Don Carlos hatte den langen Atem. Einen Atem, der den Zuschauer schon schwindlig machte. Wird er denn nicht absaufen, in der Biskaya? Seinen Atem bewahrte er bis ins Alter. Die Luft, die er in den Lungen aufbewahrte, vermischte er mit Worten, die ihm heilig waren. Don Carlos war ein Mann des oeffentlichen Interesses. Sein Vater, Philipp von Spanien, hatte ihm eingeblaeut, wenn du ein Kerl sein willst, so haeng dich nicht an den Frauensaum, sondern scheu dich nicht, zum Schwert zu greifen. Und wenn du es wirklich nicht ueber dich bringen solltest, so kaempfe zumindest mit deiner Zunge. Und nie wirst du luegen. Ich werde noch von Drueben herueberlangen und dir den Kopf waschen, wenn ich dich luegen sehe. Das war die Retourkutsche Philipps, der knirschend mitansehen musste, wie seine unscheinbare Frau den Sohn beeinflusste, vereinnahmte, fuer einen Glauben, den er, der Vater, verabscheute. Don Carlos fiel fruehzeitig in eine Jauchelacke und die herbeistuerzenden Maegde befuerchteten bereits das Schlimmste, bis sie das Baby krabbeln und mit dem Nass pantschen sahen. Von da an wuchs Don Carlos‘ Kopf unverhaeltnismaessig schnell, sodass er in der Schule die Schwierigkeit hatte, den Kopf aufrecht zu halten. Auch fiel er zu allen moeglichen und unmoeglichen Zeiten augenblicklich in tiefen Schlaf. Erst mit dem Heranwachsen zum Juengling reichte sein Torso wieder an die Kopfgroesse heran. Es war in der Schlacht von Solferino, als das Rote Kreuz geboren wurde, als Philipp von Spanien den Kanonendonner so nahe spuerte, dass es ihm das Trommelfell zu zerreissen drohte, und Philipp schrie sich den Todesmut von der Leber, waehrend Carlos am Saum seiner Mutter kniete und so mit ihr betete. Moege der Vater gesund aus der Schlacht heimkehren!

So fuellte sich Don Carlos‘ Brust fruehzeitig mit Pathos, heiligem Pathos, von dem er wusste, dass es verstoerend wirkte. So zuegelte er es nach Massgabe, wenn er unter Maennern war, und zollte dem inneren Kampf Tribut. Bist du nicht Philipps Sohn, fragten sie ihn verfaenglich, dann lang doch zu. Damit handelte er sich eine profunde Zerrissenheit ein, die ihm in der Burg lange Zeit Unfrieden bescheren sollte. Don Carlos merkte, dass er einen Lindwurm in sich trug, einen Feuerspeier, dem er nur durch Friedfertigkeit begegnen konnte, Friedfertigkeit nach eigenem Verstehen. Don Carlos hatte von seinen Onkeln eine Leidenschaft fuer die Jagd, nicht aber fuer Hunde geerbt. Das Toeten der Eber und Hirsche, der Gemsen und Wachteln wurde zu seinem Reich. Nie aber zielte er auf die Boten der Luefte. Dazu haette er nach oben zielen muessen. Das konnte er nicht.

Und so kam Don Carlos ins Alter. Er zog sich nobel zurueck und wurde ein Schweiger. Seine Freunde litten an Krankheiten, die Verwandten wurden zersplittert. Ein grosse Welle kam heran und entriss ihm alte Begleiter. Das Gelaechter verstummte. Sein Atem blieb. Das, was er vor seinen Augen sah, raubte ihm immer noch die Sprache, obwohl er immer behauptete, Traeume bedeuteten nichts und wieder nichts. In seinem Kopf droehnte eine Sprache, die nach aussen draengte. Und so setzte er sich zur Mittagszeit wieder an den Tisch, unter das uebergrosse Kruzifix, das ihm ein Lakai geschenkt hatte, und nahm das Thema auf, das er sich in den Studienjahren von Salamanca zurechtgelegt hatte. "Wie kann ein Engel die Macht, die ihn geschaffen hat, zurueckweisen, und zwar so vollstaendig, dass sie zur Gegenkraft der Schoepfung wird?"

