Der Karfreitag des Stefan Apachou
Stefan war 24, als er im März 2000 in Begleitung seiner Eltern nach Yushintaita kam, auf der Suche nach einem Wunder. Er kam mit einem Bescheid der Ärzte: Lebenszeit vielleicht noch zwei Monate. Vielleicht waren es seine Eltern, die auf der Suche nach einem Wunder waren. Er war bereits zwei Mal am Schädel operiert. Der zweite Eingriff am Gehirn hatte sein Sprechvermögen etwas in Mitleidenschaft gezogen und die Beweglichkeit seines linken Armes. Er kam mit einem Handkoffer an Pillen, die er täglich, ca. 20, auf Rat der Ärzte schlucken sollte. Zur Halbzeit seines Aufenthaltes setzte er sie ab. Stefan sprach langsam, bedächtig, beinahe lieblich. Ja, seine Stimme war lieblich und warm. Die Worte bedeuteten ihm etwas. Er war gehfähig. Er aß mit uns und badete sich sorgsam. Er war zu jener Zeit der einzige Besucher in Agustins Camp, neben der verzweifelten Irmgard Münzer, die, welch Wunder, aus derselben Kärntner Kleinstadt kam, aber von seinem Kommen nichts gewußt hatte. Die Zeremonien waren exklusiv.
Einmal, am Bach, war der geeignete Moment gekommen. Er ließ die Worte herausmurmeln. „Weißt du, ich habe keine Angst vor dem Sterben. Vor jeder Operation klärten sie mich auf, Herr Apachou, es kann passieren, daß Sie nicht aufwachen aus der Narkose. Es tut mir auch nicht weh. Der schlappe Arm ist lästig, und der Speichel, der mir manchmal aus dem Mundwinkel rinnt. Nein, ich habe keine Angst. Mir tut meine Freundin leid. Das mitzuerleben hat sie nicht verdient. Klar, ich frage mich, wieso ausgerechnet das, so aus dem heiteren Himmel? So etwas in jungen Jahren? Das macht mich nachdenklich. Das Leben schaut seit den zwei Operationen anders aus. Ich bin für alle ein Alien, nur nicht für die Eltern. Die verzweifeln. Klar, wer könnte es ihnen verdenken? Bei mir ist alles außer Kraft gesetzt. Ich gehöre nicht mehr in die Normalität. Sollte ich sterben, erlebe ich frühzeitig einen Perspektivenwechsel. Auf die Antworten bin ich neugierig.“
Stefan blieb nur 10 Tage. Agustin führte für ihn drei Zeremonien durch, alle mit den großen, sonst unter Verschluß gehaltenen Operationsstäben. Dann entließ er ihn. „Du bist geheilt, aber Vorsicht! Kein Alkohol, gutes Essen, nur ganz wenig rauchen, keinen Sex! Leider! Das würde dich überanstrengen. Vorsicht, deine Gesundheit ist zerbrechlich. Besser, die erste Zeit wie ein Mönch leben, solange, bis es dir besser geht. Auf jeden Fall kannst du die zwei Monate vergessen. Wir fangen mit einem neuen Leben an.“
So fuhr er nach Hause.
