Wer, wenn nicht der 1842 in Ernstthal geborene Carl Friedrich May, besser bekannt als Karl May, hat unsere deutsche Kindheit geprägt? Nicht Goethe noch Schiller, nicht einmal Hesse vollbrachten dieses Kunststück mit so leichter Hand wie der vielschreibende Phantast, der von seinem Schreibtisch aus die Welt bereiste und mit felsenfester Sicherheit meinte, sie von seinem Schreibtisch aus zu kennen.
Karl May verkörpert die Sphinx der deutschen Literatur und wird es bleiben. Man kann ihn belächeln und seine Werke zur Jugendliteratur zählen. Tatsache ist, dass er in der Hochblüte seines knapp 50-jährigen Schaffens der meistgelesene deutsche Autor war, und Generationen von Söhnen wie Vätern eine Welt vormalte, die uns bis in unsere Träume verfolgen sollte. Karl May wurde zweimal wegen Hochstapelei und zwanghaftem Lügen zu „Arbeitshausstrafen“ von immerhin 4 Jahren verurteilt. Er liebte es sich zu verkleiden und gab sich mal als Arzt, mal als Richter, mal als Geistlicher aus. Doch seine Lieblingsrolle, die er stilisierte und in der er sich fotografieren liess, war die des Weltreisenden, des Amerikareisenden, die des Blutsbruders der roten Nation, Blutsbruder des Apachenhäuptlings. May wuchs in seinem mondbeschienenen Wahn in die Rolle Old Shatterhands hinein, wandelte sie hernach in die Figur Kara Ben Nemsis, immer noch an der Seite Winnetous, des Edelmenschen, den er sogar nach Ägypten verpflanzte. May als deutscher Abenteurer, Archäologe, bereiste auch das Inkareich, 1891. Seiner Feder entronn „Das Vermächtnis des Inka“.
Karl May’s Weltauflage übersteigt die 200 Millionen, auf Deutschland entfallen alleine gut 100 Millionen. Der Träumer und Hochstapler May erwies der Roten Nation einen Bärendienst, wie sie ihn sich nie erträumen hätte lassen. Noch heute staunen die Roten, die nach Europa kommen, woher denn diese Euphorie, dieser Edelmut, diese Sympathie, diese Solidaritaet mit ihrem Schicksal herrührt, und man erklärt ihnen, wir hatten einen Schriftsteller, der euer Land viele Jahre lang bereist hat und der den Apachen ein Blutsbruder wurde, und sie fragen, wie heißt denn dieser gute Freund, wir haben nie etwas von ihm gehört!

Dessen erst müssen sich die weissen Amerikaner gewahr werden, die noch weniger davon wissen, und sie haben noch immer nicht realisiert, dass dieser ostdeutsche Mondbeschienene dem bilateralen Verhältnis das größte Kuckucksei der Geschichte gelegt hat, ein Ei, dem Edelmut und überhaupt alle deutschen Tugenden entsprangen. Es war nicht Nietzsche, bei Gott nicht; der hatte nur den Übermenschen im Sinn. Aber bei May ist es Versöhnung zwischen den Kulturen, der roten und der weißen, aber wohlgmerkt, der deutschen weißen. In der Winnetou-Serie treten neben Shatterhand der schrullige Sam Hawkins auf, und der edelste, Winnetous Lehrer, im ersten Teil, Kleki Petra. Allesamt Deutsche. Während Hawkins auch noch hinüberwandert in den Shurehand-Band, stirbt Kleki-Petra, und mit ihm Winnetous Vater, Intschou-tschuna, sowie seine Schwester Nscho-tschi, dem weissen Blutsbruder frisch angetraut. Manch einer interpretierte diese Entledigung als eine Stärkung eines homosexuellen Bandes zwischen Rot und Weiss. Doch wenn es ein Band gibt, dann ist es das einer Generation von deutschen Vätern, Großvätern und Söhnen, die den Edelmut auf ihre Fahnen geheftet halten, nicht erst seit sie die berühmten Verfilmungen mit Lex Barker und Pierre Brice gesehen haben.
Verfilmungen aus dem Märchenland, dem kroatischen Karst mit seinen weissen Felsen und den diamantenblauen Seen. Die Plitvica-Seen. Stewart Granger gab den Shurehand. Alle anderen waren Deutsche und Italiener. Selbst dem Franzosen Brice war der Erfolg unheimlich, ein Erfolg, der seinen Charakter wandelte, zum Positiven. Auch er verstand erst mit der Rolle des Apachenhäuptlings, welches Erbe er damit angetreten hatte. Ein Erbe, das bis heute lebt. In Radebeul, dem Sterbeort May’s, finden heute noch Indianertage statt.
Die indianische Bewegung in Deutschland und Österreich ist eine Liane, die dem Grab eines beseelten Deutschen entsprossen ist.
Am 22.Dezember 1912 tritt Karl May, vom Tod gezeichnet, im überfüllten Wiener Kongresshaus zum letzten Mal in der Öffentlichkeit auf und spricht über sein Anliegen, das ihn die letzten Jahrzehnte nicht mehr losgelassen hatte: „Empor ins Reich des Edelmenschen“. Er hatte keine bestimmte Rasse oder gar Nation im Sinne. Es war ihm an weltweiter Versöhnung und Solidarität gelegen, der Kehrtwendung, zu der er selbst sich unter herben Enttäuschungen und gegen alle eigene Triebhaftigkeit durchringen wollte. 1904 hatte er „Frieden auf Erden“ geschrieben, und im Anschluss daran Winnetou 4. Winnetou, ein indianischer Messias, wie er seit Jahrunderten in den geheimen Überlieferungen der transkontinentalen „Süssen Medizin“ existiert. 1909, nachdem er bereits ausgiebig den Balkan und die arabische Halbinsel und schließlich sogar den Orient bis Sumatra durchreist und durchritten hatte, landet Karl May in den Armen des Sufismus und wird Mystiker. Aus welcher Quelle auch immer gespeist, entspringt seiner Feder das surreal anmutende „Ardistan und Dschinnistan“.
Acht Tage nach seinem beklatschten Auftritt in Wien steigt Karl May zum letzten Mal von seinem „Hattatitla“ ab, haucht am 30.Dezember 1912 in Radebeul sein Leben aus. Gemäß eigener Verfügung wird er mit einer Nachbildung der „Silberbüchse“ begraben. Ein Verkannter, der nur eine einzige große Reise in seinem Leben unternommen hatte, nach Indonesien, wo ihm die Ehrenstaatsbürgerschaft übertragen wurde, aber er selbst einen Nervenzusammenbruch überstehen mußte, da die Erlebnisse der Armut und Wildheit so fern der Heimat sein porzellanenes Realitätsverständnis rücksichtslos zerbrochen hatten. May gilt auf Java bis heute als „Freund der Nation“.