Diese Frage hatte Don Carlos bereits seinem Freund, dem Erzbischof von Oviedo, damals, zu den Zeiten der gemeinsamen Studien, vorgelegt, und keine befriedigende Antwort erhalten. Sein Freund konnte und wollte ihm keine Antwort geben, da er in Carlos eine Verbohrtheit sah, die sich ihm unzugaenglich darstellte. "Vielleicht wirst du die Antwort im Alter finden", war das einzige, was er ihm antworten konnte. Nichts weiser als solches.

Und ein anderer Freund, ein Jesuit und Italiener, einer, dem sich Don Carlos‘ Frau anvertraute, sogar in der Beichte, meinte es andersrum. "Was fragst du, wenn du dir die Antwort selbst gibst, Carlos?"

Don Carlos hatte das Zeug zum Hexer. Er hatte den Feueratem, die Intelligenz, die Augen der Nacht. Er liebte die Einsamkeit. Aber er hielt nichts von Mysterien. Das Feingestrickte war ihm Frauengarn. Er liebte es deftig und fand sich doch verfangen im feinen Gespinst. Es war im Alter, als er seines Vaters Wort verstand: "Und wenn du nicht Mann’s genug bist, zum Schwert zu greifen, so rede wie ein Mann. In Ehre und Feuer, ohne Lug!"

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  1. Der Tag geht zu Ende, die Nacht bricht an

    "Mein Leben ist ruhig verlaufen, vor allem ohne Schicksalsschläge. Bereits dafür muß ich danken. Ich konnte mit meiner Gattin zusammenbleiben, bis heute. Vielleicht gehen wir beide bald. Wir sind jenseits der achtzig. Jeder Tag ist geschenkt. Und noch eine Gnade wurde mir geschenkt: ich war nie des Lebens überdrüssig. Die Arbeit hat mich davor bewahrt. In der Medizin lernt man viel. Bereits im Studium, erst recht dann in der Praxis. All die Menschenschicksale. Unfälle, schwere Krankheiten von heute auf morgen, Selbstmord. Ich war bis vor kurzem Jäger. Auch das hat mir geholfen, dem Tod ins Auge zu blicken. Ich habe tausende Leichen gesehen, und Dutzende, die mir unter der Hand gestorben sind, am Tisch. Nicht jeder wagt dort hinzusehen. Einen lebendigen Körper zu öffen ist nicht jedermanns Sache, das geb´ ich zu. Mein Sohn hat deshalb von Beginn an einen weiten Bogen um mein Gewerbe gemacht. Bei Blut wird er ohnmächtig. Das kann ich ihm nicht verübeln. Nicht jeder ist ein Fleischhauer. Mein Kollege in der Stadt hat seinen Sohn sterben gesehen. Er hätte sein Leben für ihn gegeben, um ihn zu retten, aber es sollte nicht sein. Er hauchte in den Händen seines Vaters sein Leben aus, mit großen Augen. So etwas muß man erst verkraften. Und dann gab es gemeine Gerüchte wegen angeblicher Falschbehandlung, und der Vater hat den Sohn nach einem Jahr eigenhändig aus dem Grab geholt, sprichwörtlich, und den Sarg geöffnet, und ein Gerichtsmediziner hat im Beisein des Vaters die Leiche des Jugendlichen obduziert, natürlich ergebnislos, wie denn anders, nach einem Jahr, und Strichnin war nicht im Spiel. Das muß man erst einmal aushalten. Überhaupt, das war nur ein Fall, aber ein unvergeßlicher, aber man fragt sich, wie kommt es nur soweit? Diese Verkettung der Umstände! So wie der Augenarzt, der binnen eines Monats an Augenkrebs starb, oder die Gattin meines Neffen, mit 27, Mutter von drei Kindern. Innerhalb von einem Monat stirbt sie an Kopfweh. Hyperaggressiver Gehirntumor. Die Kinder haben meinen Neffen davor bewahrt, das Gewehr aus dem Schrank zu nehmen. Ich möchte jetzt nicht weiter ausschweifen. Das gebietet die Pietät. Aber gerechterweise muß ich sagen: Gott sei Dank, Gott sei Dank habe ich nie den Glauben verloren, den mir meine Mutter in die Wiege gelegt hat. Vielleicht wäre ich dann schlecht beraten gewesen, vom politischen Unglauben, den gottlosen Kriegshetzern, die ich in der Jugend zuhauf erlebt habe. Dieser Größenwahnsinnige, der ganz Europa, aber ganz besonders seine Heimat in Schutt und Asche legen wollte. Und das ist ihm gelungen. Noch heute fragen sich die Zeitzeugen: Wie war so etwas möglich? Und wie es möglich war! In jedem Dorf, in jedem Weiler saß ein Vernaderer, ein Denunziant, ein kleiner Hitler. Ein gequälter Mensch mit Minderwertigkeitskomplexen. Einer, dem die Idee des KZ gefiel. Einer, der mit Massenmord kein Problem hat. Ich habe die Schornsteine von Mauthausen rauchen gesehen, so wie alle anderen Bauern auch. Und alle haben gewußt, der Geruch ist nicht von Leder, sondern von dem, was keiner, aber auch wirklich keiner, als Wort in den Mund zu nehmen getraute. Es gab Gefangene, die haben auf den Höfen ausgeholfen. Die Nazis hatten das wohl kalkuliert. Die Einschüchterung der österreichischen Bevölkerung, die sich vom neuen Messias den Himmel erwartet hatte, durch teuflischen Terror. Doch am 30.September 1939 gab es blurotes Abendrot, und alle blieben auf den Feldern stehen und schlugen ein Kreuzzeichen. "Das ist der Krieg!" Und als der Volksssender "Feldzug Barbarossa" verkündete, schlugen die Alten wieder ein Kreuzzeichen. "Das ist unser Ende, sagten sie, "denn gegen den Iwan vermag er nicht auf, der Verrückte. Er bringt uns noch alle um!" Und so war es. Es war das Ende, schon damals. Der Fluch der damals Vergasten wird 1000 Jahre über uns hängen. Gegen die toten Russen, Zigeuner und erst recht gegen die Juden kommt keiner an. Fluch bleibt Fluch. Und für den Einen, der alles regiert, sind 1000 Jahre nichts. Er spricht Dich nur an in der Nacht, wenn Du wach liegst: "Tod oder Leben?"

