Die Kinder meines Lebens

Eine überfällige Würdigung, unter Schmerz und Dank

 

Da waren zuerst die Kinder aus dem Kindergarten. Jene, die dann auch mit mir in die Volksschule eintraten. Da war der schnelle Läufer Mayrhofer und auch der knorrige und bereits als Kind gefährlich muskulöse Gerhard Ortner aus der Russensiedlung in Herzograd. Und dann war da die Margit Koblinger, die ewig lächelnde, die mich als Erste aus der Heimat in Otorongo besuchen sollte. Das war bereits 2004, zu Dreikönig. Zum Abschied hinterließ sie mir ihre kleine Klangschale, die mit dem lieblichen Ton. Wir trafen uns nochmals in der alten Heimat ein paar Mal. Sie verlor ihre Arbeit als Ofensetzerin, weil der Betrieb eine Durststrecke durchmachte. So ging sie halt zu einem Fitnesscenter in Linz, wo man sie aufnahm. Nur ein knappes Jahr später erlitt sie einen Gehirnschlag, vielleicht wegen Überanstrengung in ihrer Arbeit. Die Margit in einem englischen Fitnesscenter. Wer von uns als Kind hätte gedacht, daß es so etwas einmal geben könnte. Die Margit, immer wieder ein Leuchtfeuer und immer wieder in den Zeremonien. Ich gab ihr später die Klangschale wieder zurück, als diese bereits gute 50 Zeremonien auf dem Buckel hatte. Die Margit brauchte diese ihre helle Schale. Sie wußte, wozu. Aber das Besondere waren die „Pastores“ zu Dreikönig im Dorf. Ich glaube, als sie die Fotos schoß, war da ein Gedanke, „Warum nicht immer hier bleiben, bei meinem Freund aus dem Kindergarten, der mir nie Böses antat?“ Das war bereits der erste bittere Verlust, ein unwiederbringlicher Verlust.

Im Kindergarten gab es noch eine fesche Braut, die Gertrud Schwarz. Die hatte eine Bubifrisur und nette Pausbäckchen, aber ihr eigentliches Markenzeichen war ihr Schalk. Wenn wir unser Nachmittagsschläfchen mit dem Kopf auf den gekreuzten Armen auf dem Essenstisch zu halten hatten, simulierte sie immer, so wie die meisten von uns, doch sie war die Anführerin. Es wäre ausgeschlossen gewesen, daß sie hier auf Befehl der geistlichen Schwestern hin schliefe. Sie, die Räubersbraut. In der Vierten kam es dann zu meiner ersten Desillusionierung in Sachen Liebe, als die Gertrud, es war die zweite Woche im neu begonnenen Schuljahr, mitten im Unterricht meiner heißangebeteten Lehrerin, der Eva Bock aus Puchberg am Schneeberg, die uns da aus heiterem Himmel zu meinem großen Gusto vorgesetzt worden war, einen Pfiff losließ, als Spaß, aus Lust, aus purer Lebenslust, und dazu gehört auch der Übermut, aber was ist daran übermütig, wenn man mitten im Unterricht mal einen  Pfiff losläßt, ja, warum nicht? Die Bock, keine 26, dreht sich also von der Tafel, auf der sie gerade geschrieben hatte, um: „Wer von den Buben hat da gerade gepfiffen?“ Die Bock verstand somit, ersichtlicherweise, keinen Spaß. Eine nette Braut, aber ihre Nerven waren, weshalb auch immer, gespannt. Nun, von den Buben meldet sich keiner. „Wenn sich keiner von den Buben meldet, müssen alle Buben eine Stunde nachsitzen.“ Wir haben die Schwarz nicht verpfiffen und blieben eine Stunde länger, denn die Bock machte Ernst. Damit hatte ich nicht gerechnet. Alle, auch die Mädels, wußten, es war die Schwarz. Aber wir verpfiffen sie nicht. Alle wußten, jetzt geschieht zum ersten Mal offenkundige Ungerechtigkeit. Offenkundig, gegründet auf einem Vorurteil und auf Humorlosigkeit. Ich hatte, zu allem Pech oder Ungemach, noch dazu Blockflötenstunde beim alten Niedermaier. Das Unbill war also garantiert, wie ein Mittagsgewitter. Meine Schwester Gabriele, die als vorzeitig Eingeschulte mit mir in dieselbe Klasse ging und selbstverständlich auch die Blockflötenbürde zu tragen hatte, kommt, wie vorhergesehen, nach 25 Minuten in die Klasse zurück. Ich wußte, mein Nichterscheinen beim alten Niedermaier war in dessen Augen ein Skandal. Die Gabriele, was blieb ihr denn anderes übrig, erzählte ihm somit alles brühwarm. Sie blieb bei der Wahrheit. Besser so. Der Niedermaier, der schon in den fortgeschrittenen Siebzigern stand, trug der Gabriele somit auf, was sie der Bock gegenüber zu erklären hatte: „Wenn dieser Unsinn mit dem Nachsitzen nicht sofort aufhört, erscheint er beim Direktor. Die Frau Lehrerin hält einzelne Buben von der Blockflötenstunde ab.“ Meine Schwester bringt  das also wie eine Sprechpuppe vor. Die Bock erblaßt und wird dann rot. Alle dürfen zusammenpacken. Doch die Sache hatte ein Nachspiel. Einer der Väter ging echauffiert zu Mosek, dem gestrengen, zumeist grimmig dreinblickenden Direktor. Die Bock schrammte haarscharf an unangenehmen Maßnahmen vorbei, obwohl sie sich noch am nächsten Tag mit zitternder Stimme bei uns entschuldigte. Immerhin! Ich glaube, sie wurde dann am Ende des Jahres oder etwas später versetzt. Sie lebte zur Untermiete in der Feldstraße. Ich habe meiner ersten Liebe nie eine Träne nachgeweint. Was aus Gertrud Schwarz geworden ist, weiß ich nicht.

