das Himmelsreich. Lasset die Kinder zu mir kommen.” “Genieren Sie sich nicht, davon zu reden? Oh mein Gott, Sie sind ein hilfloser Träumer. Mit ihrem pietistischen Gesichtsausdruck möchte ich Ihnen am liebsten eine herunterschmieren.” Ja, liebe Leser, so geht es in der sogenannten Erwachsenenwelt zu. Bei Kindern finden Sie solche Dialoge nicht. Kinder bringen sich für gewöhnlich auch nicht gegenseitig um.
In uns steckt eine brodelnde Kreatur, deren Füsse in sprichwörtlicher Dunkelheit verwurzelt sind. Auf Schritt und Tritt könnten wir fehlen. Und dann einmal wird es uns zu viel, und wir schnappen über.
Was hat doch der Ahnvater der okzidentalen Psychologie, der Pionier einer neuen Sichtweise des Menschen, Sigmund Freud, dieser Wissenssuchende, an Gift und Galle gespuckt in den Auseiandersetzungen mit seinen Schülern, Jung ganz zuvorderst, und auch noch mit Reich und Adler, verbal, aber erst recht schriftlich. Und nicht nur mit den beiden. Wie ein enthemmter Hordenvater. So ganz hemmungslos, so ganz hemmungslos wie Ernest Bornemann, der Salzburger Psychoanalytiker, der einstmals akklamierte, selbstbewuβte Autor des “Patriarchats”, ein Macho, der sich aus maβlosem Zorn wohl kalkuliert umbrachte, als er erkennen muβte, daβ seine Geliebte mit einem anderen Mann, einem viel jüngeren, ins Bett gestiegen war. So ganz hemmungslos, wie sich Freud in seiner Abhängigkeit von “seinen Virginias” den Gaumenkrebs zuzog, an dem er 17 Jahre lang qualvoll leiden sollte – ein Titanenkampf reinsten Wassers -, aber am Ende dieses bitteren Weges, noch im selben Jahr seiner Ankunft in London, sollte er seinen Hausarzt Max Schur bitten, ihm die Giftspritze zu setzen. Gesuchte Euthanasie eines Getriebenen, ja, auch Freud war ein Getriebener. Mit 50 erklärte er seiner Gattin Martha Bernays, er werde mit ihr nicht mehr sexuell verkehren. Er benötige die Sexualkraft für seine Arbeit.
Das war Sigmund Freud, die Ikone des 20.Jahrhunderts. Der Begründer der Psychoanalyse, der so viele Theologen bis auf den heutigen Tag fasziniert. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, der Doyen der Christlichen Philosophie in Wien schlechthin, gehört wohl zu den intimsten Freud-Kennern. Aber selbst Wucherer-Huldenfeld spielt nicht alle Karten, sprich, alle Kommentare, die er zu Freud anzumelden hätte, aus. Denn vor uns wabbert etwas Dunkles, ein dunkles Meer der Bewußtheit, das sich dem Unbedarften wie ein weites Meer des Unbewussten ausnimmt, „wovon wir nichts wissen, nie etwas wissen werden oder das wir vergessen haben“, wie die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt es jüngst ausdrückte.
“Triebschicksal ist Lebensschicksal”. Fürwahr eine epochale Formulierung. Schwer fällt mir auf Anhieb eine Rede vergleichbarer Wucht auf Anhieb ein, lassen wir einmal die Tonnenladungen des Nazaräners, der zu unserer Muttermilch gehört, beiseite. Der einzige sonstige Epochensatz, den wir im Alltag kunstfertig handhaben, ist wohl E = MC², eine Formel mit kosmischem Gewicht, von einem wuschelköpfigen Titanen formuliert.
Doch der Satz des Arztes aus Wien 9., Berggasse 19, ist ein Vorschlaghammer, der auf jeden niederkracht, will man den Hammer nicht rechtzeitig selbst in die Hände hieven und auf den Amboβ des Lebens niedersausen lassen. Triebschicksal ist Lebensschicksal. In den ersten 3 Jahren formt sich unser Schicksal, und das Schicksal lebt sich aus auf dem Weg des Eros, des Sexes. Der Trieb brennt wie ein Atommeiler, und er verstrahlt alles. Die Kernfusion zündet mit jedem Atemzug, und sie setzt uns unter Dampf. Dieser Dampf treibt die Turbinen an und macht uns rastlos. Wir denken nur an das Eine. Mit Macht graben wir Entlastungsgerinne. Und je bewuβter wir diese Entlastungsgerinne graben, umso mildtätiger berührt uns diese Hetäre, diese Urmutter des Lebens, die uns allesamt an ihrem mächtigen Busen säugt. Wie bitter benötigen wir dieses Entlastungsgerinne, hoffentlich rechtzeitig. Ja rechtzeitig, wenn wir spüren, wie die Gefahr mit polternden Stiefeln zu uns herantrampelt. Ein funktionierendes, mit Bedacht und Akribie gegrabenes Entlastungsgerinne, das die Massen an Schlamm, das Hochwasser, umleitet, während wir in der Alten Donau unserem bornierten Pensionistendasein fröhnen und unsere dicken Bäuche der Sonne entgegenrecken. Doch irgendwann bricht die Phantasie im Bidet durch, und dann geht es gegen die Kinder, die sosehr liebreizenden. Gnade uns Gott!