Die grünen Karl May-Bände zieren so manches deutsche Wohnzimmer. Zumeist in der Gesamtausgabe. Passionierte May-Leser haben sich in der Regel auch mit seiner Biographie beschäftigt. Doch das tut ihrem Appetit auf seine Literatur keinen Abbruch. Der Mond, der beste Geselle des Phantasten, wirkt bis heute in unsere Träume nach. Und veredelt die Phantasie zum Werk, ein lebenprägendes.

 

0 Antworten

  1. Lebenszitate von Freunden der indianischen Sache

     

    a) „Der May bedeutet Lebensfreude. Ohne seine Bücher stünden wir arm da. Meine Frau war zum Glück nie auf den May eifersüchtig. Von Nscho-Tschi wußte sie nichts. Von der Marianne Koch und der Uschi Glas schon, doch nichts von Nscho-Tschi und Rehenna. Dem Karl konnte ich die Bände ungeschaut ausborgen, auch wenn ich sie dann ein halbes Jahr lang nicht sah. Der Karl konnte mir nichts erzählen. Nur Gott weiß, wie oft er einen Band durchlas, bevor er ihn aus seinen Klauen wieder weglegte. Ich lieh ihm die Bände nach festem System: Welchen Band werde ich im nächsten halben Jahr nicht vermissen? So wurde ich ihm nicht gram, auch wenn das May-Buchschelf Lücken und Schieflage aufwies. Wie soll ein Mann ein grader Michl werden, wenn er nie Winnetou gelesen hat?

    Der Winnetou-Leser wird niemals in die Primitivität abfallen und sich mit seiner Edelsten während einer Autofahrt einen Kampf auf Klauen und Zähnen liefern, sodaß das Auto zu schwanken beginnt und man als Nachfahrender das Schlimmste befürchten muß.

    Der Winnetou-Leser hofft insgeheim, daß er eines Tages in die Ewigen Jagdgründe eingehen wird. Sollte das eines Tages tatsächlich eintreffen, werde ich auf den Himmelvater höchstpersönlich ein Glas heben und mein Alphorn anblasen.“

    b) „Der May ist ein Phänomen, das man von A bis Z gewissenhaft studieren muß. Das ist Wissenschaft für den Kleinen Mann. Vor Gott sind wir alle klein, auch ich, ein Arzt. Wer den May mit Vergnügen gewissenhaft und fasziniert durchackert, entdeckt immer wieder Geheimnisse wie in einer Ägyptischen Pyramide. Der May ist ein Lebensbegleiter. So wie der Fritz in Salzburg sagt, er ist ein Lebensveredler. Und ein solcher saß mehrmals im Gefängnis. Das ist doch pure Ironie. Wahrhaftig: die wahren Schätze entdeckt man oft erst nach Jahrhunderten der Geschichte und nach Jahrzehnten des eigenen Lebens. Der May bewahrt einen Mann davor, sich selbst oder jemand anderen umzubringen. Hast du dich jemals gefragt, warum die Frauen den May nicht lesen? Ich kann’s dir sagen: Sie wollen nicht bei Winnetous Tod weinen! Uns Männern dürfen die Bedln in die Augen treten. Die Frau aber will hart bleiben. So etwas tut sie sich nicht an. Sie weiß, aus Winnetou 3 blickt sie das Verhängnis an, also macht sie einen Bogen um den Band. Aber nicht nur um den Band. Um die ganze Bibliothek.

    Der May ist ein Lebensretter. Ein titanischer Lebensretter. Kann gut sein, daß ihr mich mit einem seiner Bände auf dem Schoß im Fauteuil vorfindet. Wenn das passiert, macht mir doch die Freude und legt den Band in meinen Sarg, in die gefalteten Hände, anstatt des Kreuzes.“

     

    Plitvice Lakes National Park,Croatia. Плитвицкие озёра, Хорватия - panoramio.jpg

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel