Die Linie des Lebens ist rot, eine Blutspur; ein Faden, der sich durch die Geschichte zieht. Ein Faden, der bis heute nicht gerissen ist.

Durch alle Kriege und Hungersnoete hindurch wurde unsere Idee gerettet, bis wir endlich, im ruhigen Eiland, das Licht der Welt erblickten. Die Eltern ueberlebten als Jugendliche auf dem Land den Krieg, der ihnen ein grosses Abenteuer war. Die Grosseltern als Kleinkinder den Ersten Weltkrieg, als Brut armer Kleinhaeusler und Bauern. "Rosl, ich komm‘ dir gleich nach", ruft der Bauer Leopold aus Gram und Verzweiflung seiner geliebten Gattin auf dem Totenwagen nach, und legt sich nach 10 Tagen tatsaechlich auf’s Sterbebett. Seine acht Kinder, bis hin zu den Kleinwuechsigen, werden in alle Himmelsrichtungen verschenkt und bei naechtlichen Traenen in kraeftezehrender Armut gross. Ein Maedchen geht im Winter barfuss zur Kirche, seine Fuesse blau. Ein anderer erbarmt sich ihrer und schenkt ihr Holzpantoffeln.

Die vier Urgrosseltern lebten eingeborgen in der Monarchie. Eine Hungersnot war fuer gewoehnlich die groessere Bedrohung. Wer kannte ueberhaupt die Kriege, die lokalen, gegen Frankreich oder Preussen oder gegen den von Allmacht phantasierenden Korsen, der auf Europa einen Fackelbrand legen wollte? Der Hunger und die Kaelte waren bedrueckender, doch der Schoss unserer Muetter blieb warm.

Die duenne rote Linie kraeuselt sich selbst durch die finstere, von Angst erfuellte Zeit der oeffentlichen Verbrennungen. Wieder wurden Kinder verschenkt. Vielleicht sassen sie im Wagen fahrender Haendler oder Fluechtender und zogen nach Suedosten, auf den Balkan, fort von den Teufelsdienern. Und so fuehrt uns die Blutspur in Zeiten, die keiner mehr erinnert, zu Schicksalen, die keiner mehr kennt. In Laender, die wir nicht fuer wahr gehalten haetten.

Die rote Linie, nichts mehr als ein Faden, birgt Geschehnisse in sich, die wir uns nicht zu traeumen wagen. Sie erzaehlt von Umarmungen, Seufzern und Ekstasen; von Ehebruch, Vergewaltigung und Abenteuer; von Koehlerhuetten, Burgen und Buergershaeusern, Gehoeften und Verschlaegen; von unbekannten Gefaengnissen und Schiffen auf hoher See. Von Kanonendonner und Buechsenknallen, von heroischen Kaempfen.

Die rote Linie birgt aber noch ein Geheimnis in sich, eines, das sie in sich aufsaugte, als die Frucht bereits zur Welt gebracht war. Die rote Linie erzaehlt uns vom Sterben der Zeuger. So laesst sie uns bereits zu Lebzeiten verstummen, denn dieses Erbe koennen wir nicht begreifen.

Die duenne rote Blutslinie ist ein rotes Lesezeichen aus Seide im unfassbaren Buch des Lebens. Sie rinnt ueber jede Seite. Sie hat Reisen hinter sich, die wir uns nicht ausmalen koennen. Vielleicht rann unser Blut ueber den Opferstein eines Mayapriesters und der die Stufen der Sonnenpyramide von Chulun hinabrollende und springende Kopf zog eine Spur, bis er unten von den Faengern mit ihren Netzen eingeholt und auf den Pfaehlen des Beschwoerungsplatzes aufgespiesst wurde. Doch wir waren bereits gerettet, sassen versteckt, an die Brust unserer braunhaeutigen Mutter geklammert, im Regen in einer Felsenhoehle. Vielleicht, wer vermag es auszuschliesen, waren wir "Laeuft wie eine Schildkroete"? Oder landeten auf einer spanischen Galeone vor sturmumtosten, ungesehenen Gestaden der neuen, der elegischen Welt, die im Nebel des Dschungels der naechsten Mordwelle harrte. Unsere Blutslinie, die zu einem Rinnsal und bald zu einem Bach anschwillt, je weiter wir nach vorne gehen, sie wird uns irgendwann zum ersten Mal erzaehlen, "Heute habe ich getoetet!", und wem wird, wie Terrence Malick, dem begnadeten Regisseur, bei diesem Eingestaendnis eine Stimme ins Ohr gefluestert haben, "Es gibt keinen groesseren Frevel als einen Menschen zu toeten!"? Vielleicht hoerten bereits unsere Grossvaeter diese Stimme. Die Heutigen, die bezahlten Killer auf fremder Erde, stellen sich taub gegen diese Wahrheit, und das kann gleichzeitig ihr Untergang sein. Solche Linien sind vom Versiegen bedroht. Sie enden in Einsamkeit, im Asyl fuer Geisteskranke, am Strick.