    Die Schicht wahrer Gläubiger in unserer Gesellschaft heute ist außerordentlich dünn. Darüber sollte man sich keiner Illusion hingeben. Und es scheint noch dramatischer zu werden. Wir biegen auf unabsehbare Zeit ein in eine Epoche beklemmender Priesterlosigkeit. Dann werden wir endgültig in der Wüste leben. Und wie bringt man eine Wüste wieder zum Blühen? Das wird keine politische Aufgabe sein, sondern eine gesellschaftliche. Doch unsere Gesellschaft ist, so scheint es, verloren. Alle sind vereinsamt, Kinder gibt es nicht mehr. Das, was in den 50er-Jahren die Dekandenz Wiens war, hat heute ganz Österreich erfaßt. Denn Kinder Bekommen kann man nicht befehlen wie damals unter den Nazis. Wem die Kinderliebe fehlt, der wird sie nicht von heute auf morgen lernen, vor allem, er wird niemanden finden, der es ihm beibringt, – vorzeigt!

    Es ist unleugbar, im Alter muß man damit rechnen, daß einem alles entgleitet. Die Freunde werden immer weniger. Es wird still, und dann, eines Nachts, wenn ich ehrlich bin, sieht alles, was man erlebt hat, wie ein Traum aus. All die riesenhaften Torheiten. Verblendete Leidenschaften. Man kann nur um Vergebung und Verständnis bitten in der Hoffnung, niemanden allzu schwer verletzt zu haben. Das Altern ist ein Prozeß. Man lernt wahres Beten und die Wehweh’chens auszusitzen. Zu altern ist kein Honiglecken, aber die finale Lebensschule. Zu Lebzeiten die Sünden abbüßen, dieser Spruch hat doch seine Berechtigung, auch wenn niemand mehr eine solche Auffassung hören möchte. Der selige Johannes Paul II. ist doch heute niemandem mehr in Erinnerung wegen seines langen, gerdezu titanenhaft ertragen Leidensweges, sondern weil man meint, er habe die Position der Kirche zu kritisierten Themen hoffnungslos einzementiert. Ja, es gab genug, die meinten, man müsse dem Fernsehzuschauer doch nicht alle paar Augenblicke einen dermaßen schwer von seiner Krankheit gezeichneten Greis zur Schau stellen, quasi bis zum Zusammenbruch am Balkon seiner Wohnung. Doch dieser Papst hat uns viel hinterlassen, unter anderem einen Spruch von seinem Besuch in Polen in 1979, ein Gebet an den Erlöser, "… Und erneuere das Angesicht der Erde". Ich spreche davon, weil dieses Angesicht der Erde heute ein erbarmungswürdiges Antlitz darstellt, wovon zu reden einem allein schon den Schlaf rauben kann. Denn wohin soll das alles führen, das, was wir überall sehen, die geistige, körperliche und charakterliche Vermüllung der Erde? Wohin, frage ich mich, soll das führen? Meiner Frau hat diese Frage, die ich immer wieder von ihr gehört habe, dermaßen gravierendes Kopfzerbrechen bereitet, daß sie heute bereits in einem mentalen Asyl lebt. Sie war zeitlebens zartbesaitet, und jetzt sieht sie keine Perspektiven mehr. Das ist zum Weinen.

    Weinen werde ich, wenn ich Abschied nehme, rechtzeitig, das habe ich versprochen, aber nicht wegen mir, sondern aus Dank für alle Geschenke. Das ist tröstlich. Drüben werden wir uns wiedersehen, aber nicht mehr als Menschen. Es wird keine Familienparty mit gern gesehenen und weniger gern gesehenen Gästen sein. Was es heißt, reiner Geist im Angesicht Gottes zu sein, kann und darf keiner sagen. Aber daß es so sein wiird, darüber habe ich nicht den geringsten Zweifel.

    (Carlos Buenaventura, Linz-Urfahr, Pöstlingberg, Juni 2011)

  2. Quintessenzen des Lebens: Don Carlos 2

    "Die Freunde gehen alle weg. Nur mehr wenige sind übrig. Wir, die noch Übriggebliebenen, begraben sie. Und wer begräbt uns? Die Kinder.

    Im Grunde habe ich wegen meiner Kinder gelebt, auch wenn sie schwierig waren. Aber das liegt in unserer Linie, der meinen und der meiner Gattin.

    Die Patienten kommen danach. Aber schlußendlich kann man keinen Patienten retten.

    Ich hatte eine Reihe von Gottesmännern als Patienten. Sie waren Patienten in jeder Hinsicht. Sie sind alle tot, deshalb kann ich das sagen.

    Die Frage, die unaufgelöste, die mir bleibt: Warum Leben? Seltsam, eine Frage, die erst mit dem Alter kam, oder besser: mit dem Altern. Vielleicht hätte ich früher zu denken anfangen müssen, doch leider, das Blut war zu stark. Auch ich war lange Zeit ein Ignorant. Ehrlich gesagt, das meiste, was als Errungenschaften der Menschheit hingestellt wird, hat mich nie interessiert. Urlaub in einer Stadt zu machen, kam mir nie in den Sinn. Meine Liebe galt immer der Natur, den Bäumen und den Tieren des Waldes. Ich wurde Jäger wie meine Urahnen. Die Hege war meine Leidenschaft. Mein Sohn wird entscheiden, was aus meinen Gewehren wird. Entweder er vergräbt sie oder er stellt sie bei sich in die Vitrine, ohne Munition. Ich werde es zu Lebzeiten nicht mehr übers Herz bringen, sie zu verscherbeln. Undenkbar!

    Ich habe Hitler hautnah miterlebt. Ich flog in seiner Führermaschine, einer Junkers, als Mittelschüler, von Linz nach Asten. In Asten habe ich sie dann auch ausbrennen gesehen. Ich habe Mauthausen rauchen gesehen. Jeder wußte Bescheid, auch ich als 13-Jähriger. Als 13-Jähriger mußtest du für den Ernstfall gerüstet sein. Ich sollte zur SS-Schule nach Waidhofen an der Ybbs. Mein Vater verfaßte eine "Einlage": Der Bub ist ein veritabler Knecht. Wir liefern Nahrung für die Soldaten an der Front, und ich – er meinte sich selbst – werde demnächst eingezogen, an die Ostfront. So mußte ich nicht auf die "Walpola". Und der Vater kam zurück, mit durchschossenem Ohr. Die Mutter und ich hatten Tag und Nacht für ihn gebetet.

