Die Auferstehung des Herrn
Das Osterfest, die Auferstehung des Herrn von den Toten am dritten Tag, dem Tag nach dem jüdischen Sabbath, zerreißt die Welt und jeden Einzelnen, denn nur die Allerwenigsten glauben an sie. Glauben im Herzen, ganz persönlich. Das ist die Richtung, die beklemmende Ahnung: Alles unwahr, der Nazarener längst vermodert. Doch auch an den Gläubigen nagt ein Zweifel, ein hartnäckiger Zweifel. Ein Zweifel, der sich unweigerlich auch bereits in die Urgemeinde eingenistet hatte, glaubten sie doch, ihm noch zu Lebzeiten nachfolgen zu werden, genau so wie es mit ihm geschehen war. Doch dem ist nicht geschehen. Seitdem, so die Statistiker, sind gute hundert Milliarden Menschen gestorben, die meisten von ihnen spurlos verschwunden. Auch Christus verschwand spurlos, und sein Wiederkommen ist nicht nur ungewiß, niemand weiß auch, wann es geschehen wird. Das bezeugte er ja selbst. „Niemand kennt den Tag und die Stunde, die der Vater im Himmel bestimmt hat.“ Diese Rede wird im Grunde heute verächtlich und mit Häme bespuckt, und nach dem Bespucken tritt bodenlose Verzweiflung ein. Und bodenlose Verzweiflung führt in der Regel zu Irrsinn, Umnachtung, Selbsttötung und allgemeinem Morden. Wir haben es hier mit einem weltweiten Aufschrei zu tun, einem Aufschrei, der gut vergleichbar ist mit dem Aufschrei der gequälten Tierwelt, erst recht des Zuchtviehs, das durch und durch seiner Würde beraubt wird. Das Verbrechen, das der Mensch an den Tieren begeht, setzt sich fort an den Bäumen und geht über zu den lebenswichtigen Elementen Wasser, Erde und Luft. Selbst das Feuer haben wir mit unserem Atomwahn entheiligt. Wir haben alles entheiligt. Das ist die verhängnisvolle, durch und durch dramatische Lästerung durch ein Wesen, das sich vor eine himmelhohe Wand gestellt sieht, die undurchdringlich scheint und die, noch schlimmer, nicht antwortet. „Es antwortet ja niemand“ ist ein Bekenntnis vieler Patientinnen, die in tiefer Trauer zu versinken drohen. Und viele dieser Frauen sind in tiefer Trauer gestorben, ohne Antwort und ohne Glauben. Selbst das Sakrament der letzten Ölung lehnen sie aus diesem Grund ab. Das Sakrament spendet weder Trost noch gibt es Antwort. Der Priester, der an meinem Totenbett steht, lügt nur, oder er weiß letztendlich nicht, was er da wirklich tut. Er beantwortet mir ja keine einzige Frage, und das hat er auch früher nie getan. Er hat mir nie beantwortet, warum er tagein, tagaus so geschmacklos angezogen ist; warum das eiserne, schwere Kreuz auf seiner Brust; warum die Geldwirtschaft; warum das Anbiedern; warum das Lügen; warum die eigene Perversität. Ich liege auf meinem Totenbett und sehe einen riesengroßen schwarzen Schatten an der gegenüberliegenden Wand stehen. Nimand der anderen sieht ihn, nur ich. Es ist lächerlich, daß meine Angehörigen und sonstigen Besucher dermaßen blind sind. Das alles ist ein absurdes Theater. Es ist nur pervers. Jetzt also bin ich an der Reihe. Schlimm genug. Es soll ohne Schmerzen gehen. Hat jemand die Spritze, sage ich nicht Nein. Und dann werden wir sehen. Schade, daß ich niemandem berichten werde können. Das ist wirklich schade: Du kannst nie ernst reden. Von jedem wirst du gemaßregelt, bis zuletzt. Niemand läßt dich ausreden. Alle fallen dir ins Wort. Und jetzt, wo ich mich nicht mehr wehren kann, erst recht. Daß all dieses Schmähtheater in ein paar Stunden sein Ende gefunden haben wird, ist nur schlechter Trost. Mir fehlt sogar die Kraft zu protestieren. Es ist ein Jammer!
Diese Rede ist Lästerung. Die Lästerung zeichnet uns Menschen aus. Wir fühlen uns im Recht. Wir fühlen uns im Recht auch gegen Gott. Wir reden, er antwortet nicht. Also lästern wir. Franziskus nennt das die „Rebellion des Menschen“. Der Mensch, der gegen alles rebelliert. Das unterste, wogegen er rebelliert, ist das eigene Leben Müssen. Der rebellierende Mensch, der hochmütige, schwingt sich zu der ultimativen Rede der Lästerung auf: „Du hast mich nicht gefragt, ob ich überhaupt leben will.“ Das ist unser Kennzeichen. Das Zeichen, das uns bezeichnet. Der Hochmut. Im besten Fall ist es lähmende Gedankenlosigkeit, Dummheit. Doch Gier und Dummheit werden noch dazu führen, daß die Menschheit sich selbst ausrottet. Die Selbstausrottung der Menschheit ist die ultimative Gotteslästerung. Doch die Instanz, die hier brüllend lästert, hat selbst damit kein Problem.
Die Zustände sind fürchterlich. Die Krankheit ist fürchterlich. Wo ist Trost? Wo ist Hoffnung? Wer gibt Antwort? Schreckliche Dinge passieren. Ungeheure Dinge passieren. Die Leute wissen nicht, was sie reden. Wir werden auf Tag und Stunde zerschossen, mundtot geschossen. Wie erst all die Tiere in den Käfigen? Wer wütet hier? Was wütet hier? Ich sehe es täglich. Sie saufen gierig das amerikanische Zuckerzeug. Die Plastikflasche werfen sie in den Fluß, egal, ob Kind oder Mutter. Sie wissen absolut nicht, was sie da tun. Sie haben absolut keine Vorstellung, was außerhalb ihres Horizontes geschieht. Der peruanische Ex-Präsident Alan Garcia macht es vor: Er schießt sich in der Karwoche in den Mund, in seinem Schlafzimmer. Draußen die wartende Polizei, die ihn abholen will. Ein Verbrecher, der Statur beweist. Was danach kommt, ist ihm egal. Er hat sich dem weltlichen Gesetz entzogen. Andere sagen, für mich gilt kein Gesetz. Mehrere Dutzend der sogenannten Staatenlenker leben nach diesem Credo. Das Credo des Absolutismus. Allesamt keine Christen. Der Kirchgang ist für sie Instrument. Sie beten in der Kirche nicht. Sie wüßten auch nicht, was und zu wem. Der Verbrecher kennt weder das katholische Glaubensbekenntnis noch ist er bereit, es vom Papier abzulesen und auszusprechen. Und dieser Verbrecher ist ein Mann, der sich auf sich selbst alles, aber auch wirklich alles, einbildet. Der pathologische Lügner schlechthin, ein Mann ohne jede Ehre. Ein Mann unter schleichender Demenz. Ein Opfer des Bösen.
Das ist der Grundsatz, der sofort in die Diskussion eingeworfen wird: Das Böse gibt es nicht, wir müssen uns selbst helfen. Hinter verschlossenen Türen sprechen die Teilnehmer der Wannseekonferenz weiter: „Wenn es das Böse nicht gibt, gibt es auch nicht das Gute. Doch das ist uns egal. Das einzige, was zählt, ist unser Wille. Diesen Willen werden wir verwirklichen.“ So sprachen sie damals, und so sprechen sie heute. Kinder bringen sie um, erst recht jene, die nicht dem eigenen Volk entstammen und die dem Terror zuhause zusammen mit ihren Eltern zu entfliehen versuchen. Anstatt in Mittelamerika einzumarschieren und dort für saubere Verhältnisse zu sorgen, kerkert der Mann ohne Ehre – und erst recht sein Adlatus, der unsägliche Maschinenmann, der mich immer, sobald ich ihn auf CNN sehe, an Reinhard Heidrich erinnert -, die Flüchtenden in den Dutzenden, wie Konzentrationslager flächendeckend eingerichteten Lagern des Heimatschutzes ein, und niemand weiß, was dort passiert, und niemand weiß, wo die tausenden Kinder verloren gegangen sind. Und die Anchorlady auf NBC, die davon Kenntnis nehmen muß, weint in mütterlicher Rührung. Nicht Kirstjen Nielsen.
Wenn wir uns und diese unsere Heimat retten wollen, müssen wir uns selbst überwinden, in allem und in jedem Moment. Ich habe sonst keine Chance. Ja, man kann durch die Wand gehen. Es ist eine Selbstüberwindung. Es ist Kraftanstrengung. Es ist Entschluß. Es ist Wille. Ich weiß nicht, was mich drüben erwartet, doch die eigene Würde bin ich mir erst recht schuldig. Ich wasche meine Hände nicht in Unschuld. Ganz und gar nicht. Nein, ich habe Fehler begangen. Haarsträubende Fehler. Die Dummheit ist grenzenlos, doch irgendwann muß sie ein Ende haben. Ein Ende, bevor es zu spät ist.
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Die Toten in Ayahuasca
Gegen die Toten kommt keiner an. Sie sind uns zumindest eine Nasenlänge ständig voran. Unsere Toten haben eine Vorteil: Unsere Gedanken und Gefühle behelligen sie nicht mehr. Ein Schelm, der meinte, er könnte von seiner Arbeitsplattform (seinem Hinterstübchen, sozusagen) die Toten manipulieren. Für seine Zwecke klarerweise. Da liegt ja die Krot versteckt. Zu meinen, wir könnten Einfluß auf die Toten nehmen, nach unserem Begehr. Nur weil wir am Grab ihnen alles an den Kopf, der auch schon gar nicht mehr existiert, werfen zu können vermeinen, heißt dies noch lange nicht, unsere Querelen und Verirrungen erreichten den Adressaten problemlos, so als handle es sich bei der Kommunikation mit unseren Toten um unzensurierten Postverkehr. Nein, ein Schelm, der diesem Irrtum aufsitzt und noch dazu stolz auf ihn ist; auf diese vermeintliche Freiheit, nunmehr mit dem Toten klaren Tisch machen zu können. Zu vermeinen, ich befände mich kraft meines Lebendigseins im Vorteil, denn ich kann ja nun mal schalten und walten, wie ich will, die tote Person, die ja gar keine Person mehr ist, hingegen nicht. Die tote Person schweigt zu allem. Das ist doch offensichtlich. Das ist mein vermeintlicher Triumph. Ein Irrtum.