Wolfgang Jesina habe ich schon beschrieben. Er war der Couragierteste. Er wollte den beiden Hablesreitern das Leben retten. „Das hier ist nicht gerecht. Er bringt sie um. Wer weiß, ob er nicht auch uns umbringen will.“ Das war auf den Direktor gemünzt. Der Direktor lebt noch heute, in seinen 90ern. Die beiden Brüder sind seit 40 Jahren tot. Später habe ich kurz vernommen, er arbeitet bei den „Oberösterreichischen Nachrichten“. Seine Mimik bleibt mir unvergessen. Dieser schmalgesichtige, hellsichtige, verdeckt lächelnde Fuchs! Wenn der Jesina dachte, machte er Kaubewegungen. Das fand ich sehr sympathisch.

Sein Pendant war der nächste Wolfgang in der Klasse. Mein Nachbar aus der Siedlerstrasse. Mit Wolfgang Wiesinger verbindet mich viel, und mit ihm habe ich Reue und Treue gelernt. Jahrzehnte später habe ich begriffen, was ich ihm in meiner jugendlichen Gier angetan hatte. Doch immerhin, mit ihm und seiner jüngeren Schwester Renate legte ich den „Schatz im Silbersee“ an. Der Wolfgang war tiefgründig. Er hatte immer schwarze Schatten unter den Augen. Er war früh entwickelt. Er litt unter seiner Mutter, die ihn anschrie, wenn er etwas am Lernstoff nicht begriff. Es drehte mir immer den Magen um, wenn ich sie von der Straße hörte. Es blieb mir immer unbegreiflich, wie eine Mutter, nur weil der Sohn eine Lächerlichkeit nicht begreifen wollte, derart ausfällig werden konnte. Der Wolfgang ging später zur Bahn, dorthin, wo schon der Vater sein Leben lang gedient hatte. Vor einem guten Jahr traf ich die Mutter bei einem Heimaturlaub im Supermarkt wieder. Sie erschien mir ganz und gar nicht gealtert. Der Wolfgang, so ihre Nachricht, in Frühpension aus Invalidität. Ich schluckte traurig.

Der Werner, der grade Michl, ging zum Militär. Seinem Vater kam das Verdienst zu, mir die Faszination des Schach mit zu übertragen. Der Hans, mein bester Spielkamerad, wurde früh Vater, heiratete eine von den Evangelischen, legte sich mit dem Bischof an und trat von den Katholen aus. Er wurde Psychotherapeut. Die Ingrid, die zweite Nachbarin und Spielgefährtin, wurde in derselben Volksschule Lehrerin. Das scheint wohl verborgenes Gesetz zu sein. Irgend eine/-r bleibt kleben. Die Ingrid verlor früh ihren Vater und pflegt bis heute aufopferungsvoll ihre Mutter. Auch sie hat’s nicht leicht. Und von meiner Banknachbarin, der Ingeborg Pointner, der Lachsalve, habe ich nie mehr etwas gehört. Das alles verliert sich im Nebel. Goldene Zeiten, als am Hauptplatz beim Wirten noch Schweine auf dem Misthaufen herum gruben. Welch göttlicher Geruch. Und am Samstag um 12 der Probealarm der Sirene, direkt auf unserer Schule. „Hurra, die Schule brennt!“ Der letzte Film unseres Dorfkinos. Die Schule hat nie gebrannt. Innen schon. Draußen nie. Eine Institution, so wie alle Schulen. Ein unvermeidlicher Posten auf der Todesrennstrecke. Was hab ich nicht alles dort gelernt.

Gelernt habe ich zu laufen, wie Forrest Gump. Freitag hatten wir immer schon um elf aus. Der Pankratz Fritz und ich, wir rannten nach Kräften nach Hause. Denn um elf gab es im Schichtarbeiterprogramm die Serie „77 Sunset Strip“. Der erste Polizeifilm. FBI. Wir rannten uns die Lunge aus dem Leib. Der Fritz war später mein Tauchpartner im Freibad. Wir hatten die Lungen. Wo nur hat es ihn hin verschlagen? Sein älterer Bruder Ossi brachte auf jeden Fall das Kunststück zuwege, sich eine echte Indianerin aus Fort Lauderdale zu angeln und sie dann in unserem „Kuhdorf“ vorzuführen. Das raubte mir den Atem, und solches geschah nicht zum ersten Mal. So war die Traumzeit.

Und das war einmal ein Anlauf.

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  1. Die Lerchenstimme

    Robert Kneidinger war ein schmalgesichtiger Bub, so wie wir alle, die ins Gymnasium überwechselten. Und auch er war noch ein Kind, wie wir alle. Er hatte etwas Unbekümmertes, eine Naturerscheinung der Fröhlichkeit. Wir hatten uns erst zu finden in diesem fünften Schuljahr in der für Buben vom Land großen Stadt. Einer wohnte sogar im Internat, Jonny. So etwas war für mich unvorstellbar. Es hat ihm jedoch nichts ausgemacht. Er wurde später ein diskreter, zurückhaltender Richter. Von den damalig neu Eintretenden sollten schlußendlich nur wenige an dieser „Bildungsanstalt“ in Linz, dieser mit der immensen Hypothek nationalsozialistischer Geprägtheit beladenen Institution, maturieren. Jonny war der einzige, der die acht Jahre neben mir blieb. Doch wir saßen nie nebeneinander.

    Robert Kneidingers Spuren seinerseits verloren sich früh, ich weiß nicht, warum. Das stimmt mich traurig. An dem Buben war einiges bemerkenswert. Er lächelte praktisch ständig. Er hatte strahlende, reine, nußbraune Augen, und vom ständigen Lächeln zwei unübersehbare Grübchen in den Wangen. Er bewegte sich hüpfend und unbekümmert. Sein ganzes Wesen war eine einzige Botschaft an die Erwachsenen: „Das Glück des Lebens“. Glücklich, wer am Leben ist. Was muß Robert Kneidinger für eine liebevolle Kindheit verbracht haben! Er gab uns spontane Gesangsproben, einfach so. Volkslieder. Wanderlieder. Seine Stimme war glockenhell, klar und fröhlich. Er sang mit voller Kraft, unbekümmert, hell hinaufgetragen, den Sinn des Besungenen durchlebend. Er sang nicht einfach eine Strophe herunter. Er ersang sich ständig aufs neue den Sinn des Besungenen.