So stehen wir eines Tages verdattert auf den Strassen unserer Staedte, eine Blutslinie schlaengelt sich zwischen unseren Fuessen hindurch. Die Frau im dunklen Mantel neben uns an der Bushaltestelle, ihr Gesicht leichenblass, sie blickt mit Entsetzen ihre Beine hinab und schwankt. Wir fangen sie auf, rufen mit dem Handy die Ambulanz und blicken hoch, zum ersten Mal. Wohin schlaengelt sie sich, die Linie? Wird sie aussterben? Wird eines Tages Schwefel vom Himmel fallen und der Planet austrocknen? Werden die Generationen mit einem Schlag enden? Wird hoehere Gesetzlichkeit das Tote Meer entleeren? Wird uns eines Tages eine Stimme erreichen, eine gebieterische Stimme, die uns wie Donner trifft? "Bis hierher und nicht weiter!"

0 Antworten

  1. Ich habe grossen Respekt vor ihrer Art zu schreiben, ihre Art traegt ganz deutlich die Spuren von Ayahuasca, Castaneda, Schamanismus und co.

    Mir wuerde schon alleine dieser Text reichen um sagen zu koennen der Mann hat ne Ahnung, aber da ich sie bereits persoenlich kenne faellt das weg, ich kann umso mehr sagen, dieser Herr sieht die Rote Linie und ich vermute das seine besondere Disziplin in Verbindung mit Ayahuasca dies bewirkt. Ich bin erstaunt und hoch erfreut einen solchen Freund und auch Vorbild gefunden zu haben.

    An dieser Stelle vielen Dank fuer all ihre Hilfen.