    Ich habe Göring gesehen, aus kürzester Distanz. Er stieg aus dem Zug aus. Ich dachte mit meinen 13 Jahren nur: "Was für ein fettes Schwein!" Wie ich die Führermaschine brennen sah, dachte ich: "Was für ein Glück, noch ein Kind zu sein!" Ich bin mit meinem Cousin und besten Jugendfreund, Fritz, in den letzten Kriegswochen, als die Amerikaner schon längst die Lufthoheit innehatten, herumgestreift. Ich habe gewußt, die Amerikaner veranstalten mit ihren Mustangs über den Wiesen ein Sportschießen auf alles, was Beine hat und rennt. Ein vereinzelter SS-Mann schoß, frei auf der Wiese stehend, mit seinem Sturmgewehr eine Mustang ab. Mit einem einzigen Schuß, mitten in den Tank. Dann rannte er so schnell, wie ich nie mehr einen Mann rennen sehen sollte, in den Wald. Ich hoffe, er hat überlebt.

    Ich kam aus ärmsten Verhältnissen. Das ist keine Schande. Es gilt für all meine Geschwister und für meine Eltern, die schon lange unter der Erde sind. Ich habe nie Hunger gelitten. Gott und den Eltern sei Dank. Meine Eltern haben für uns Kinder gehungert. Sie haben für uns geweint. Das war 37 oder 38. Das einzige Mal, daß ich meinen Vater, der ein Kämpfer war, weinen gesehen habe. Dann trat er der Partei bei und wurde Lok-Heizer. Der Hunger hatte ein Ende.

    Ich habe mir nie etwas sagen lassen wollen. Aber gerade das hat meine Kinder und selbst die Gattin gegen mich aufgestachelt. Sie hatten recht. Doch heute, an meinem Lebensabend, fühle ich, daß sie mich verstehen. Die einen mehr, die anderen weniger. Man kann vieles mit Humor nehmen. Umso leidvoller, dann zu sehen, daß der eine oder andere eines Tages nicht mehr die Kraft für den Humor aufbringt. Humor ist eine der wesentlichsten Errungenschaften des menschlichen Charakters. Humor und nicht Pathos.

    Meine Lieblingslektüre waren Otto Schenk, Ernst Waldbrunn, Karl Farkas, Giovanni Guareschi und Karl May. Das sagt wohl genügend über mich aus. Seit ich in der Pension bin, koche ich in der Küche. Meine Gattin hat dort keinen Auftrag mehr. Außerdem bin ich Gärtner. Manchmal kam meine Gattin zur Ranch auf Besuch und wir spielten zwei Bummerl. Revanche war immer beschlossen. Sie hatte oft die besseren Karten. So ist das unter Eheleuten. Meine Frau wäre in Afrika oder in Italien am Meer glücklich gewesen. Zeitlebens ging ihr die Wärme ab. Im Sommer lag sie draußen auf der Wiese in der Liege. Sonne, nur Sonne! Das war ihr Lebensmotto.

    Mein Erbe ist reich. Ich habe das meiste nicht ausgesprochen, doch mein Denken wird nicht vergehen. So ist das mit dem Menschen, dem Geschöpf Gottes."

  3. Ein Heros wider Willen

    Carlos war ein Kind des Krieges. Er wurde in Armut geboren, als der Krieg bereits seinen roten Schatten voraus warf. Zeitlebens war er ein Beschützer der Frauen, zuerst seiner Mutter, später seiner ältesten Schwester, und dann, schlußendlich, der seiner Gattin.

    Er war dreizehn, als er mit seiner Mutter nächtelang um das Lebens des in den Krieg, an die Ostfront, die grausamste aller Fronten, gezogenen Vaters betete. Tage- und nächtelang. Die Mutter, ein zur Melancholie neigendes Waisenkind, war dem Irrsinn nahe. Der Vater kehrte zurück, von Westen her. Blutend überquerte er die Ennsbrücke bei Enns. Sein Name war Florian. Zuhause, auf dem Weiler, nur Tage später, standen bereits die Russen. Sie taten der Familie nichts zuleide. Auch nicht der kurzgeschnittenen Schwester, die wie ein Mann aussah und auch so zupacken konnte (sie starb heuer, hochbetagt, im Juni).