“Triebschicksal ist Lebensschicksal” ist ein Menetekel, dem viele zu entfliehen versuchen. Sagen wir besser, wir sind alle auf der Flucht. Das ist gerechter. Und wenn wir nicht zu Surrogaten, zu OPIATEN wie der Religion greifen (Diktion Marx und Feuerbach), wenn wir nicht in den Krieg der Geschlechter hineingezerrt werden wollen, dann, so sehen wir es doch, schaffen wir die Welt des Cyber-Sex, und die Welt der Homosexualität. Und schluβendlich redet auch Mutter Erde mit und konfrontiert uns mit ihrem neuesten Entwurf, doppelgeschlechtlichen Wesen.
Sigmund Freud ist seit 72 Jahren tot. Von seiner Familie lebt niemand mehr. Vier seiner fünf Schwestern kamen in den Konzentrationslagern der Nazis um. Am Ende stand Thanatos, der, den wir alle suchen, so Freud, denn wir kommen aus dem Amorphen und streben zum Amorphen zurück.
“Der Sehende sieht die Wahrheit”, so der groβe Nagual Juan Matus aus Sonora, “und die Wahrheit ist, daβ die bewuβten Wesen in ihrer Vereinigung an Emanationen aus der Unendlichkeit diesen Kokon des Menschen beständig aufzubrechen versuchen, um die Freiheit der Zerstreuung zu erlangen, und nur der Glanz der Bewuβtheit imstande ist, diese Bewegung der bewuβten Emanationern zu besänftigen.”
Zu “besänftigen”.
Was für ein wohltuendes Wort in diesem Tollhaus der Gefühle. Gebannt blicken wir auf den Bildschirm. Die NSA zeigt uns Pakistan live. Hillary Clinton hält sich im „operations room“ die Hand vor den Mund. “Ich hatte in diesem Moment gegen einen heftigen Hustenanfall zu kämpfen.” Ja, Hillary Rodham-Clinton kennt das Tollhaus der Gefühle nur allzu gut. Als Karrierefrau weiβ sie um die Wichtigkeit des Entlastungsgerinnes. Und hinter vorgehaltener Hand weiβ sie, “auf meinem Weg muβ ich Thanatos den Vortritt lassen, solange, wie mich nicht ein Ehrenmann auf einem Bankett des Präsidenten wieder zum Tanz auf das Parkett bittet. Hört es denn nie auf?”
Mit der exponentiellen Vermehrung der Menschheit wohl nicht, Mrs.Clinton.