Ein Irrtum ist es dann, wenn uns nagender Zweifel erreicht und berührt. Der Zweifel ist das Kind unweigerlich sich einstellender Selbstreflexion, nämlich der Gedanke, wie es denn einmal mit uns vonstatten gehen wird. Der Gedanke, so unangenehm er uns anmutet, wird bereits zu Lebzeiten unumgehbar. Manche Verfechter der Verbrennung sagen sich, mir ist die Problematik sehr wohl bewußt und klar. Da steht einer an meinem Grab und leert eine Flasche Roten auf mich, wohin auch immer. Vielleicht fiele es ihm sogar ein, auf mich zu urinieren. Na gut, so weit wird es schon nicht kommen, schlußendlich liege ich auf einem Friedhof, aber immerhin, schon der Gedanke ist abstoßend und verwegen. Und ich kann dagegen nichts machen, zumal ich ja häßlich verfalle. Doch ich kenne das Spiel, und diese Wehrlosigkeit, diesen Triumph will ich ihm/ihr nicht gönnen. Lieber lasse ich mich verbrennen und meine Asche streuen sie in die Donau. Besser als Fischfutter enden als als unappetitliches Restobjekt des Gespötts von jemandem, der meint, noch eine Latte offener Rechnungen, sprich: von lauthals vorgetragenen Anschuldigungen, mit mir begleichen zu müssen. Dann werden sie weinen und mit dem Finger auf mich zeigen. Besser nicht. Besser, endgültig zu verschwinden, ohne Marmortafel, was ja ohnehin nur ein speiübles Geschäft ist. Wir wollen nicht, daß man eines Tages mit uns als Totem so verfährt, wie wir selbst mit den Toten verfahren. Das Geschäft der Anschuldigung nicht zu Lebzeiten. In dem Moment beginnen wir innezuhalten. Moment mal. In diesem Moment hakt etwas ein. Totsein ist kein Traum und auch kein Albtraum. Totsein ist nicht, im geschlossenen Sarg zu liegen und zu sehen, wie der Trauerkondukt, Mensch für Mensch, mit einem ihnen vom Totengräber gereichten Schäufchen Erde auf mich hinunterwerfen und ich mir ihre Gedanken anhören muß. All diese Falschheit und Häme. Wer weiß, wo ich dann bin. Vielleicht bin ich gar nicht im Sarg. Vielleicht bin ich woanders. Vielleicht bin ich im Nirgendwo und kann gar nichts mehr machen? Kann ich denn gar nichts dagegen tun? Vielleicht bin ich im Nichts, und nichts geht mich mehr an? Das wäre doch eine krasse, coole Lösung. Im Nichts, wo nichts mehr zählt. Ich, der/die Unerreichbare. Sollen sie selbst ihre Scheiße bereinigen. Ich bin froh, daß ich es überstanden habe. Ich genieße meine Pension in der Ewigkeit.
Doch hoppla, ich hab da ein Problem: Einstweilen bin ich noch am Leben, und meine Toten sind mir einen Schritt voran. Wenn ich es recht bedenke, mein Problem ist schon ein persönliches: Ich vermisse sie. Nicht alle, doch die meisten. Irgendwie wurde mein Leben ärmer. Das ist Scheiße. Niemand bringt mir diese Leute zurück. Immerhin habe ich mich doch gut mit ihnen unterhalten, ein Leben lang. Von mir aus hätte es immer so weitergehen können. Irgendwie schon. Irgendwie waren diese Leute doch lässig. Sie haben tarockiert, sie haben im Wirtshaus gegrölt, sie haben gestunken und gerochen, sie haben geraucht und sie hatten immer einen gesunden Appetit. Vorzeigemenschen halt. Bleibt einem ja ohnehin nicht erspart. Du bist zum Menschsein verurteilt, da muß jeder durch. Doch keine, keiner kommt zurück. Alle mausetot. Das Grab von vor 40 Jahren interessiert mich nicht mehr. Wird irgendwie fad. Der Stein verändert sich ja doch nicht. Irgendwie ist der Stein selbst eine Provokation gegenüber dem, was sich unter ihm tut. Besser ein Seemannsgrab oder, wie gesagt, im Krematorium. Spüren werde ich das Feuer ohnehin nicht mehr.
Das sind unsere Gedanken. Gedanken, wie sie auf der Straße liegen, wie Brosamen, Jeder pickt sie irgendwann einmal auf, so wie eine golden schimmernde Münze am Weg. Gedanken der Unruhe, Gedanken der Angst. Doch sobald ich ruhig werde und einen Mitmenschen finde, mit dem ich über meine Trauer sprechen kann, verändert sich die Perspektive. Sobald ich eintauche in die Stille der Nacht, oben am Wachturm, am Leuchtturm, und hinausschaue auf die unaufhörlich heranrollenden Brecher, steigt mit Wucht etwas auf, das ich nur allzu gerne zurückgehalten hätte. Trauergespeiste Tränen. Trinke ich „La Madre“, sind es nicht sosehr Tränen (oder doch? Ja, zuweilen wird herzerweichendes Schluchzen hörbar…), doch ein magenumwühlender Schrecken vor einer sich abgründig anfühlenden, gleichwohl unleugbaren Verzweiflung. Die Unabänderlichkeit des Verlustes versetzt mir einen dumpfen Schlag, der mich mich zusammenkrümmen läßt, und nicht nur mich. Oftmals beginnt hier das Herumkrabbeln auf der Matratze. Die massive Unruhe angesichts eines unabänderlichen Sicherheitsverlustes, denn Geblendetheit und Wahn Spenden mir jeden Tag trügerische Sicherheit. Dazu haben wir sie ja erfunden. Diese unmittelbare, im Gedärm – und nirgendwo sonst – sitzende Erkenntnis, daß alles nicht so ist, wie ich es mir die längste Zeit eingeredet habe, verursacht die typische Übelkeit im Magen. Es ist mir klar, ich muß mich von der eigenen Lüge befreien und gleichzeitig Resignation vor dem Unbekannten zulassen. Denn hinter allem Schrecken, aller Qual, aller Schande und Scham ob dessen, was ich verbrochen habe, grummelt noch ein anderer Schrecken, ein herrischer, möchte ich sagen, ein Schemen, der ein Gedanke ist, und der sich nicht bezähmen läßt: Das Wahrnehmen der eigenen Sterblichkeit. Und dieses Wahrnehmen, leider, ist nur eine Vorstufe, denn alsbald, praktisch unmittelbar, setzt eine Prozession von Einsichten und Geständnissen ein. Die Antizipation meines Todes führt mir mit kalter Unbarmherzigkeit die Absurdität meines Handelns, und erst recht meiner Reden, vor Augen. Ich sehe es, ich ahne es. Es ist zum Schämen. In diesem Moment kapituliere ich und greife zum Nachttopf. Ich bin froh, daß ich im bequemen Plastiksessel hineingepflockt bin. Es sieht mich ja sowieso niemand. Das ist praktisch. Und zudem sind die Leute ja bereits instruiert. Sie wissen, es kommt ein Erbrechen, und das nicht zu schmal. Das ist kein vegetatitves Erbrechen aufgrund einer Magenverstimmung, sondern ein energetischer, von bewußter Einsicht in seine Notwendigkeit getragener Brechakt. Ein Erbrechen zur Lebensrettung. Und siehe da, Gesichter aus der Vergangenheit treten auf. Meine Toten. „Herr Himmelbauer“, ertönt eine Stimme von schräg links drüben (eine junge Frau von zwanzig; schweres Kokainproblem), „was wollen diese Leute von mir? Da kommt eine Prozession leuchtender Gestalten auf mich zu. Sehen Sie die auch?