    Das Beten mit der Mutter um das Leben des Vaters. Das prägte ihn, Carlos, zutiefst. Gegenüber der Kirche trug er das Haupt immer stolz. Eine Reihe von Priestern suchte ihn später auf, als Patienten. Er wußte, wie bei denen der Hase lief.

    Er wurde ein Mann des öffentlichen Lebens. Auf Grund seiner Rechtschaffenheit war er ein gesuchter Mann. Ich habe ihn nie, aber auch wirklich nie, bei einer Lüge ertappt und meine, er log auch zeitlebens nie. Er hatte das gar nicht nötig. Es gibt nur ganz Wenige, denen ich das zuschreibe, doch bei ihm als Mann war es das Zeichen, das mich am meisten verwunderte. Zu einem seiner Bekenntnisse, an einem Samstag, beim Mittagstisch, nach einem Störtelefonat, gehörte der Spruch: "Das Leben ist ein Kampf!" Er hatte den Hörer gerade weggelegt und stand noch neben dem Apparat. Er hatte auch Irre als Patienten.

    Er sprach nie recht viel. Nicht über das, was ihn wirklich bewegte. Und schon gar nicht, und das nie, über seine Träume. Er sprach auch nicht über seine Phantasien, obwohl er doch ein geborener Tagträumer war. Das hätte man ihm nicht zugemutet, war er doch dermaßen stark von der Öffentlichkeit gefordert. Doch er konnte von einer Sekunde auf die andere abschalten. Er schlief sofort ein, wo auch immer er lag. Das Reich seiner Gedanken, seiner Träume, seiner Phantasien, seiner Visionen blieb zeitlebens eine Schatztruhe. All das war ihm zu kostbar, um es "den Säuen vorzuwerfen". (Der Ausspruch war nicht von ihm). Er bewahrte seine Geheimnisse, seine Denkprozesse. Er sah das meiste aus der Sicht des behandelnden Arztes. Eine Brille trug er zeitlebens nur zum Lesen.

    Er sah das Leben als einen heroischen Dialog mit einem übermächtigen Gott. Er war Mystiker, doch verlor er darüber nie ein Wort. Nur jene, die ihn wirklich gut kannten (durch die Bank einfache Männer: ein Revier- und Jagdhornkollege; ein Cousin, der Staudammbauer war; und sein bester Freund, der sich umbrachte), sie wußten, Carlitos nagte beständig an einer Sache, ohne sichs anmerken zu lassen. Vor knapp zwei Jahren, wieder im Stehen, wieder mitten im Alltagsgeschehen, mitten in der Küche, im kurzen Innehalten: "Ja, das Böse. Im wesentlichen ist der Tod das eigentliche Böse." Punkt. Ein halb verzweifelter Blick. Ein mystischer Blick, nach innen hin. Ein Satz nach 50 Jahren Denkens.

    Er war kälteresistent. Er war einmal am Polarkreis, zumindest war er nahe dran. Er war, nennen wir es so, eher leicht beschürzt. Er leistete sich eine Elchjagd. Doch im Moment des Sichtens des Elches senkte er das Gewehr. "Ein solch majestätisches Tier kann ich nicht schießen!" Dem Jagdleiter war es nicht gram. Er verstand den Österreicher. "Ist Ihnen nicht kalt?", fragte er ihn mit Blick auf die leicht beschürzte Brust. "Nein", kam es zur Antwort. "Ich fühle nichts." Soviel zu Schweden.

    Er war kein Rauhbein, auch wenn er an rauhen Jagden teilnahm. Die meisten Jagdkollegen bestattete er selbst. Er erlegte in seinem Jägerleben eine stattliche Strecke. Nie plagte ihn deswegen das Gewissen. Er spielte das Rauhbein, selbst in der Praxis. Er war ein Unikat vom Land, eben ein "Landbaderer", wie das im Fachjargon hieß. Er war durch und durch prinzipientreu, ohne davon jemals ein Aufhebens zu machen. Er hatte in seinem Leben nur eine einzige Frau. Mit der ist er nunmehr 59 Jahre verheiratet. Ich möchte sagen, das ist sein Herz-As. Mit seiner Frau kartelte er gern. Zweierschnapsen. Auf der Ranch. Zumeist gewann sie. Wie auch immer. Dem Karteln zollte er über Jahrzehnte eine gewissen Leidenschaft, traditions- und vorfahrensbedingt. Die Magie der Tarock-Abende, ohne Besäufnis. Ein stilles Philosophieren der Teilnehmer, samt der Kassierin der Volksbank. Philosophieren über das Leben, dem sich sogar Monsignore Dangl unterzuordnen hatte.

    Sein eigentliches Leben war ein Leben der Hingabe, ohne Ansprüche. Er forderte nie Luxus. Er liebte, ohne es sich je anmerken zu lassen, das Leben mit einer Inbrunst, die ihresgleichen suchte. Er hatte Fragen, doch er sprach sie nicht aus. Seine Fragen kamen aus der Dunkelheit und hatten theologische Tiefe. Sein eigener Vater, Florian, war bekennender Atheist, der auf die Kirche nicht gut zu sprechen war. Doch auch das war, wie ich nach seinem Tod erkennen durfte, nur Theaterdonner. Carlos selbst donnerte nie. Nie. Und er kannte noch weniger Gewalttätigkeit. In all dem war er mir immer meilenweit voraus.

    Er war Mystiker mit stierfestem Stand. Als solcher blickte er sein Gegenüber an. Ein Gegenüber, wie es kein zweites gibt. Ohne Fragen. Er hatte keine Scheu, sich ins Nichts, in die Ewigkeit vorzuwagen. Das tat er, als er seinem toten Cousin, einem Restaurantkettenbetreiber, am Tag nach dessen Begräbnis nachsann. Das machte ihn zum Heros.

  4. Zeit des Abschiednehmens

    Ein Mann steht vor dem Grab seiner Gattin, mit der er 60 Jahre und 22 Tage verheiratet war. Die Eheleute waren einander Zeit ihres Lebens treu verbunden. Sie waren gläubige Katholiken.

    Der Witwer sorgt sich um die Grabgestaltung. Eine Marmortafel mit dem Namen der Verstorbenen. Seine älteste Erbtochter hat er instruiert, wie der Vermerk zu seiner Person einmal lauten sollte. Seine jüngste Tochter, eine katholische Nonne, wird ebenfalls in diesem Grab bestattet werden, einmal, wenn es soweit ist und nicht höhere Macht anderweitig waltet.

    Er spricht: "Die Murrl hat ein schönes Grab. So paßt es. Auch das Foto von ihr, das wir emailieren lassen. Eine schlichte Grablaterne. Die Blumen.

    Niemand weiß, wie es sein wird, wenn wir auferstehen werden. Niemand weiß, wie es ist, wenn unsere Geistseele zum Vater, dem Schöpfer, zurückkehren wird. Niemand weiß, was die Geistseele ist.

    Ich kann morgen gehen. Alles ist geregelt. Mein letzter Freund, mein Cousin, ist heuer im Frühling gegangen. Er war ein Jahr älter als ich. Beim Begräbnis in Salzburg haben wir gefroren. Auf diesen Kälteeinbruch innerhalb von Minuten waren wir nicht vorbereitet. Die Verabschiedung war unspektakulär. Wir haben von draußen durch die Fenster gelugt. Daß der Fritz sich einäschern läßt, ist seine Angelegenheit. Ich habe glückliche Jahre der Jugend mit ihm verbracht, auch noch im Krieg. Alles war Abenteuer. Bernhard, mein Studienfreund, rackert sich als Zisterzienser leidlich ab. Vor dem Schutzengelaltar fiel er hin und blutete massiv aus der Schädelwunde. Ein Wunder, daß er mit all seinen Gebrechen von früh an so lange durchgehalten hat. Ein Mann des Geistes, der mir und der Murrl immer die Treue gehalten hat. Schlußendlich war er mein Trauzeuge.

    Über meine Liebe habe ich nie gesprochen, denn sie ist zu kostbar, als daß man sie durch Reden in den Dreck zieht. Wir werden sowieso für alles, was wir hier auf Erden getan haben, Rede und Antwort stehen müssen. Drüben erwartet uns die pure Herrlichkeit. Und dennoch enthebt uns dieses Wissen nicht der hiesigen Hinfälligeit und Gebrechlichkeit als Menschen."

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