Grimmbart, der Grummelige
Meinem Freund Josef, dem unvergessenen, verdanke ich viel. 22 Jahre haben wir uns schon nicht mehr gesehen, doch das letzte Transatlantik-Telefonat vor 8 Jahren verlief vernünftig. Joe war mir von Anfang an sympathisch. Ein Nachdenker, voller Leidenschaft. Alles an ihm war schwarz, nur nicht sein unschuldiges Lächeln, das manchmal hervorbrach. Er hörte zuerst Nietzsche und dann die Griechen. Nach einem nächtlichen existentialischen Grenzgang verabschiedete er sich von der Philosopie. “Das ist zu trockenes Brot. Davon kann ich nicht leben. Diese Herren sind Selbstdarsteller. Der Nebenmensch existiert für sie nicht wirklich.“ Und so ging er in die Medizin, wo er das Studium im Franz Klammer-Tempo durchzog. Es war klar, dort war er zuhause. Heute ist er in der Stadt der offenen Gräber, wie er es bereits im ersten Monat nach seiner Ankunft aus Völkermarkt, Kärnten, formuliert hatte, geblieben. Er ist ein Wiener geworden. Ein professoraler Arzt, dem der Knopf in jeder Hinsicht aufgegangen ist und der ein Herz für alle Mühseligen und Beladenen zeigt. Ein hochgradiger Diplomat, der durch eine Charakterschule gegangen ist. „Es ist tatsächlich alles anders, wie Du richtig sagst, aber unser Problem ist zuerst mal der Patient im Rollstuhl. Und wir haben noch ein Problem, die Mißgunst. Die Luft ist ziemlich dicht.“ „Ja“, sagt Delia Rosenkranz, die ihn als Oberarzt kannte, „dein Freund Josef ist prinzipientreu. Er fährt mit der Straβenbahn, und seine Aktenmappe ist immer noch seine geliebte Studientasche. Und er geht mit dem Blick am Boden, geschwind wie ein Fuchs, und man hat Scheu, ihn anzusprechen. Aber wenn man es wagt, dann lächelt er einen an und nimmt die Einladung zum Kaffee der Nachtdienstschwestern an. Komisch, die meisten Ärzte, die ich kennengelernt habe, sind entweder hochnäsig oder verrückt, aber dein Freund Josef ist keines von beiden. Er ist nicht einmal gefährlich. Er braucht eine Frau.“ Heute ist Josef verheiratet. Spät ist er in den Hafen eingelaufen. „Eine Frau gibt Dir Vertrauen ins Leben“, sagte mir einmal in jungen Jahren der Firmpate. Wie wahr, wie nötig. Erst recht, wenn mein Vater vor meiner Geburt starb.
Harald Leupold-Löwenthal, Seelenarzt
Ich dachte nicht, daß er sterblich wäre. Sein Erscheinen, seine Präsenz war raumfüllend. Seine Vitalität. Seine Lebensfreude. Er rauchte genußvoll Zigaretten, auch in der Vorlesung, seiner Vorlesung, am Samstag-Vormittag, direkt in Berggasse 19, Wien 9., seinem Sigmund-Freud-Museum, das er eingerichtet hatte. Leupold Löwenthal war einer der Doyens der Psychoanalyse in Wien, und er war wohl an Ort und Stelle der Gralshüter. Es verstand sich von selbst, daß dieser Mann aufgesucht werden mußte, regelmäßig, und entgegen aller Widerstände. Und das, im ersten Jahr, auch gleich noch im Anschluß an Strotzkas Tiefenpsychologie-Vorlesung. Gut, Strotzka ging nur über zwei Semester, dann war das verdaut, doch Löwenthals Vorlesung war nicht prüfpflichtig, und er variierte seine Themen über die Jahre hinweg nach Lust und Laune, querbeet. Er war der geborene Erzähler, der niemals ermüdende. Er hatte als Konzept immer nur eine A4-Seite vorbereitet, handschriftlich. Er saß in der Bibliothek des Museums, dem geräumigsten Raum. Wir waren nie mehr als dreißig. Damals lernte ich auch eine meiner ersten Flammen kennen, eine attraktive Schwarzhaarige, allein, es blieb bei einem Aufflammen. Ich war ihr wohl zu existentialistisch. Sie hielt mit mir locker Schritt. Damit war sie in meinen Augen eine ernsthafte Kandidatin. Sie ist heute Therapeutin mit Praxis auf der Mariahilferstraße. Sie trägt das Licht in ihrem Familiennamen.
Gut, wir wollen nicht abschweifen, aber das liegt wohl bereits an Leupold-Löwenthals Einfluß aus dem Jenseits. Analytische Spontanassoziation. Das ist die Methode. Eine viel zu gering geschätzte Methode, wahrlich. Löwenthal war füllig, schwer und groß, und er war nobel. Maßanzüge, Maßschuhe, Monokel. Ja, Monokel. Er hantierte doch tatsächlich mit einem Monokel! Dazu seine sonore, sinnliche Stimme. Das genußvolle Rauchen. Das konnte er sich alles erlauben. Das Museum gehörte ihm, und damals gab es noch nicht die neue Inquisition der Antiraucherkampagne. Das Recht auf das Rauchen unterstrich er nochmals in seinem letzten Interview, 2006. Damals, in den frühen 80er-Jahren, war er der Lichtgeist, der Hoffnungsschimmer. Er, neben Strotzka und Ringel und einem oder zwei Dutzend weiterer Analytiker. Wien, Geburtsstätte und Hochburg der Psychoanalyse, wie es von Rechts wegen hätte sein müssen. Doch dem war nicht so, die Psychoanalyse war im Psychologiestudium diskredidiert, ja beinahe denunziert. Und manche der dortigen Elfenbeinturmbewohner machten sich sogar einen Spaß daraus, unverzeihlicherweise. Noch heute schmähe ich zornig und traurig diese Leute, die ihrem eigenen Seelenleben gegenüber blind blieben, ja es glattweg leugneten. Das war die Sünde des Positivismus und des Behaviorismus in Wien. Es gab in Wien lange Zeit eine Strömung der Rattenpsychologie nach Skinnerschem Vorbild. Sie manipulierten die Studenten, stießen sie skrupellos vor den Kopf. Die Enttäuschung war bei vielen riesengroß. Die faschistische Lüge war es, was propagiert wurde. Die Masse. Die Statistik. Das Individuum kann übergangen werden. Ich will hier und heute keine Namen nennen. Wer weiß, wer von ihnen noch am Leben ist. Es war einfach traurig, ja geradezu niederschmetternd. Ein Verbrechen am empfindsamen Menschenwesen. Beinahe wie Mengele in Auschwitz. Der Auslese verpflichtet. Beinahe.
Löwenthal schien das alles nicht zu berühren. Alleine dafür küßte ich ihm bereits die Hand. Der Mann ließ sich von den ignoranten Polemikern nicht behelligen. Er hatte sein Credo. Er hatte sein Wissen. Er war ein Bauer in schwierigem Terrain. Ein Reisbauer im gefluteten Land. Im Terrassenland. Er war Praktiker. Er wußte, wie es ist, wenn ein Patient vor ihm weint. Er hatte Mitgefühl. Das fehlte den anderen. Die arbeiteten mit Elektroden und Ratten.
Er kam also herein, mit seiner Lebensgefährtin. Ich glaube, es war seine Lebensgefährtin. Oder war es gar seine Gattin? Eine imposante Dame. Sie war immer an seiner Seite. Sie war die Sekretärin des Museums. Ihren Namen habe ich nie ausfindig gemacht, wohl aus Nachlässigkeit oder doch Diskretion. Ich dachte, was geht das mich an? Ich kann den beiden nur gratulieren zu diesem sichtbaren wechselseitigen Einverständnis, diesem Vertrauen. Es gab in mir eine gewisse Scheu vor ihm. Das wohl deshalb, weil er Jude war. Strotzka war alles andere als ein Jude. Doch Löwenthal strahlte etwas durch und durch Nobles aus, nichts Überhobenes. Außerdem trug er diese hellbraunen Maßanzüge, meine Lieblingsfarbe, niemals Grau oder gar Schwarz, und schon gar nicht Weiß, so wie die Herren an der Klinik. Dazu trank er Kaffee oder Tee. Englischen Tee mit Milch. Der stand auf einem Nebentisch, eine silberne Karaffe, penibel vorbereitet. Die Dame schenkte ihm ein. Er schlürfte mit Genuß. Er zelebrierte die Vorlesung. Es war außerdem klar, dieser Mann biedert sich dem akademischen Betrieb nicht an. Hier saß der veritable Freud-Nachfolger vor uns. Ein solcher, noch dazu Jude, hat es nicht nötig, sich anzubiedern. Er ging sein eigenes Tempo. Ein einzelgängerischer Elefant. Ein Bulle. Ein Geschichtswesen. Ein Wahrheitssucher. Keine Alibiexistenz. Ich weiß nicht einmal, mit welcher Arbeit er sich habilitierte, aber ich bin mir sicher, er schüttelte sie aus dem Handgelenk. Ich weiß nicht einmal, wer sie ihm abgenommen hat. Ob Berner oder Arnold oder Ringel oder Strotzka. Ich glaube, es war eine Formalsache von einem Jahr, wenn überhaupt. Das alles war komplett belanglos. Er erzählte aus dem Leben, und vor allem aus Freuds Leben. Worauf es ihm ankam, war etwas ganz Anderes. Es ging ihm um das kriegsverursachende Wirken des menschlichen Unbewußten. Aus seinen Worten wurde klar, daß die menschliche Gesellschaft für ihn krank war. Er war zu Wilhelm Reich durchaus aufgeschlossen, auch wenn er selbst den Prototyp des bürgerlichen Bonvivants verkörperte. Aber er traf sich mit Reich in einem Thema, das er mit unverhohlenen Anekdoten untermalte, dem weiblichen Orgasmus. Hier langte er in seine psychiatrische Schatzkiste, und die war randvoll gefüllt. Nicht mit Golddukaten natürlich. Wie denn? Mit Dramen! Ja, mit Dramen. Und Löwenthal erging sich in Erinnerungen aus der Besatzungszeit, die russische Zone. Löwenthal überlebte die Nazis, als Jude, in Wien. Gott JHWH hielt seine schützende Hand über ihn, und er überlebte, couragiert. Er hat das Thema nie angeschnitten, nur ein Mal, am Rand. Löwenthal war Doppelagent. Courage. Daraus wird ersichtlich, daß niemand auch nur ansatzweise ihm ans Bein pinkeln wollte. Wucherer-Huldenfeld hätte ihm assistiert, wohl gar beim Duell.