“ Ich sage nichts. La Madre ist keine Party und kein Problemdialog (seltenste Ausnahmen einmal ausgenommen). Ein Monolog, ein ausgiebiger noch dazu, das schon. Ich kenne das. Vier Stunden Reden wie ein Kakadu. Ein russischer Gast beschwert sich lautstark. „Silence, please.“ Heute weiß ich, was damals passierte. Die verdrängte Kindheit, die mir dennoch nicht den Verstand geraubt hat. Ja, Monloge sind immer gut, besonders, wenn sie mit wildem Gestikulieren einhergehen. Diese Männer sehe ich in Wien zur Genüge. In La Madre gestikuliert man in der Regel nicht. Doch Stoßseufzer, das ja, kommen unweigerlich über die Lippen. „Wer sind all die Leute, Herr Himmelbauer? Geht weg, ich will euch nicht! Ihr macht mir Angst!“ Verständlich. Damit hat niemand gerechnet. Die Toten nehmen an einem vorweggenommenen Begräbnis unserer selbst teil. Jemand schickt sie, und es ist nicht die Liane des Todes. Sie fühlen sich gerufen. Ein Engel weist ihnen mit ausgestrecktem Arm den Weg. „Dort unten auf Erden, dort könnt ihr wandeln. Helft und laßt euch helfen.“ Die Toten haben alle Zeit der Welt, so wie die Pflanzengeister des Urwalds. Und so kommen sie, schweigend, in einer Prozession schweigender Gestalten, wie leuchtender, phosphoreszierender Nebel. Faszinierend. Faszinierend. „Klothilde“, hört in diesem Moment die Sitznachbarin der jungen Dame eine Stimme sich an sie, die Nachbarin, wenden, „um die Toten zu trauern kann nie genug sein. Das nennt man das Band des Lebens, das über den Tod hinaus wirkt. Und weißt du, warum es wirkt?“ Klothilde antwortet wie eine Sprechpuppe, ohne im Mindesten still nachzufragen, woher sie die korrekte Antwort kennt: „Weil das Leben unvergänglich ist, wohingegen über das Nichts nichts gesagt werden kann. Das ist Religion, oder nicht?“ (An solchen Stellen pflegte sich, vorausgesetzt, er hatte Lust, Peter aus Leipzig einzumischen. „Herr Himmelbauer, ich hab mal ’ne Frage: Warum ist das Böse eine Person, und warum war das Böse vor dem Menschen? Ist das nicht absurd?“) Doch Klothildes Lippen geben das Kolloquium, das soeben in ihrem Geist stattfindet, nicht preis. Etwas anderes entringt sich ihrer Brust. Ihr tiefes Atmen hat es bereits angekündigt. Ein Atem der Konzentration und der punktuellen Selbstüberwindung. „Das ist eine Totenmesse! Jetzt habe ich es! Jetzt weiß ich, warum Sie diese … Medizin Liane des Todes nennen! Wir sollen erinnert werden, daß wir sterblich sind! Der gräßliche Tod, der nur deshalb gräßlich ist, weil wir ihn ständig, ständig verleugnen. Oh, guter Gott, hilf!“ Und sie sinkt wieder zurück an ihre Stuhllehne. Ich prüfe die Runde. Alle Teilnehmer sind hellwach. Sie haben sehr wohl mitbekommen, was hier soeben geschah. Überall nickende Köpfe. Erleichterung, daß jemand spricht, jemand seinem Prozeß sprachlichen Ausdruck verleiht. Wie wohltuend, wie beruhigend. Jemand spricht, eine Frau, und sie spricht vollkommen ehrlich. Zwei Frauen sprechen, aus innerer (innerster!) Notwendigkeit. Kurze Pause. Eine Fledermaus flattert auf ihrer Jagd nach zancudos im Finsternis beende herum. Wie vertraut das Geräusch des geschwinden Flügelschlags. Dann hängt sie sich wieder ins Dach. Andere Tiere, die im Dach wohnen, geben Laut. Es kratzt und scharrt. Die Holzwespen in ihrem Kobel beginnen zu surren. Etwas, das sie sonst in tiefer Nacht nicht tun. Doch hier und jetzt ist alles anders. Hier findet heilige Feier statt. Hier manifestiert sich Jenseitiges. Fehlt nur noch Max, auf daß er an der Tür scharrt, weil er herein will. Mein Labrador hat sowieso hier inmitten des Waldes die Nase voll faszinierender Sensationen. Der Tempel mit seinem modrig pilzigen Sandboden, dem Holz, dem durchdringenden Geruch der Medizin und des Erbrochenen, aber ganz zuvorderst die Gemeinschaft der Menschen, dem muß er doch an Ort und Stelle, unwiderruflich, nachgehen. Ob er die Toten sieht, weiß ich nicht. Wäre es so, ich weiß, er wüßte damit umzugehen. Der Hund ist friedliebend wie ein Engel. Er stuppst mich an den überkreuzten Beinen und begibt sich wie immer in Ruheposition. Hunde haben es gern, an Ayahuasca teilzunehmen. Max erleichtert mir Vieles. Zuvorderst muß ich meinen Zorn ihm gegenüber wieder zurücknehmen, den Zorn, weil er die Kinder am Nachmittag nicht ungehindert baden ließ. Schon hechtet er ihnen wieder von der obersten Stufe in den Teich nach, ganz zum Verdruß der Buben. Doch Kinder müssen eben gerettet werden, weiß das Tier, und dieses Wissen bleibt unveränderlich. Eine Gedankenkette setzt ein und läßt mich in Trance versinken. Das kurze, intensive Hundeleben im Vergleich zu unserem. Intensiv, doch gleichzeitig beliebig schlafend. Stückweise, über den Tag verteilt. Was für ein Leben. Ja und wenn!? Er schläft nach seinem Rythmus, die Toten nach ihrem. Wie muß das sein, ein Leben ohne Schlaf? Darf ich so fragen? Und wenn schon: es soll nicht mein Problem sein. War es doch noch nie. Sei ehrlich!
Gott in uns
Ich höre es nicht so gern, wenn mir jemand im Brustton der Überzeugung, doch immer zur Unterstützung des eigenen Argumentes und immer geflissentlich, so, als wäre es das Klarste und Einfachste auf der Welt, einflicht, wir alle seien göttlich. Ich mag es nicht, denn zumeist, so habe ich den Eindruck, dient es zur Unterstützung eines momentanen Wahrheits- und erst recht, darauf begründet, eines Herrschaftsanspruches. Zu sagen, wir alle seien göttlich, grenzt zumindest an Häresie, an Gotteslästerung. Wie kann ich so etas sagen, da ich doch gar nicht weiß, wer Gott ist? Doch das Numinose kümmert diese Eiferer nicht. Sie ergänzen die Frage nach Gott standfertig mit einer Westentaschenvolte: Gott ist Liebe, sagen sie. Und damit Punkt. Liebe wird gerne und regelmäßig anmoniert, auch in Ayahuasca, wenn es etwas dramatischer zugeht. „Wo bleibt bei Ihnen die Liebe?“, werde ich gefragt. Kollege Roland, in schelmischer Anwandlung, kam mir da einmal mit seiner Antwort geistesgegenwärtig zuvor: „Im Krieg redet man für gewöhnlich nicht von Liebe. Vielleicht nach dem Krieg.“ Die Fragestellerin grummelte im Dunkeln. Sie fühlte sich zankbereit. In Ayahuasca. Am nächsten Tag kündigte sie ihre vorzeitige Abreise an. Ein Jahr später allerdings entschuldigte sie sich, telegraphisch.
Nein, wir sind ganz und gar nicht göttlich. Wir sind Kinder Gottes, Menschen, von ihm geschaffen, sogar nach seinem Ebenbild, wie es ganz zu Beginn in der Bibel heißt. Doch deshalb sind wir noch lange nicht göttlich. Sogar Christus, die zweite göttliche Person, „wurde Mensch“, wie das Credo lautet. Er wollte uns in einem Kraftakt sondergleichen, endend mit dem Tod am Kreuz, klar machen, woher wir kommen. Von „Eloi“, wie er ihn nennt. Wir tragen Gott in uns, doch deshalb sind wir noch lange nicht göttlich. Wir tragen Gott in Form des Gewissens in uns. Das Gewissen soll uns an unsere göttliche Herkunft erinnern. Doch ansonsten sind wir Menschen, in die Freiheit entlassen. Die Freiheit ist wesentlich, essentiell. Wir haben die Freiheit zu denken, und entsprechend dem Denken zu handeln. Ich meine, es gibt kein Handeln ohne Denken. Nur weil wir unseres eigenen Denkens nicht gewahr sind, heißt es noch lange nicht, daß wir nicht denken, wenn wir impulsiv handeln. Forrest Gump, der Einfältige, rettet seinen Freund Baba mitten im Sperrfeuer des Vietcong ohne zu denken, wie wir sehen. Doch in ihm hat sich bereits bewußtes Denken manifestiert: Es ist sein Gutsein. Sein Gutsein ist bereits Denken, weil es Bekenntnis ist. Forrest Gump, der Einfältige, unterhält bereits einen Weltbezug, der ihn rechtschaffen handeln läßt, und er tut dies ohne vordrängenden Selbstbezug. Er praktiziert Nächstenliebe. So ist Forrest Gump. Das meiste geht ihm leicht von der Hand. Er zweifelt nicht sosehr. Er hat das Herz am rechten Fleck. Seine Frau stirbt ihm, und bevor er durchdreht, beginnt er lieber zu laufen, quer durch die Vereinigten Staaten, dem emblematischen Staatengefüge dieser unserer Zeit. Dem Subkontinent, den der Teufel seit vier Jahren und wohl noch länger in Flammen zu tauchen versucht, durch Lüge und giftspeiende Häme. Nehmen wir uns in acht. Das ist nicht Krankheit, was diese Fratze uns zeigt. Es ist das Gesicht des manifesten Bösen. Das Böse ist sehr wohl fähig, die Bibel in Händen zu halten. Doch das Böse liest nicht die Bibel. Das würde es kreischen und speiben lassen. Der Name des Herrn und der seiner Mutter, der Jungfrau und späteren Mutter, der gnadenvollen aus Nazareth, lassen das Böse spucken, schreien und Fratze zeigen. Das Böse bleibt in der Gegenwart des Heiligen, erst recht, wenn es weiblich ist, nicht ruhig. Das ist unmöglich. Ich sehe das ganz klar an mir sebst, eigentlich Tag für Tag. Ich sehe, wie ein Kampf in mir tobt. Ein permanenter Kampf, ja geradezu ein Krieg. Auf der einen Seite eine verhehrende Fratze, die vulgär alles in den Dreck zu ziehen versucht – alles! -, und auf der anderen Seite die Burg meines Glaubens. Eine Burg, wie Theresa von Ávila unsere Seele nannte. Meine Seele läßt mich glauben. Meine Seele macht mich ernst. Sie ist es, die mir sagt: „Mein Lieber, mein Guter, ich würde dafür plädierenen, ernst zu machen. Was meinst du?“ Ja, meine Seele genießt unanfechtbare, unverrückbare Autorität. Manchmal umgehe ich ihre Stimme geschäftig. Ich quassle und schussle. Doch damit ist meine Seele, das göttliche Kind, beileibe nicht ausgeschaltet. Zeitweilig zeigt sie mir, wie sie mir still zusieht bei meinem Treiben. Und dann, nach einer eher verhunzten Einlage, bekundet sie mir vorsichtig leise, ganz und gar nicht süffisant: „Ja, mein Lieber, durch Schaden wird man klug.“ Natürlich weiß ich dann sofort, worauf sie anspielt, heißt, was sie meint. Selbst auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten weiß sie sich bemerkbar zu machen, und sofort gehe ich ein Bündnis mit ihr ein, flüchte vom Jahrmarkt, vielleicht mit wackeligen Knien und das Hemd vollgekotzt vom Schwindel des Ringelspiels.