    Der liebliche Robert Kneidinger traf auf einen Musiklehrer, der mir für ein Jahr eine Nemesis werden sollte, die wahre Verkörperung eines mit Absicht verdeckten Sadisten, der geplagt war von dem Vorurteil, als verkanntes musikalisches Genie an einem Gymnasium Musik unterrichten zu müssen. Der Name des Herrn ist unwesentlich. Seine Manieren waren arrogant, blasiert und exzentrisch. Sein eigenartig anmutender Unterricht fand im Musikzimmer statt. Dort spielte er uns Symphonien vor, die „Moldau“ von Dvórâk und die „Symphonie aus der Neuen Welt“. Dieser Lehrer erklärte uns den Aufbau präzise und war somit leicht verständlich. Doch irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Der Mann fühlte sich, es war ihm an jeder Bewegung und jedem Wort, das immer eine Anspielung beinhaltete, anzusehen, deplaciert. Er wußte nichts mit uns anzufangen. Wir waren ihm lästig. Wir waren nicht sein Publikum. Irgendwann, eines Tages, als der Unterricht strukturlos dahinschlenderte und wir eigentlich zu einem losen Haufen mutiert waren, faßt er sich den Kneidinger, von dem er weiß, er kann singen, heraus, er möge doch etwas vorsingen. Der Robert geht erfreut nach vorne, sich der Gelegenheit bewußt, auch wenn sie unvorhergesehen kommt. Er schmettert also, vor der grünen Tafel stehend, ein Lied mit seiner Lerchenstimme. Alles an ihm ist Hingabe. Sein Gesicht leuchtet. Die reine Freude. Er singt sein Lied, auch wenn er weiß, eigentlich ist die Gelegenheit aus dem Zusammenhang gerissen. Denn der Lehrer empfindet nicht dieselbe Heimatliebe wie er, der Bub. Ich lausche ergriffen, weiß aber gleichzeitig, die Absicht des Lehrers ist eine ganz andere. Der Robert beendet und macht einen kleinen eingeübten Nicker vor einem imaginären Publikum. Der Lehrer kommentiert: „Damit hast du dir deinen Einser fürs Jahr verdient, Robert.“ Der Robert konnte somit untertauchen. Ich jedoch nicht. Diesem Lehrer paßte irgend etwas an mir ganz und gar nicht, und das machte er mir deutlich mit einem Zerstörungsversuch, der schlimmer nicht sein hätte können. Ich brauchte Jahrzehnte, um zu realisieren, was es eigentlich war. Im nächsten Jahr war der Lehrer verschwunden und Musik als Unterrichtsgegenstand ebenso. Eines der vielen verstörenden Details in jenem verseuchten Gebäude, das Adolf Hitler, Adolf Eichmann und August Eigruber als Schüler gesehen hatte.

    Der Robert hat mir etwas mitgegeben, etwas ganz und gar Wesentliches und für ein Leben, ja, ein Leben, Nachhaltiges: Den Sieg der unverdorbenen Lebensfreude über den Haß. Ein erschreckender Kampf zwischen einem vom Himmel gegebenen Talent und dem Bösen, das den Gesang mit jeder Faser seiner Giftzunge zerstören will. Das Erleiden dieses Kampfes lähmte meine Zunge auf Jahrzehnte. Er war der Grund meiner Traurigkeit. Doch ich wußte nicht, woher. Lange Zeit meinte ich, ich hätte nie einen haßerfüllten Menschen getroffen. Ich irrte als Frohnatur. Ich wußte auf einer verborgenen Ebene, Kinder werden gemordet. Das raubte mir die Stimme und ließ mich nur mehr krächzen, stammeln oder weinen. Erst im Dschungel lernte ich auf Anleitung eines wahren Meisters wieder zu singen. Ich begriff die Herkunft meiner profunden Verstimmung nach und nach. Heute, da ich des unvergeßlichen Robert Kneidinger gedenke, der vielleicht nur für zwei Jahre meine Wege kreuzte, erst recht. Welche Untiefen aus einer grauenerregenden Zeit, in der die Angst für Jahre geboren wurde.

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