Er saß vor seinem kleinen Tisch. Das Auditorium waren nicht nur Studenten, nein, da waren auch Touristen, Engländer und Italiener. Ich hätte Löwenthal die Hände geküßt noch wegen einer anderen Sache: Er zitierte Basaglia, Laing und, man höre und staune, sogar Pier Paolo Pasolini; dessen Medea-Verfilmung. Das war ihm ein gefundenes Fressen: die Griechen; die griechischen Dramen. Noch ein Schulterschluß mit dem Philosophen Wucherer-Huldenfeld. Die beiden kannten einander [Kiste Budweiser als Einsatz], doch sie erwähnten einander nie. Und noch ein Schulterschluß: beide kannten Raoul Schindler, den Pränatalpsychologen. Den Arzt als Kinderfreund.
Ich liebte seine Herbstvorlesungen. Dieses die Berggasse Hinunterwandern danach um 12. Das Hinüberfahren zum touristenüberlaufenen Naschmarkt mit der U4.
Er hatte diese satte, sonore Stimme. Er blickte von seinen Gedanken hoch, mit seinem Monokel, nahm es aus dem Auge, und blickte herum, niemanden speziell. Er tauchte wie ein Walfisch aus dem Meer hoch, um Atem zu holen, dann ging er wieder auf Tauchfahrt. Er stockte nie. Er hatte nie einen Aussetzer. Seine Assoziationen waren flüssig, niemals überhastet. Alles war klar, verständlich. Er war kein Narziß. Nein, das wäre ein gravierender Trugschluß gewesen, diesen kultivierten, imposanten Mann als Narziß zu bezeichnen, der sich in der Vorlesung selbst beweihräuchert. Der es nötig hat, sich in einer Vorlesung zu beweihräuchern. Dazu gab es andere, sowohl bei den Philosophen wie bei den Theologen, und diese hatten wenig Freunde. Leider.
Leupold-Löwenthal ging es um etwas Anderes: Tradition. Geschichte. Lebendige Pschoanalyse. Die Authentizität der Lehre, ihre Aktualität. Ihre nie abreißende Aktualität, entgegen jeder wissenschaftlichen oder politischen Anfeindung. Damals tat es mir wirklich weh, zu sehen, wie die Psychoanalyse angefeindet wurde. Von den psychologischen Instituten mit ihrer Rattenforschung selbst. Ein Judenpogrom! Nichts Anderes. Heute, außerhalb der Kampfzone, 13.000 Kilometer entfernt, bei Kannibalen lebend, weiß ich, der Tod hat das letzte Wort und nicht die larmoyanten Beinpinkler.
Vor ein paar Wochen sah ich einen Videoclip mit Leupold Löwenthal aus 2006. Riesige, vom Tod gezeichnete Augen hinter großen Gläsern. Kaum mehr wiedererkennbar. Ausgezehrt. Ich traue kaum meinen Augen. Augenblicklich ein innerlicher Ausruf: „Großer Gott!“ Er zündet sich genußvoll eine Zigarette an. „Was denkt er sich in diesem Augenblick?“ Und in der Tat, er spricht über die neue Inquisition, die Antiraucherkampagne. Das war es ihm offensichtlich wert, darüber zu sprechen, ein Jahr vor seinem Tod. Riesengroße, stumme Augen. Ein Sehender im Angesicht des Todes.
Er war ein guter Freund Gerhard Bronners. Jugendfreunde ein Leben lang, aus Wien-Meidling. Bronner starb vor Löwenthal. Löwenthal erinnerte sich seiner. Und am 13.März 2007, also bereits vor 7 Jahren, während derer ich nur flüchtig an ihn dachte, segnete dieser Unvergessene 81-jährig selbst das Zeitliche. Amen. Herzstillstand, vermeldete die Wiener Psychoanalytikervereinigung lapidar. Mehr war nicht zu sagen, nicht in diesen noblen Kreisen.
Einer, zu dem ich hochschaue. Oder hinüberschaue. Damals, heute und in Zukunft. Ein Lehrer, ein Vorbild. Haben Sie Dank, Harald Leupold-Löwenthal, Sie Seelenheiler. Sie Seelenheiler.