Der Zeitvertreib ist ein gewaltiges Übel. Ich hätte viel viel Wichtigeres zu tun. Lebensnotwendiges, Lebensrettendes. Doch was tu ich? Es ist zum Schämen! Doch da, ich möchte mich gerade schon wieder selbst ohrfeigen, regt sich ein Engel in mir. „Mein Guter“, sagt der Engel, „nur mit der Ruhe. Alles ist Lernen. Du lernst Tag und Nacht, mit jedem Herzschlag. Merk dir, Gott schreibt selbst auf krummen Zeilen noch gerade. Das ist ja gerade die Kunst: Ein leeres Blatt Papier, unliniert. Und jetzt beginnst du zu schreiben. Du siehst ja selbst, du ringst um Form. Und warum? Weil du dir sagst, du bist es dir selbst schuldig. War es nicht so? Ist es nicht so? Und warum ist dem so?“ Ich denke schweigend nach. Die Frage regt mich nicht auf, im Gegenteil: Ich betrachte mein Denken, wie es Ideen und Erinnerungen gebiert. „Ja, du mein Schutzengel“, sage ich, „DU hast vollkommen recht. Ich danke dem lieben Gott, daß er mir so liebe Verwandte geschenkt hat. Was für gläubige Menschen! Sie schämten sich nicht für ihre zeitweilige Einfältigkeit. Und dennoch kamen weise Worte über ihre Lippen. Seelentröstende Worte. Heute erkenne ich’s. Seelentröstende Worte. Worte der Bescheidenheit. Das war ihr Glaube. Sie haben mir den Glauben gelehrt, als ich noch ein Kind war. Nur durch ihre liebe Art. So will ich mich besinnen. Hier und jetzt.“
Trost in Fülle
„Kaum fängt mein Mann zu denken an, vergißt er auf sein Nußkipferl“, erzählte mir neulich ein Ärztin kurz vor dem Rückflug nach Peru. „Woran denkt er denn so?“, wollte ich wissen. „Haben Sie eine Ahnung von dem, was Ihr Mann denkt? Sie werden ihn doch mittlerweile genügend kennen, denke ich.“ „Das ist nicht so einfach“, kam es zur Antwort. „Sie müssen wissen, er ist Arzt wie ich, doch von einem anderen Fach. Er ist Forensiker. Er seziert Leichname. Das ist von meinem Métier doch etwas weiter entfernt.“ (Meine Gesprächspartnerin war Labormedizinerin, gebürtige Französin). „Interessant“, sagte ich. „Diese Leute sind mir bislang noch nicht untergekommen. Allerdings weiß ich, daß einige von ihnen am Virus gestorben sind. Das Virus hat im Leichnam weitergelebt. Man sagt, das wäre eher die Ausnahme.“ „Das ist mein Mann auch“, kam es als Antwort. „Eine Ausnahme. Dennoch frage ich mich, wie er das aushält, tagein, tagaus. Keine Gesprächspartner. Nur Tote in allen Erscheinungsformen. Ich habe den Eindruck, ich habe ihn schon lange verloren.“ „Wie hat er das Virus überlebt?“, wollte ich wissen. „Das kann ich Ihnen schon eher sagen. Er rechnet mit ständigem Chaos und ständigem Tod. Das bringt niemand aus ihm raus. Ich stelle mir vor, es sind die Unfallopfer und all die anderen überraschend Gestorbenen. Auch die Ermordeten. Schrecklich.“ Eine Weile versinkt mein Gegenüber in Schweigen. „Und weil er ständig mit dem Schlimmsten rechnet, schützt er sich automatisch. Doch wie er das anstellt, das bleibt sein Geheimnis. Ich glaube, er unterhält energetische Schutzschilde. Beten tut er jedenfalls nicht, soviel ist sicher. Er lebt in einer düsteren Welt. Ich glaube, er hat alle Ideale verloren. Aber gerade deshalb halte ich es bei ihm so gut aus. Er ist ein Faktiker. So wie ich. Er hat keine Patienten, die schreien oder weinen oder sich fragen, warum ausgerechnet sie an diesem Leiden erkrankt sind. Seine Patienten sind bereits tot, wenn ich es so formulieren darf. Der Tod ernüchtert ihn. Mich auch. So wie Ebola oder noch anderes Zeug, das hierzulande unbekannt ist. Die minoritären Viren sozusagen. Diejenigen, die ein Radfahrer auf der Saualpe beim Radfahren aufschnappt oder ein anderer aus Vietnam einschleppt. Doch seltsam, er fragt mich nie, was ich denke. Er bringt eine Engelsgeduld auf. Wahrscheinlich, weil er der wortkargeste Typ ist, den ich jemals kennengelernt habe.“ „Die sind zeitweise ganz passabel, würde ich sagen“, wagte ich einzustreuen. „Ja, ihm zu Ehren. Ein Wortkarger, der Gedanken liest. Meine. Doch leider, ich bin bei ihm nicht dazu imstande. Aber eigentlich, besinne ich’s recht, habe ich auch keine größere Lust dazu. Er unterhält keine Geheimnisse, müssen Sie wissen. Er geht nicht fremd und ist auch sonst nicht pervers. Was also sollte ich fürchten?“ „Sie haben also einen Denker als Gatten“, faßte ich aufs Erste provisorisch zusammen. „Ja. Einen 24-Stunden-Denker. Ich weiß, er träumt intensiv, doch ich frage ihn nicht danach. Tatsächlich weiß ich nicht, was Ernst träumt. Ernst heißt mein Mann. Nomen est omen. Ein Friedliebender, der niemandem im Wege steht.“ „Hat er Hobbies?“ „Ja, die Oper. Und Kochen. Ich bin eine schlechte Köchin, müssen Sie wissen. Meine Mutter hat es mir nie beigebracht und ich selbst spüre keinen Antrieb dazu. Kochen ist für mich Zeitverschwendung. Lieber streite ich. Na gut, das war jetzt Spaß. Doch manchmal möchte ich nur allzu gerne ausrasten und eine Szene liefern, doch das geht bei ihm absolut nicht. Doch bei wem dann? Sagen Sie mir, bei wem dann?“ „Bei mir in Otorongo“, antwortete ich flugs, denn Frau Yvonne war offenkundig soeben in meine Gasse eingebogen. „Ach, tatsächlich? In Ihrem Kloster? Da dürfen die Frauen ausflippen?“ „Ja, dürfen Sie. Und darüber hinaus nackt herumlaufen und Stachelpalmen umarmen.“ „Ach ja…“ „Ja. Man gönnt sich ja sonst kaum etwas.“ „Das klingt ein wenig pervers. Sind Sie pervers, Herr Himmelbauer?“ „Ja, in jedem Fall, Frau Yvonne. Ich füttere unsere Wasserschildkröten mit meinem Kot, öffentlich. Was halten Sie davon?“ „Das ist nur Nächstenliebe zu Tieren. Darf ich das auch machen?“ „Jederzeit. Und ihr Mann auch, sollte er einmal kommen wollen, getrennt von Ihnen, würde ich vorschlagen. Sie gönnen einander eine Auszeit. Tut der Ehe gut.“ „Akzeptiere ich sofort. Ihm aber würde es wirklich gut tun, denn ich kann schon eine Nervensäge abgeben. Wenn Sie wissen, was ich meine.“ „So ungefähr.“
Heute feiern wir St.Nikolaus, ein Hochfest für die Kinder. In Europa üppiger Schneefall auf der Südseite des Alpenhauptkamms. Der Schnee dämmt, so wäre zu hoffen, ein wenig die Hysterie wegen dieses Virus, dessen zur Sprache-Bringung allseits unterbunden wird. Die Kirchen sind geschlossen. Die Verantwortlichen gehen davon aus, daß selbst Christus in der Kirche seine Hilflosigkeit gegen die Attacken des Virus eingestehen müßte. Bleiben wir somit auf der sicheren Seite gemäß dem Motto „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“. Ja sogar bei der Überreichung der Hostie unterzog sich unser Pfarrer im August, als ich in der Heimat weilte, direkt vor dem Hochaltar einem theatralisch anmutenden Handdesinfektionsritual, setzte sich ebenso theatralisch die Maske auf und überreichte den Leib Christi mit ausgestrecktem Arm. Mir grauste vor soviel Scheinheiligkeit. Der Kniefall vor den politischen Maßnahmen war ekelerregend. Nein, Christus wurde desavouiert, auf offener Bühne. Die Kirche zerbröselt vor unseren Augen. Es ist traurig. Heute, mit dem mich aus heiterem Himmel überkommenden Drang, eine Suche nach Freunden der Jugend vorzunehmen, fand ich nur Leichen. Es ist wirklich traurig. Josef Gugler, Pfarrer von Spitz an der Donau, vergangenes Jahr exakt am Jahrestag seiner Priesterweihe, Peter und Paul, verstorben, seiner geliebten Haushälterin, die er liebevoll bis zu ihrem Tod gepflegt hatte, nachfolgend. Josef Gugler, sein Leben lang passionierter Raucher, hatte bereits vor Jahren einen Schlaganfall erlitten. Den Rest besorgte notorische Arbeitsüberlastung, denn der Kirche mangelt es an priesterlichem Personal, und das wird ihr Untergang sein, diese verlogene Dämonisierung der Sexualität, die alle fort oder in den Irrsinn treibt. Dann Herbert Weber, Absolvent meiner Realschule in Linz, Tauchweltmeister unseres Schwimmbades, nur 5 Jahre älter als ich, Padre bei den Lazaristen in Graz und jahrelang abgestellt zum St.Georgs-Kolleg in Istambul, an einem schweren Schlaganfall heuer im Sommer verstorben, mein Freund mit den Weltmeisterlungen. Meine Erinnerungen an ihn wie von gestern. Mein Gott, wo nur ist die Zeit hinverflossen? Der einzige, der noch am Leben ist, wenngleich von demselben nachdenklich stimmend gezeichnet, Dechant Franz Schaupp in Ulmerfeld Hausmening, mein Schifreund am Hochkar, mitten in der Schulzeit damals. Diese einzigartige schnaubende Frohnatur. Und Helmut Buchegger, der elegante Missionar aus dem Kongo, den er jahrzehntelang sosehr liebte, durfte letztes Jahr seinen Achtziger begehen. Auch er noch am Leben. Was ist mir Trost im Verlieren all dieser Leitfiguren? Meine Erinnerung an sie. Meine Wertschätzung. Denn es gibt etwas Unvergängliches: Den Moment. Das ehrende Andenken. Andenken.