Im Mai sah ich ihn wieder, in St.Nikolai. Er ging immer noch ohne Hilfe. Die Leute , man sah es ihnen an, waren sprachlos. Doch in einem Moment, oh welch ein Graus, zündete er sich eine rote Marlboro an. Oh weh, oh weh, Stefan. Ein paar Monate später fuhr ich wieder hinunter nach Kärnten. Er war ausgezogen von den Eltern, lebte in der Wohnung seiner Freundin, die gerade in der Arbeit war. Er kochte für mich auf. Es bleibt mir denkwürdig, geradezu heilig: Gefüllte Paprika mit Tomatensoße, gedünstete Kartoffel und grünen Salat. „Wie geht’s Dir, Stefan?“ „Kann nicht klagen, Wolfgang. Das Essen schmeckt mir, und das Wohnen hier war überfällig. Ich wünschte nur, ich könnte wieder arbeiten und mich so an den Kosten beteiligen. Jetzt zahlen mir die Eltern etwas zu.“
Nach einem Jahr fuhren wir wieder auf Besuch, die Pilgerreise nach Wolfsberg, Delia Rosenkranz war dabei. Er hatte auf seinem Telefon nicht geantwortet. Der Vater hatte geantwortet. „Stefan ist wieder bei uns, in Pflege. Es geht ihm gar nicht gut.“ Zum ersten Mal betrat ich die Wohnung seiner Eltern, die in einem bunkerähnlichen Großbau der Bundesbahnen direkt neben dem Wolfsberger Bahnhof wohnten. Ein eindrucksvoller, stiller Hallenbau. Das Stiegenhaus geradezu pompös. Drinnen Stefan im Fauteuil. Er lallt, und ich lüge, so wie man gemeinhin lügt, um Hoffnung zuzusprechen. Und er raucht seine Marlboro, zum Abschied. 14 Tage später stellten sie uns die Todesparte zu, und wir fuhren zum Begräbnis. Das Requiem wurde in einer Kapelle gehalten. Der Pfarrer, dem, wie jedem seiner Kollegen in solchen Momenten, die Worte fehlten, trug noch dazu doppelte Bürde. Er selbst, so flüsterte es mir Stefans Mutter zu, litt an Blasenkrebs.
Es war nicht das letzte Mal, daß wir den Ort aufsuchten, jenen Friedhof, in welchem Irmgard Münzer und Stefan Apachou, zwei gezeichnete Kämpfer und heroische Dschungelbesucher, Ayahuasceros, nur 20 Meter von einander in geweihter Erde liegen.
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Schachpläne und göttlicher Heilsplan
Ingmar Bergman läßt Max von Sydow im „Siebten Siegel“ als heimgekehrter Kreuzritter mit dem Tod eine Schachpartie spielen. Wir beginnen heute auch eine Partie, doch diesmal nicht mit dem Tod – der ja nach dem Dafürhalten so manch eines Weisen nichts anderes ist als das Böse -, sondern mit Gott, dem Allmächtigen. Wohlgemerkt, nicht mit Christus. Wir spielen gegen Gott Vater. Auf unserer Seite Gott Heiliger Geist. Das ist eine durch und durch magische Schachpartie. Sie beginnt heute, der Einsatz ist das Leben. Ich glaube, das ist rechtens und gut. Machen wir ernst.
Wir befinden uns in guter Gesellschaft. Papst Franziskus wurde, wie der italienische Geheimdienst gestern vermeldete, der Meucheltod angedroht von diesen Übeltätern des teuflischen Jihad. Irgend ein italienischer Jugendlicher wird aus dem Irak zurückkehren wollen mit Sprengstoff im Gepäck, um sich und den Papst direkt am Petersplatz in die Luft zu sprengen. Franziskus überraschte vor ein paar Tagen die Öffentlichkeit mit der Meldung, er könne sehr wohl in zwei Jahren tot sein. Bei Gott wisse man nie, wann er einen abberufen werde. Siehe Albino Luciani. Franziskus hat wohl keine Angst vor dem Sterben, so wie sein Vorvorgänger, der Heilige aus Polen, der direkt in die Mündung einer türkischen Pistole blickte.
Ja, selbst das Spielen einer Schachpartie feit einen nicht davor, daß einem Gevatter Tod die Hand auf die Schulter legt und sagt: „Kumpel, es ist Zeit.“ Siehe Kurt Meier, Schacholympiade Tromsø. Deshalb ist es von Vorteil, mit dem Herrn, dem HERRN, direkt eine Partie zu spielen. Gott foult uns nicht. Mir wurde aber berichtet von einer Dame, die mitten im Gebet starb, unmittelbar, nachdem sie die letzte Ölung erhalten, gebeichtet und die Absolution erteilt bekommen hatte. Unmittelbar. Sie saß im Bett und sank tot vornüber. Die Dame war eine betagte Nonne. Der Geistliche war Umberto di Castello, mein unvergessener Freund. Hubert fragte sie: „Schwester, ist dieses Sakrament, das uns der Herr für das Fortgehen gegeben hat, nicht schön?“ „Ja, Pater“, antwortete die Schwester. „Ich fühle mich ganz leicht und befreit.“ Und sie sank tot vornüber, im Bett. Amen.
Wir wissen nie, wann uns Gott zu sich zieht. Für die einen ist es der pure Horror. Für die anderen ist es ein besonderer Moment. Sie sehnen sich danach, die Wahrheit zu sehen und sie mit dem Herzen zu verstehen. Mit einem Herzen, das zu schlagen aufgehört hat. Sagen wir also, sie sehnen sich danach, die Wahrheit mit dem Auge der unsterblichen Seele zu sehen. Sie sagen: „Wer auch immer mir dann gegenübertreten wird, ich habe ein paar Fragen an ihn.“ So sprach ein anderer Freund, ein ernsthafter, bei dem das Steckenpferd der Religion löblicherweise auch nicht zu kurz kommt. Wieder andere sagen sich, der Tod interessiert mich absolut nicht, denn dann ist sowieso alles aus, und ich habe garantiert keine Sorgen mehr. Jene, die so oder ähnlich denken, sehen die Denkzentrale im Gehirn als eine Computerfestplatte. Die Festplatte wird halt desintegriert und Schluß. Was soll’s? Dann gibt es jene, die sagen, ich sehne mich, ins Haus des Vaters zurückzukehren. Sie gebrauchen unter anderem das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Sie sind sich sicher, ihnen ist eine Wohnung im himmlischen Jerusalem bereitet. Sie werden direkt beim Herrn wohnen. Diese Menschen sterben treu und fest im Glauben, ohne Marter, ohne Qual. Die Anwesenden, obgleich keine Familienmitglieder, weinen, ohne Ausnahme. Ja, so sterben Heilige. Die Umstehenden weinen. Manche Heilige wiederum sterben in Folterkammern. Sie bekennen ihren Glauben und sterben dafür. Gar nicht so wenige sind heutzutage bereit, für ihren Glauben zu sterben. Spektakulär zu sterben. Oft ziehen sie andere, Unschuldige, mit in den Tod. Auch die Folterer sterben, ausnahmslos, sündenbeladen. Wie soll man es anders nennen? Wir spüren es ja selbst, jede Nacht. Ayahuasca ist wie eine Ausrichtung, und eine Hinrichtung ist nichts anderes als eine Ausrichtung. Die Ausrichtung zum Absoluten. Das ist wie das Umkreisen des Schwarzen Loches, die unwiderstehliche Singularität, wie es die Astrophysiker treffenderweise bezeichnen. Sogar das Licht verschluckt diese Singularität. Wir stürzen in den Ereignishorizont. Das Absolute verschluckt uns.
Die Frage, die sich dem frechen Polemiker nun stellt: Ist Gott ein Schwarzes Loch? Das ist natürlich Unsinn. Er ist das Absolute. Die Nichtung von allem, so wie er auch die Schöpfung von allem ist. Die Absicht von allem, was existiert. Die Absicht von allem, was geschieht. Eine Schachpartie ist somit eine willkommene Demonstration der göttlichen Absicht, und wie der Mensch in diesen göttlichen Heilsplan einverwoben ist. Wir lernen. Jeder lernt. Deshalb sagte ein anderer meiner Freunde jenseits der 80, er auch ein Weiser: „Alles ist ein Spiel.“ Stumm fügte er etwas hinzu, mit seinem Blick: „Ein Spiel der Verblendung.“ Er muß es wissen, denn er stellte, so berichtet er selbst, bei den Kannibalen, bei denen er unfreiwillig ein Jahr verbringen mußte, ein Kreuz auf und fragte sie: „Was fühlt ihr beim Anblick dieses Dings?“ „Nichts!“, war die Antwort.
Max von Sydow kehrt als Kreuzritter vom Morgenland zurück in sein Nordland, während die Pest Mitteleuropa entvölkert. Warum sollte sich so etwas nicht heute wiederholen? Die Pest hat nur einen anderen Namen. Und Ebola ist nicht etwas, das der Mensch erfunden hat. Die US-Militärs haben sich natürlich vor Jahren, als die Plage zum ersten Mal auftauchte, flugs das Virus geschnappt und ein Antiserum in ihren militärischen Labors entwickelt. Dort haben sie es seit Jahren studiert, unter Hochsicherheitsbedingungen, von denen sich Otto Normalverbraucher keine Vorstellung macht. So konnten sie den zurückgeflogenen Arzt in Atlanta behandeln, mit Erfolg. Ein ungetestetes Serum, freigegeben von der obersten US-Gesundheitsbehörde. Vielleicht hatten sie Testungen an Affen durchgeführt. Das mußte in der Eile genügen. Ja, der Kontinent der Mikroben ist unsichtbar und schreckenerregend. Eine Welt, unserer optischen Wahrnehmung entzogen. Erst wenn die Katastrophen ausbrechen, beginnen wir hysterisch herumzukreischen. „So tut doch etwas!“ Doch welchen Sinn ergibt das Ganze, fragen wir uns. Und wir fragen uns ständig aufs Neue.
Wucherer-Huldenfeld, mein Lehrer, hatte von Kardinal König den Auftrag, sich im Besonderen mit dem Atheismus zu beschäftigen. König war viel im kommunistischen Osten unterwegs. Er wäre in der Vojvodina sogar beinahe gestorben, bei einem herbstlichen Autounfall. Er lag in seinem Krankenzimmer im Morphiumrausch und sah vor sich an der Wand ein Bild Titos, und daneben das Kreuz. „Das kann nur ein Witz sein oder eine Halluzination“, dachte sich da der Verunfallte, doch als die Krankenschwester, die hereingekommen war, ihm, als er mit schwacher Hand auf die Wand deutete, antwortete: „Das haben wir wegen Ihnen hingehängt. Sie sind doch der Erzbischof von Wien (König verstand zur Not serbokroatisch), oder etwa nicht?“, da hörte König eine Stimme, wie er selbst in seiner anekdotischen Autobiographie bekennt, die Stimme der Muttergottes, wie er meinte, die Stimme, die sagte: „Der Vater liebt alle Menschen.“ Da überrieselte König ein Schauder und er schwor sich, weiter im Reich des glorreichen Kommunismus auf Fischfang zu gehen. Und deshalb schrieb Wucherer-Huldenfeld an mehreren Stellen: „Von Atheisten und Menschen fern der Kirche, oder einfach nur von Menschen draußen vor der Kirche, kann man viel lernen, bisweilen mehr als von denen drinnen.“ So redet leider nur ein Mensch des weiten Horizonts. Die anderen ergehen sich in fürchterlicher Kleinkrämerei und fungieren darob, ohne daß sie es merken, als die Totengräber der Kirche. Der arme Schönborn sieht sich zu einem Rückzugsgefecht gezwungen: „Wir müssen einsehen, daß die Kirche in unserer modernen Gesellschaft auch nur ein Player unter vielen anderen ist.“ Ich dachte, ich höre nicht recht.
Was der göttliche Heilsplan ist, kann niemand sagen. Die Herren in Weiß, wie Benedikt, schreiben, ER, der Eine, wolle uns alle an sich ziehen, als Geschöpfe in Freiheit, doch die Menschen draußen, die, die sich die Ohren zuhalten mit einem Ausruf: „Ich kann das alles nicht mehr hören! Laßt mich in Ruhe! Schleicht euch!“, sie bekennen dann bei Kaffee und Mapacho: „Lieber Herr Pospischil, seien Sie einmal ehrlich: Sagen Sie mir: „Was soll das alles?“
Der Mensch denkt, Gott lenkt. So ist das im Leben, allerliebste Leserin, hochverehrter Leser: Gestern schrieb ich diesen Artikel, etwas verändert. Es dauerte zwei Stunden. Dann kam ein Blitz, Stromausfall, und alles war weg. So ist der Liebe Gott. Deshalb: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste in diesen spannungsgeladenen Zeiten. Alles sofort speichern. Bis zum nächsten Mal!
Der Hansl
„Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich“.
Ich habe die Armen immer gemocht, mehr als alle anderen. Die Armen im Geiste wie die materiell Armen. In deren Anwesenheit verschwand sprichwörtlich jeder Argwohn, und das immer. ohne Anstrengung, und dafür war ich diesen Armen immer und augenblicklich dankbar, und es dauerte dann auch nie lange, dass ich so fühlte wie sie, ein hoffnungslos Armer, eine einfache Existenz, die am Tag nach ihrem Begräbnis (oder gar nur ihres spurlosen Verschwindens) von allen und jedem vergessen sein wird, vergessen sogar von den treuen gläubigen Frauen die sich wegen irgend einer Kleinigkeit am Charakter und Verhalten dieser armen Kreatur verunsichert und ein wenig sogar verstört fühlen, ja verstört, denn sie erinnern sich eines weißen Bisons, eines seltsamen Tieres, einer seltsamen Fledermaus, die immer im Gesicht zuckte und die zu entfliehen versuchte, kaum näherte man sich ihr um einen Schritt zu nahe, kaum verfolge man ihn, den armen „Lotsch“ der gerade zur Hintertür hnausgestoben war, sosehr genierte er sich wegen seiner ganzen Existenz. Ja, so fühlen sich sogar die heiligen Frauen, jene, die in der Kirche in ihrer Zeit der Rüstigkeit georgelt und geträllert hatten, schuldig, diesen armen Kerl vergessen zu haben, oder, wie es ihnen besser annehmbar scheint, ihn halt nicht in seinem Gemüt, das doch nur und zeitlebens ein verschrecktes war, verstanden zu haben.
Sie gehören zu meiner Blutslinie. Beide Cousins. Ich will und muß ihnen heute ein Denkmal setzen, ein Denkmal für das Buch des Lebens im Himmel, denn es tut mir so weh das, was sie durchleiden mußten. Ich litt mit ihnen und mußte es immer wieder aufs neue verleugnen. Der Hansl war das zweite Kind meiner jüngsten Tante väterlicherseits. Die Tante war lebenslustig, doch, so wurde ihr attestiert, etwas beschränkt. Das sehe ich heute schon nicht mehr so. Sie war nur das letzte Kind leidgeprüfter Eltern, und sie wollte halt um jeden Preis, auch um den des ruinierten Rufes der Leichtlebigkeit, aus dem sorgengetränkten Elternhaus entfliehen. Sie hieß wie ihre melancholische Mutter Leopoldine. Die Poldl war also leichtlebig und handelte sich schnell zwei Kinder ein, die Väter unbekannt, auf jeden Fall Hallodris, die keinen Groschen Unterhalt zahlen wollten. Der Hansl, das zweite Kind, kannte seinen Vater nie und wuchs ohne Vater auf. Er wuchs bei den Großeltern auf, notabene bei seiner Tante, der ältesten Schwester seiner Mutter, die auch am Hof wohnte und immer dort bleiben sollte. Die Rosl war eine eiserne Jungfrau bis zu ihrem Lebensende im Jahr 2015. Da starb sie 82-jährig in Einsamkeit. Die Rosl, die den Führerschein erst beim sechsten Anlauf schaffte und einmal der Landesnervenklinik, wo man sie mit Elektroschocks behandelt hatte, mit einem Schock fürs Leben entfliehen mußte, die Rosl war also des Hansl einzige Stütze. Der Hansl war Hilfsarbeiter. Er hatte immer nasse Augen, die weit auseinander standen. Das gab ihm den Anblick eines schnaubenden Bisons. Der Hansl sprach immer leise, immer leise, immer grinsend, immer todtraurig. Er sprach verstohlen. Er hing jeden Tag über dem Abgrund. Er soff nicht. Er war arbeitsfähig. Er bekam einen Posten in der Chemiefabrik. Dort werkelte er dahin, im Schichtdienst. Schlußendlich leistete er sich sogar ein eigenes Auto, mit dem er die Tante, seine Ziehmutter, zu den Arztbesuchen ausfuhr. Der Hansl spielte den Halbstarken. Dabei war er nur übersensibel. Er klärte seine Umgebung in jedem Moment auf persönliche Gefährdung. Er hatte sogar eine Frau. Doch nur wenige Monate später ließ diese sich von ihm wieder scheiden. Er lebte mit seiner Tante auf dem verwaisten Hof seiner Großeltern. Er machte keinerlei Anstalten, auf dem Hof irgend etwas herzurichten. Er wohnte in seinem Zimmer. Die Rosl kochte für ihn wie eine Ehefrau und ließ ihn ansonsten schlafen. Der Hansl hatte mit dem Leben abgeschlossen. Er war nicht verschuldet.
Ich hatte ein einziges Mal eine Erscheinung mit ihm. Das war zu einer Unzeit an einem Vormittag, als er auf die Tante wartete, bis sie aus der Ordination käme. Er wartete hinten bei der Garage, verstohlen und unsichtbar. Die Mutter brachte alles ins Rollen, weil sie mich auf sein Hiersein hinwies. Ich solle ihn, den ich doch schon seit langem nicht mehr gesehen hätte, draußen grüßen. Er würde sich sicher freuen. Das tat ich, auch wenn es mir, ich gesteh´s, peinlich war. Aber dann gab ich mir einen Ruck. Ich wußte schon immer, der Hansl konnte in jedem Moment Amok laufen, wie ein wilder Stier. (Dabei war er körperlich unauffällig.) Ich ging also nach hinten. Der Hansl stiert mich mit seinen Röntgenaugen an. Wie immer tränt er und grinst dennoch. Sein Reden abgehackt, fast ein Flüstern. Ein Blinder spürt, er ist die personifizierte Weltkatastrophe. Das Leiden des Menschen, der an der Ungerechtigkeit der Welt verreckt. Einer, der jeden Moment am Irrsinn vorbeischrammt. Ich begrüße ihn in gespielt jovialer Manier. Das tat ich immer, wohl spürend, daß er genau wußte, daß meine Art verlogen war. Denn er wußte, daß mir sein Schicksal nahe ging und mich geradezu bestürzt machte. Er kannte mich. Er wußte, daß ich wußte, daß er mich kannte. Er wußte auch um meine Verunsicherung und daß ich sie überspielte. Er war der Räuber im Busch, dem man von der Hochzeitsgesellschaft ein Stück Braten bringt, ihm, dem Armen, der zur Familie gehört, doch von allen gemieden wird wegen seines lebenslangen Zorns. Lebenslanger Zorn, ein Kunststück. Lebenslange Wut, das ja. Doch Zorn so lange aufrecht halten, wie schafft das einer? Wohl weil er gegen ein lebenslanges Phantasma kämpfte, einen Vater, der sich geschlichen hatte wie ein Staudenhund. Ich spreche den Hansl an, und ein Gespräch entwickelt sich. Und wie mich der Teufel reitet, will ich es wenigstens ein einziges Mal wissen, ein einziges Mal im Angesicht dieses Bisons. Ich frage ihn direkt heraus:“Wie denkst du über deinen Vater, Hansl?“ Und das Gesicht zerfällt ihm am Schlag, ein Weinkrampf zerstört sein Gesicht und er reißt sich mit Titanenkrampf zusammen und gibt mir eine Antwort. Der Hansl Himmelbauer, mein Cousin, berührt aus einer Entfernung von drei Metern direkt mein Herz: „Das weißt du doch selbst, Wolf.“ Und mir traten Tränen in die Augen. Und der Hansl hat die Fassung wieder gewonnen und flüstert seinen abgehackten Singsang. Immerhin finde ich die Fassung und lasse ebenfalls die Maske fallen: „Entschuldige, Hansl.“ So simpel. Dann lud ich ihn nach drinnen. Dort wurde er begrüßt und bekam eine Limonade.
Am heißesten ersten Sommertag im Juni 15 starb also die Rosl im Spital. Nur wenige Wochen später erleidet der Hansl, nunmehr Eremit am Großelternhof, dieser halbzerfallenen Keusche, zuhause einen schweren Gehirnschlag, der ihn beinahe dahinrafft. Die Poldl, seine Mutter, bricht beim Erhalt der Nachricht sogleich zusammen, Gehirnneurasma. Sie schafft es, wieder auf die Beine zu kommen und zieht zu ihrem Sohn, um ihn zu pflegen. Der zieht in die Rehabilitation. Ob er je wieder auf die Beine kommen wird, weiß nur Gott. Ich werde berichten. Amen.
Der Haager Sepp
Friedliebigkeit, eine seltene Zier
Der Seppl war älter als der Hansl, aber das sah man ihm ganz und gar nicht an. Der Seppl war verschreckt, schon von Kindesbeinen an. Seine Mutter konsultierte ihren Bruder, den Arzt. Der attestierte dem Kind eine nervöse, unheilbare Störung. Später äußerte er sich einmal mir gegenüber spontan über diesen seinen Neffen, der ihm am großen Herzen lag. Doch das, wie hätte es anders sein können, ließ er sich nicht anmerken. Er meinte, der Vater, Sepp ebenfalls mit Namen, war in seiner großfüßigen Tollpatschigkeit im ersten Ehejahr in eine auswärtige Falle getappt, grade als die Mitz, seine Gattin, mit dem Seppl schwanger ging. Die Mitz habe ihm das nie verziehen und die wüstesten und giftigsten Vorwürfe gemacht, wo und wann auch immer. Der arme Elektriker, an dem alles übergroß war – Statur, Lachen, Appetit und Charakter -, konnte sich einfach nicht der Attacken seiner Frau erwehren, und das war der Grund, so der erfahrene Arzt, warum der Seppi mit dieser Störung geboren wurde. Einem ständigen Zucken, daß es ihn riß. Geschrumpfter, nicht entwickelter Körper. Immer klein. Immer still. Immer verschämt, ja, verschämt, als wäre er selbst an seiner Misere schuld. Vom Seppl konnte man nichts erwarten, nur ein Grinsen, ein Herumwetzen, ein Versuch, sich normal zu geben. Ein Bub sein Leben lang. Er sah immer aus wie ein Elfjähriger, auch, als ihm schon die Haare grau wurden. Er hing an seinem Vater, und der schämte sich innerlich zu Tode für die Mißgeburt, die, das wußte er ohne Zweifel, auf sein Verschulden zurückzuführen war. Zwischen den Eheleuten herrschte zeitlebens Atomkrieg, Gaskrieg wie vor Verdun. Immer und überall. Doch sie wurden nie übergriffig. Keiner von beiden. Es gab nur das ständige Sticheln der Mitz. Der große Lotsch, der Vater, nahm es hin, zeitweise so, als wolle er gleich zu weinen beginnen. So kam es mir manchmal vor. Dann wurde seine Stimme heiser und er lenkte sein Reden notgedrungen hin in ein selbstmitleidiges Lächeln. In einen Kommentar, der die Unmöglichkeit des Friedens auf der Welt verkündete und vorwegnahm. Der Schartlmüller Sepp war ein Titan von einem Mann. Sein Kopf war riesig und dunkel. Er hätte einen italienischen Schauspieler abgeben können, für einen Film von Fellini. Ein Unikat vom Land, Schuhgröße 54. Sein Sohn war der Seppi. Ein Nerverl. Ein Kind. Er konnte den Sohn nicht verleugnen. Der Seppl war des Seppens Nemesis. So wollte es das Leben. Der Vater, Elektriker, starb im Schock beruflicher Ungerechtigkeit. Von einem Tag auf den nächsten. Für meinen Vater war das eines der größten Schockerlebnisse neben dem Selbstmord seines besten Freundes. Es würgte ihm im Hals, als er am Jahresende, wie es Tradition war, die Toten des Jahres noch einmal Revue passieren ließ. „Der Sepp: Was für ein Drama!“ Dann verbarg er das Gesicht in seinen Händen. Er hatte gute Stunden mit seinem Schwager erlebt, auf Bergwanderungen. Des Elektromeisters knorrige Kommentare wirkten bei allen lachfördernd. Die Art, wie der Schartlmüller Sepp mit Schuhgröße 54 dahinmarschierte, wie ein Forstbagger, war für Kinder nur zum Staunen. Deshalb liebte der Seppl seinen Papa, und die Mitz erkannte mit dem Verbleichen des Gatten, wie gut es er eigentlich immer mit ihr gemeint hatte. Das brach ihr das Genick und sie fiel in tiefe Depression, verschloß sich im Haus.
Der Seppl machte normale Schule auf Minimalniveau. Dann ging er zur Bahn, unserem soialen Auffangnetz in der Heimat. Er wurde Streckengeher und Streckenreparateur. Ein Außendienstjob somit, angereichert mit entsprechenden Zulagen. Da gab es nie Schwierigkeiten. Doch dann mußte auch die Bahn sparen, doch sie ließen den armen Buben nicht fallen. Das rechne ich den Sozialisten in Linz hoch an. Sehr hoch. Der Seppl mußte einen Ausgedingeposten etwas weiter weg annehmen. Das war nur mit einem Auto zu machen. Seine Mutter, die ihn vorher nie fahren hatte lassen, setzte sich selbst ans Steuer, um ihm Fahrstunden zu geben. So schafte der Seppl auch das: Mit dem Auto von Stadt Haag nach Traun zu tuckern, um Vier in der Früh. Unfallfrei.
Wie die Welt meines Cousins aussah, weiß ich nicht. Er war der Friede in Person. Er fürchtete sich vor allem. Jeder, der ihn sah, wußte, das ist ein Dummi. Bring ihn nicht um! Er kann nichts dafür. Alle begegneten ihm mit Mitleid. Er wollte dabei sein. Manchmal trank er ein Bier. Ein Bier war das Maximum. Bei zweien konnte er besinnungslos zusammenbrechen. Dann war roter Alarm. Seine Mutter maßregelte ihn nach Strich und Faden, wenn sie ihn auffand, doch sie schlug ihn nicht. Auch der Seppi flüchtete vor mir, wenn er bei uns medizinisch vorbeischauen mußte. Einmal lief ich ihm geradezu nach, ebenso wie beim Hansl über den Hinterausgang. Seine Mutter war noch in der Ordination. Er konnte einach nicht bei uns Platz nehmen. Er wußte, kaum würde ich seiner ansichtig werden, hätte er existentiellen Erklärungsnotstand. Eine veritable Katastrophe aus heiterem Himmel. Die Anschuldigung Gottes, direkt vor dem Kruzifix im Eßzimmer. Das ging einfach nicht, daß er sich sehen ließ und er meinen Schrecken, meine Traurigkeit und mein dummes, verlogenes, pietistisches Feixen hinnehmen hätte müssen. Also flüchtete er hintenzu hinaus, ich ihm hintennach. Auf der alten Straße, auf der wir als Kinder gespielt hatten, hole ich ihn ein. Er windet sich wie ein Wurm. Alles ist ihm peinlich, und ich, mittlerweile durch den Hansl um einen Millimeter klüger, sage zu ihm (und das war der letzte Satz von meiner Seite zu diesem guten Buben, dem Menschen voll des Friedens): „Seppl, es gibt keinen Grund, daß du davonläufst. Ich mag dich und ich werde dich immer mögen.“ Und schon weine ich. Das war klar, daß es so kommen mußte. Kaum spreche ich die Wahrheit aus, muß ich weinen. Das war immer schon so, auch im Beruf, (ja, auch im Beruf) und hat mir gelegentlich nette Zores eingebrockt. Aber zumindest darf ich sagen, eine meiner Schwestern, eine ehemalige Klosterschwester, ist in diesem Punkt der rückhaltlosen Herzensöffnung noch extremer gewesen. Es war geradezu ihre Qualitätsmarke.
Es bricht also aus mir heraus. Und da gibt mir der Seppl – genau so wie der Hansl vor ihm – eine Jahrhundertantwort: „Ja, ich weiß, aber sag es niemandem weiter.“ Ich gehe zu ihm hin, will ihn umarmen. Er weicht zurück. Ich lasse den Versuch, ja nicht einmal die Hand strecke ich ihm hin. „Drinnen haben wir was zum Trinken für dich.“ „Nett gemeint, Wolf, aber ich nehme Einladungen nicht an. Ich bin gut hier heraußen. Ich bin gern auf der Straße, gern im Freien.“ Er grinst mich zuckend an. Es war geflüstert, halb verhaspelt. Die Mundpartie des Seppi war verkleinert und notorisch verkrampft. Er konnte nicht normal sprechen. Das längste war ein kurzer Satz. Er konnte nicht argumentieren. Doch das, was er mir da antwortete, war zum ersten Mal klar. Es kam wie die Apokalypse des Johannes.
„Bist du dir sicher? Willst du nicht hineinkommen?“
„Ja, mach dir keine Sorgen um mich!“ Das waren seine Abschiedsworte. Das war vor 35 Jahren oder was. Seitdem lebt er mir entzogen. Doch eine andere Mutter scheint ihn eingeholt zu haben. La Madre de la Selva. Und ich setze dir, Seppl, hiermit ein Denkmal. Hast es hundert Mal verdient, du Guter! Amen.