  2. Karl Pichler war der Erbsohn auf einem bescheidenen Hof am Ufer der Donau. Der einzige übrig gebliebene Sohn in einer Schar von anfänglich acht. Der erste, älteste Bruder starb mit zwei an der Spanischen Grippe, der zweite mit zwölf an Diphterie, nachdem er sie mit zehn in einem Kampf auf Leben und Tod bereits überwunden zu haben glaubte. So zumindest dachten die Eltern, tiefgläubige Bauersleut’. Dieser Bub, Ernst mit Namen, war ein Jahr zu Bett gelegen. Er galt als hochintelligent und Naturliebhaber. Sein Markenzeichen war ein Hut, den er immer aufhatte, mit einer angesteckten bunten Vogelfeder, die ihm stets aufs Neue zufiel. Die Schule ließ er unbesorgt links liegen. Seine Statur ließ seine Umgebung glauben, er sei für’s Leben gerüstet, doch eine höhere Hand hatte anderes mit ihm vor. Mit zwölf starb er innert drei Wochen, und seine letzten Worte, so die Überlieferung, an die weinenden Eltern: “Seid mir nicht böse, aber ich hab’ hier nichts mehr verloren. Gern wär’ ich noch geblieben, aber sie sagen, ich muss in eine andere Welt.” Er sagte es mit klarer, schwacher Stimme. Dann schloß er die Augen und der Schweiß auf seinem Gesicht trocknete augenblicklich ab. So blieb Karl Pichler von früh an der einzige Sohn neben fünf neugierig ins Leben blickenden Schwestern. Das Leben auf dem Hof war hart, doch hungern mußten sie nie. Sie lebten die Unbekümmertheit der Jugend, die nichts braucht, mit all ihren Mythen, Erzählungen und Einflüsterungen, eingebunden in das kleine, gut einen Kilometer entfernte Dorf im Enns-Donau-Winkel. Die Donau war die bestimmende Majestät vor der Haustür, während das Kruzifix im Herrgottswinkel hing. Gläubig waren sie allesamt bis ins Herz… Dann kam Hitler und mit ihm die Braunhemden. Im Dorf war es nur einer, ein wirklicher Scharfmacher. Er hatte das Radio über, den Volkssender, die gespenstisch-pathetische Stimme des Führers. Doch das hielt den Pichler-Vater nicht davon ab, seine eigenen Meinung kundzutun. “Ein Geistesgestörter, dem sie zuhauf zulaufen, weil er ihnen Arbeit verspricht, aber er ist ein Irrer, merkt ihr es nicht, und es wird nichts Gutes dabei rauskommen.“ In der Nacht zum 1.September ’39 glühte das Abendrot bedrohlich wie nie, und überall auf den Angerwiesen, wo sie das letzte Heu einholten, sprachen sie einhellig, “Das ist der Krieg, Gott steh’ uns bei!” Und der Krieg kam, die Blitzkriege kamen, und der Scharfmacher im Dorf, der Besitzer des Radios mit seinem Dämon darin, spielte den Dorfrichter, den heimlichen Denunzianten. Und die Pichler-Töchter fielen ihrem Vater weinend ans Bein, “Vater, sei still, Du bringst dich noch ins KZ, dort drüben grad’ steht es, Mauthausen, bitte, wir bitten dich um alles in der Welt, sei still!” Und dann, es war Herbst ’43, tönte der Volkssender, “Feldzug Barbarossa”, und der Pichler-Vater hob die Hände vor’s Gesicht und blickte seine Frau ernst an: “Rosina, das ist unser Untergang. Jetzt hilft nur mehr Beten.” Und er erhob seine Stimme nicht mehr. Und dann, schon am nächsten Tag, kam die Einberufung fur seinen letzten übrig gebliebenen Sohn, Karl. Die Mutter segnete ihn mit dem heiligen Wasser auf die Stirn, und der Sohn zog mit Galgenhumor fort und blieb fortan sogar in der Laune des Briefschreibens. “Mir schießen die Blasen am Popo auf vom vielen Radeln.” Er hatte das Glück, an der Südostfront eingesetzt zu sein. Er stand nicht vor Moskau, nur vor Stalingrad, aber nicht drin, und er kam bei der Rückflucht auch heil aus Charkow zurück. Er überlebte wie durch ein Wunder. Was er erlebt hatte, ging nicht in die Familien-Chronik ein, auch nicht, ob er getötet hatte. Er kam 46, als die Welle der Siberiaken mit ihren struppigen Pferden bereits über den einsamen Weiler hereingebrochen und auch schon wieder weitergezogen war, weitergezogen, als kein Nationalsozialist mit dem Hakenkreuz am Revers zur Rechenschaft zu ziehen und nur wenige Frauen zur Befriedigung aller erdenklichen Gelüste zu finden gewesen waren – “Wo sind Frauen?”, so stellten sie den Pichler-Vater an die Wand seines Heustadels, in dem zwei der Töchter im Heu tief eingegraben lagen, so tief, daß sie nicht von spitzen Heugabeln zu erreichen waren; die anderen drei waren in der Au versteckt; die Mutter fällt dem rauhbeinigen Soldaten ins angelegte Gewehr: “Nehmt mich, nehmt mich, wenn ihr keine andere findet, aber erschießt um alles in der Welt nicht meinen Mann, ich flehe euch an in Christi Namen!” Und sie ließen ab von ihm und sie ließen ab von ihr. Und der Kommandant des Trupps, so wird erzählt, läßt den französischen Kriegsgefangenen, den abgemagerten, einen Insassen des KZ’s Mauthausen, der auf dem Hof als Knecht sich verdingen durfte, nach vor bringen und fragt ihn direkt ins Gesicht, auf Russisch, “Haben sie dich anständig behandelt?”, und der Franzose, bis über beide Ohren verliebt in Theresa, die älteste und heißblütigste der fünf Pichler-Schwestern, erwidert auf Französisch “Ja, es sind anständige Leute. Sie haben niemandem etwas zuleide getan!” Und die Russen blieben eine Weile auf dem Hof, schlachteten eine Kuh und ließen es sich gut gehen, eine Weile, und der Pichler-Vater, Michael war sein Name, mußte mitansehen, wie ein paar Tolldreiste sich nächtens vom Korps davonschlichen, um auf Fraujagd zu gehen, doch einmal wurden sie bei der Rückkehr ertappt, zur Rede gestellt und mit dem Gewehrkolben der eine niedergeschlagen, vom selbigen Kommandant, der seinem Vorgesetzten aufs Wort gehorchte: “Ihr habt 14 Tage Narrenfreiheit, und dann rührt ihr mir keinen Frauenarsch mehr an.” Und so zogen sie weiter, den Weiler in seiner zeitlosen Versunkenheit zurücklassend. Die Tochter konnten wieder aus ihren Verstecken, die Heimlichtuerei mit nächtlichen, herzpochenden Essensüberbringungen auf lautlosen Füßen hatte ein Ende, endlich! Und so kam also das Jahr darauf Karl zuruck, zu Fuß, wie sonst?, wie ein einsamer Nachtwandler, niemand vermochte zu sagen, woher und wie. Die Familien-Chronik erzählt nicht, wen er einweihte. Vielleicht sein späteres Weib. Vielleicht.