Die Momente zeigen sich dicht. Mein Freund Alexander prägte letzten Monat, ebenso wenige Tage vor meinem Rückflug, in seiner typisch luziden Anwandlung zwei Stehsätze zur Situation der Zeit, die sich, aus welchem Grund auch immer, zu gültigen Aussagen meiner eigenen Seltsamkeit (zumindest bin ich mir zunehmend seltsam; auf neue, nicht unangenehme Weise seltsam) auswuchsen: „Mein Lieber, diese Generation ist durch. Gib dich keinen Illusionen hin. Spätestens 2060 ist es leer hier, und die Natur startet ein neues Setup.“ (Er verwendete tatsächlich diese Formulierung). „Dann ist auch das Jammern fort. Dieses „Ich halte dieses Leben nicht aus, all diese Gesichter, all diese Dummheit.“ Und meinst du, die Welt wird dem Menschen nachweinen? Meinst du? Mutter Erde. Wo doch die Waisenkinder, allesamt, nur flennen. „Steinplanet“ nannte mal ein kleines Mädchen, das seine Mutter bei der eigenen Geburt verloren hatte, diese Erde. Und weißt du, was sie noch zum Besten gab als kaum 10-Jährige? „Das Bewußtsein ist nichts wert.“ Tatsächlich! So sprach sie! „Das Bewußtsein ist nichts, darauf braucht sich niemand etwas einbilden. Es zerschellt an der Klippe des Todes, der schon vor der Tür steht.“ Ich dachte, ich höre nicht recht! Wie ich die Kleine so reden hörte, verstand ich auf einmal, warum ich dermaßen verzweifelt bin. Weil das Sein tatsächlich unerträglich leicht ist. Niemand wird mir nachweinen, und morgen schon bin ich vergessen. Unwiederbringlich vergessen. Vielleicht mit Ausnahme von dir, weil du ein guter Lotsch bist und an mir was Gutes findest. Aber sobald auch du in Otorongo unter der Erde liegst, ist mein Kapitel endgültig geschlossen, und der Rest ist Schweigen. Unerträgliches Schweigen, das jeden in den Wahnsinn treibt. Machen wir uns nichts vor: der Wahnsinn hält Hochkonjunktur. Und das wird so bleiben. Was bleibt uns dann? Sag’s mir!“ Ich mußte mich erst wieder hochrappeln und sammeln. „Die Freundschaft, Alexander. Hier und jetzt“, stammelte ich unter anfänglichem Räuspern und gefährlich feuchten Augen. „Alles Andere zählt nicht. Unsere Freundschaft, hier und jetzt. Die nimmt mir keiner.“ Alexanders Blick daraufhin werde ich nie vergessen, so wie auch nicht jenen der Primarärztin aus Tulln [], wie sie mir mit abgewendetem Blick flüsternd bekannte: „Wissen Sie, lieber Herr H., wie oft ich auf der Straße abgeschossen wurde? Knapp ein Dutzend Mal. Und wissen Sie, wie oft meine Hand gebrochen oder schwer verstaucht war, unter schlimmsten Schmerzen? Eine Lebendamputation kann nicht gräßlicher sein.“ „Sie sind ein Engel in der Hölle, Frau Rothenberger“, konnte ich nur besänftigend einwerfen. „Eine andere Erklärung gibt es nicht. Sie wissen ja, es gibt mehr Dämonen auf Erden als Menschen.“ „Woher haben Sie diesen Spruch?“, kam es postwendend zurück, diesmal mit bereits erhobenem Haupt und kämpferisch zugewandtem Blick. „Von Pater Pio. Mein Tag- und Nachtgeselle.“ „Sie Glücklicher!“, war der Kommentar der Ärztin. „Wann hält er Ordination? Können Sie mir das sagen?“ Die Primarärztin ist eine Samariterin. Sie wird in einem Jahr nach Otorongo kommen und ein paar Waldgrundstücke zwecks Schützung des Waldes kaufen. „Sie kennen meinen Willen nicht, lieber Herr H.“, war ihre Aussage. „Alles, was ich mir vornehme, setze ich um. Wenn ich Ihnen sage, ich lade Sie nächstes Jahr zu einer Exkursion in die Antarktis ein, dann können Sie schon packen.“ „Au ja“, war meine bübische Antwort. „Die Pinguine und der böse Seeleopard, der gerne mit Pinguinbabys spielt.“ „Genau, mein Herr. Aug‘ in Aug‘ mit dem Bösen. Das ist die Devise. Dann können Sie gucken, ob er grummelt.“ „Verstehe.“ „Ja, genau. Denn wenn er grummelt, ist er nicht böse.“
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Fatima
Donnerstag, 13.Mai, Christi Himmelfahrt. Der Kalender will es so, daß dieses Fest heuer mit dem Gedenktag an die erstmalige Marienerscheinung in Fatima zusammenfällt. Heute vor 104 Jahren, es war ein Sonntag, erschien die Gottesmutter den drei Hirtenkindern Lúcia dos Santos, Jacinto und Francisco Marto. Es war ein Sonntag, mitten im Krieg, und mitten in der Endemie der Spanischen Grippe, der in Europa, so wird geschätzt, 50 Millionen Menschen zum Opfer fielen, so auch die beiden Marto-Geschwister, Jacinto 10-jährig, Francisco 11-jährig. Am 13.Mai 1981, also heute vor 40 Jahren, erfüllte sich die zweite der von der Gottesmutter an die Kinder geoffenbarten drei Prophezeiungen, jene des Papstattentates. Karol Woytyla, der Pole mit überbordendem Hang zum Mystizismus, der Mann in Weiß, wurde vom türkischen Auftragsmörder Ali Agca mit zwei Schüssen aus nächster Nähe niedergestreckt. Der Papst überlebte, und der Attentäter ging nach dem Verbüßen der Haftstrafe nach knapp 30 Jahren, im März 2010, frei. Als ihn der Papst besuchte und ihm vergab, fragte dieser mehrfach sein Opfer, welche Königin ihm das Leben gerettet habe, denn der Auftragsmörder konnte und konnte nicht verstehen, wie der Mann dieses großkalibrige Projektil, das eigentlich seinen Unterleib zerreißen hätte müssen, wäre es nicht von himmlischer Macht in einer komplett irregulären, unmöglichen Bahn abgelenkt worden, überleben konnte. Die Königin, das war die Mutter. Sie, die Waltende. Lúcia dos Santos, die Trägerin der drei Prophezeiungen, die 98 Jahre alt wurde und im Kloster starb, sprach immer von der Mutter. Die Mutter, die zu den drei Kindern sprach und ihnen für den 13.Oktober 1917 ein Himmelswunder ankündigte: