Der lachende Philosoph
Arnold Keyserling wurde in den Wiener Kreisen mangels besserer Begriffe und naeherer Kenntnis seines Wirkens gemeinhin als "Religionsphilosoph" gehandelt. Er lehrte ueber Jahrzehnte hinweg an der Hochschule fuer angewandte Kunst. Dem Flair seiner Wirkungsstaette entsprechend war er immer leger gekleidet, wie ein Maler. Seine ganze Statur und sein Auftreten ueberhaupt haetten ihm keine konventionelle Kleidung erlaubt. Er mass ueber 1,90, war eher gewichtig, hatte jedoch fuer seine Proportionen zierliche Beine. Er ging immer vorsichtig und langsam, unmerklich hinkend. Schon in der Fruehzeit hatte er schlohweisses, gelichtetes, laengeres Haar und einen auffallenden weissen langen Bart, der ihn immer und ueberall auffallen liess. Dieses Charakterhaupt stilisierte ihn zum Inbegriff des klassischen griechischen Philosophen, obwohl seine vaeterliche Linie aus dem Baltikum stammte. Graf Hermann Keyserling war eine "esoterische" Groesse in den Zeiten der Weimarer Republik.
Arnold Keyserling hatte eine fixe Fangemeinde, die Abendlesungen am Dienstag und Donnerstag waren immer voll, eine Mischung aus Kuenstlern, Studenten, Professionisten, Personen mit prononciertem Charakter, die dem Lehrer ueber Jahre hinweg die Treue hielten. Auffallend, dass ihn niemand von den Kollegen der etablierten Universitaet erwaehnte, nicht einmal der populaere Erich Heintel, der im Auditorium Maximum seine Vorlesungen partout ohne Lautsprecher abhielt. Bei Keyserling waren die Fenster immer geschlossen, sogar im Hochsommer, was die Stunden oft zur Tortur werden liess. Er wollte keine Stoerungen. Niemand von den vielen Versammelten fand es der Muehe wert, eines zu oeffnen. So schliefen dann regelmaessig einige mangels Sauerstoff ein oder daemmerten fort, waehrend der Riese vorne seine Rede hielt, immer ohne schriftlichem Konzept. Auch der Tafel neben ihm, die er rituell vor Beginn der Vorlesung vollkritzelte, widmete er dann keinen Blick mehr. Er sprach kultiviertes Deutsch, mit erhobener Stimme, jedes Wort deutlich formulierend, als geniesse er es, es in seiner Mundhoehle zu formen und dann ueber seine sinnlichen Lippen auszusprechen. In diesem feierlichen Akt des Sprechens hoerte man seine deutsch-baltische Herkunft in manchen Momenten des Zungenspiels durch.
Keyserling war ein "Universalgelehrter" alten Schlags, ein Autodidakt, der seinem Geist Nahrung gab. Nicht nur war er ein Meister der praktischen Philosophie des Denkens, sondern hatte seine synthetischen Bestrebungen in der Quintessenz des "Rades" (zumindest in den 70ern und 80ern) formuliert. Er war wohl einer der groessten Astrologen des Landes, ohne jemals damit hausieren zu gehen. Sein Lehrer war Gurdjieff. Der Orient. Dann kamen Mittel- und Nordamerika, und das wurde seine zweite geheime Existenz. Er hatte Zugang zu allen, besuchte sie in den Ferien. Niemals trumpfte er damit auf, dass er ein Anglophiler war. Er bewegte sich in England und Amerika wie ein Fisch im Wasser, hatte etwas Unberuehrbares. Er war ein Unschuldiger, ein Kind, das Freude am Denken hatte, ein Mensch, der andere beglueckte. Nie sah man ihn missmutig. Nie.
Er hatte also Zugang zu allen. Bald trat er mit Rolling Thunder am ersten Kongress in Alpbach ueberhaupt auf. Das war, wenn mich nicht alles taeuscht, so um 1982. Er war Hausgast der Kalifornier. Das, weil er so augenscheinlich ungefaehrlich war. Auch Heyemeyohst Storm beredete sich mit ihm. Viele mehr. Ich glaube, wenn einer Harley Swift Deer Reagen’s Titel "Sternenkrieger" verdient, dann er. Ein Sternenwanderer. Ein Alchemist der Elemente, Toene und Farben. Er war ein Eingeweihter der Numerologie, ein Freund Arabiens.
Dann schritt er zur Germanischen Rueckholung, schuf ein "Erdheiligtum" in Hintersdorf nahe Gugging im Wienerwald. Dort beging er den Jahreskreis, auf die Minute genau, versammelt war ein Kreis von Nahen und Fernen, um regelmaessig die Verbindung von Himmel und Erde zu bezeugen. Aus Berlin kamen sie und aus Linz. Er stimmte dort einen Choral an, der vielen die Augen oeffnete, danach lud er alle generoes zum verspaeteten Fruehstueck ein. Der Wirt freute sich.
Arnold Keyserling, der unvergessliche, joviale, gleichmuetige, inspirierte Lehrer, starb am 7.September 2005 in Matrei am Brenner, der Heimat von Andreas Hofer. Ein brennender Freiheitskaempfer an der Seite einer ihn sein Leben lang treu begleitenden Ehefrau.
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Zu Gast in diesen Hallen
Ich hatte von ihm reden gehört wie von einem Vater. Mei Li dissertierte bei ihm über Nietzsche. Helmut Kohlenberger, der Unvergessene, sprach ebenso nur in den höchsten Tönen von ihm. Karl Ulmer war eine graue Eminenz an beiden philosophischen Instituten der Uni Wien. Eine sympathische graue Eminenz. Ein kleingewachsener Mann, weißes Haar, feinziseliertes Gesicht. Ein Gesicht im Gleichgewicht. Eine feste, väterliche Stimme, eine durch und durch ehrliche Stimme. Nach vier Jahren Pause, nur wenige Monate vor seinem Tod, hörte ich Karl Ulmer im Audimax der Universität. „Nietzsche, eine Revision. Bedeutungsgewinnung für unsere Zeit.“ Es war eine Begegnung. Ich hing an seinen Lippen. Ich saß vorne in der ersten Reihe, links vorne. Das erste und einzige Mal, daß ich mir einen Stammsitz nahm. Die Art, wie Ulmer auftrat. Ein Professor, von dem ich nur Gutes gehört hatte und der mir ein paar Mal im Institut über den Weg gelaufen war (oder umgekehrt), ein stiller Gelehrter, in Gedanken versunken. Jetzt also wollte ich ihn im einzigen Saal dieses Gebäudekomplexes hören, der Luft zum Atmen bot. Das Auditorium Maximum der Universität Wien der 70er Jahre bot den Anblick eines anachronistischen Filmtheaters in irgend einer Küstenstadt der italienischen Adria. Holzklappsessel, Schreibbänke, einen Balkon hinten, eine Empore vorne, eine Filmleinwand mit Vorhang hinter der versenkbaren grünen Kreideschreibtafel. Ulmer benutzte die Tafel kein einziges Mal. Das war mir von vornherein klar. Er justierte als erstes das Vorlesungspult akribisch, ohne Nervosität. Er hatte keinen Assistenten, der ihm das zu Beginn gemacht hätte, und auch er tat es nicht noch vor Lesungsbeginn. Er kam herein, legte sein Manuskript auf das Pult, und justierte die Höhe. Dann begann er zu sprechen. Seine Stimme hatte Brustvolumen. Er mußte sich nicht anstrengen. Die Nietzsche-Vorlesung von 1980 war relativ spärlich besucht. Es war eine 14-Uhr Vorlesung, wenn ich mich recht erinnere. Ulmer versenkte sich in seinen Text, will heißen, in die Gedanken, die er vorbringen wollte. Er hatte ein Gerüst aufgezeichnet. Ich denke, sein vorbereitetes Mansukript betrug pro Vorlesung nicht mehr als fünf Seiten. Er stand dort oben, der kleine, weißhaarige, rundköpfige, 65-jährige Mann, der durch seine völlige Haarweiße älter wirkte als er tatsächlich war. Wie Marian Heitger, der kraushaarige humanistische Pädagoge, ein Landsmann von ihm, versenkte er sich in die Gedanken, die er sorgfältig, mit kontrolliertem Herz, vor der Zuhörerschaft ausbreitete. Die Zuhörerschaft, ein ausgewähltes Puiblikum. Keinerlei Gelegenheits- oder Alibihörer. Er hatte Nietzsche im Effeff, das war wohltuend. Ein weiterer Nietzsche-Bekenner. Einer, der sich das Staunen bis ins Alter bewahrt hatte. Ich glaube, das war gerade Ulmers Marke. Ein Staunen über die Gedankenwege seines schnauzbärtigen Landsmannes, der die zehn Jahre vor seinem Tod in geistiger Umnachtung verbringen sollte. Ulmers Stil war zweifelsohne meisterlich. Seine Hingabe an den Gedanken, an den Text, an das Wort im Zusammenhang kontrapunktierte meisterlich seine Statur. Ulmer war kein „Zwerg“, wie man es Kant ob dessen Statur nachsagte, er war ein Juwel, das seinen Glanz nur in der Leselampe auf dem Skriptenpult aufscheinen ließ.
Er brachte die Eckpunke der Lehre, alle meisterlich in die Zeit eines Semesters gesetzt. Wie eine Perlenkette. Er entwickelte sie harmonisch, den letzten, den „Willen zur Macht“. Das innere Staunen war hör- und spürbar. Und dann eine Extemporierung, die mir unvergesslich hängen geblieben ist, weil sie mich nur allzu frappant an jene von Salo Flohr, den ehemals tschechischen und dann sowjetischen Schachgroßmeister, getätigt ungefähr zur selben Zeit im Wiener Hilton, erinnerte.
„Wenn man sich in das Werk des Röckeners vertieft, begleitet einen immer und sofort ein Gedanke an das Leben dieses Menschen, der sosehr von Krankheiten geplagt wurde. Man fragt sich, warum müssen derartig revolutionäre Gedanken wie in einem Gesetz von einem Leben des Leidens und der Gebrechen begleitet werden. Warum sterben manche geistige Genies so früh? Welchen Wert hat ein Werk wie jenes von Nietzsche angesichts eines Fortdämmerns über zehn Jahre hinweg, in welchen er nicht mehr wußte, wer, noch wo oder was er war. Trotz aller titanenhaften, wagemutigen, einzigartigen Gedanken wurde Nietzsche in Turin Anfang Januar 1889 vom geistigen Zusammenbruch niedergeschlagen und versank in wahnhafte Reglosigkeit, die bis heute, und über die Distanz hinweg, schaudererregend anmutet und berührt. Ja, wie groß das Werk eines Menschen auch anmutet mag, wie wagemutig und einzigartig, es kommt der Tag, wo er dem Werk oder das Werk ihm genommen wird und er geht, früher als er vielleicht gedacht hatte, einmal gehen zu müssen."
Genau dasselbe äußerte Salo Flohr mit Pathos und zwei Tränen im Augenwinkel. „Die Schönheit unseres Spiels, die Millionen fasziniert, wir können sie nicht unbeschränkt lange genießen. Nur allzu früh klopft der Tod an, und wir müssen ihm folgen, ob wir wollen oder nicht.“ So sprach Großmeister Salo Flohr vor seiner Simultanvorstellung, ich erinnere mich, und nur wenige Monate später war er tot, gestorben in seiner Wahlheimat, Moskau.
Professor Ulmers Worte waren im gleichen Sinne ein Bekenntnis, ein durch und durch wohltuendes Bekenntnis eines wahren Denkers, eines Philosophen, der diesen Titel wahrlich verdiente, eines Bedenkers des Wortes, eines Bedenkers jedes seiner Worte. Eines Mannes, der sich nicht unsterblich wähnte. Eines Mannes, der Arroganz nicht kannte. Worte eines Souveräns inmitten unbeschreiblicher akademischer Mickrigkeit.
Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an das Kolloquium bei Ulmer. Ich traf ihn beim Mittagessen an. Er speiste auf seinem Schreibtisch, um 14:00 Uhr, eine Suppe. Ich entschuldigte mich, er entschuldigte sich. Ich ließ ihn alleine fertig essen. Er wusch sich den Mund, schneuzte sich, hatte alles sauber gemacht, als ich Platz nahm. Niemand, der ihm gegenüber saß, hätte gemutmaßt, das dieser Gelehrte an seinem Schreibtisch speiste. Er machte keine Mittagspause im Restaurant oben im 6.Stock des Neuen Institutsgebäudes oder in irgend einer Professorenmensa. Ich erinnere mich wie im Traum. Das Gespräch war, heute, rückblickend, in meinen Augen, harmonisch, perfekt. Ich erzählte Mai Li von meiner Begegnung mit ihm. Sie grinste mich hinter ihren Brillen mit ihrem japanischen Lächeln an: „Ja, siehst Du, er ist wirklich wie ein Papa, nicht?“ „Ich dachte nicht, daß jemand dazu fähig ist, Mai Li!“ „Ja, er ist so papafreundlich, und dabei so gescheit. Das sieht man ihm nicht an. Ein wirklicher Philosoph, nicht?“ Ich dankte dem Mann, der wie ein heller Geist, beinahe durchsichtig, ein halbes Jahr lang durch mein Leben gewandelt war.
Karl Ulmer starb, wenn ich die Zeitrechnung richtig handhabe, wenige Monate später. Mai Li hatte mich vorbereitet. „Dem Doktorpapa geht es nicht gut. Es ist so schade.“ In all den traurigen, nebelverhangenen, immer noch vom Krieg mit seinen Nachwehen geprägten Jahren damals gab es Lichtgestalten. Ich wünschte, ich könnte zurückkehren in jene Zeit.