    Sein Weib hieß Anna, so wie seine vorletzte Schwester. Sie stammte von jenseits der Donau, aus dem Mittelgebirge, und war eine slawische Seele. Eine Matrone und Autorität, zeitlebens in ihrer Mitte bleibend. Sie kam auf den Hof und nahm ihn in Beschlag, zur Mißgunst der Schwägerinnen, die damit wußten, sie mußten fort. Neben dieser Frau hatte keine ein Auslangen. Anna war eine Matrone mit satter Stimme, stämmig und heiß bis in den Kern. Sie gebar ihrem Gatten neun Kinder, allesamt stattliche Kreaturen, von Lebenshunger erfüllt. Anna, so ging auf der Angerwiese unter den Altweibern schnell das Gerede, ließ ihren Mann auf dem Feld bestellen, er möge vom Traktor heruntersteigen, denn er werde zuhause gebraucht. Das war in den Augen der bigotten Unbeschadeten aus dem Dorf ein Frevel, was jene aber nicht weiter störte. Zeit ihres Lebens blieb Anna unangreifbar und ihre Würde ward nie in den Dreck gezogen. Neben ihr und der wurlenden Kinderschar blieb der Vater unauffällig. Doch das Glück war von kurzer Dauer. 1962 klagte er über Schwindel und Schwäche. Sein Schwager, Arzt, hilflos auch er, mußte die Diagnose bestätigen. In dieser Zeit schwebte der Erbsohn Pichler im Nebel der sprachlosen Sippschaftschronik. Dann, zu Heiligabend 1963, verröchelte er im Kreis seiner Familie und seiner Schwestern, allesamt fleinend, und alle hielten den Atem an. Der Krebs selbst blieb ein Erbgut. Er schlug einen sprunghaften Bogen zu einem Enkelsohn, einem von unzähligen, dieser Unglückliche wurde im zarten Alter von 18 von der gleichen Krankheit hinweggerafft, 40 Jahre später, während die Witwe Anna am Leben blieb, unangetastet, eine Autorität, doppelte Witwe, zwölffache Mutter, souveräne Volvo-Autofahrerin. Sie, sie zollte dem Leben Tribut, weinte, wie Matronen weinen, als man ihr telefonisch das Ableben des zweiten Mannes kund tat, und stand vom Boden wieder auf. Nach dem Unfall-Tod des zweiten Gatten, der von herabfallender Silostreu im Raiffeisen-Lagerhaus erstickt wurde, erkannte sie nie mehr einen Mann. Den Hof verkaufte sie bald darauf an die Gesellschaft der Kraftwerksbetreiber, als der Kanzler der Republik, der „Sonnenkanzler“, meinte, das Volk solle auch von Atomstrom leben. Doch dem war, wie wir wissen, nicht so. Anna, über Nacht durch höheren Beschluß reich geworden, zog aus dem Enns-Donau-Winkel fort, nicht weit, nur ans andere Ufer der Donau, nach Mauthausen, dorthin, wo die Menschen bis heute ruhig mit der Gedenkstätte leben; auf eine Anhöhe mit Blick auf den blauen, in Musik gefaßten Fluß. In welcher Welt ihre Kinder leben, allesamt selbst Väter und Mütter, wer vermag es zu sagen. „Wir leben alle inmitten von Dramen, und daran ist nichts zu ändern“, sagte jüngst ein Freund. Wie will ich ihm widersprechen? Gott steh‘ uns bei!

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