Die ruhigste Zeit

21.Dezember, Winterbeginn. Vorgestern war Vollmond. Der Mond geht um 19 Uhr mächtig auf, direkt in der Verlängerung der Gonzales Prada. Ein regenreiches Jahr, das nahtlos in die Regenzeit überging. Auch ein seltsames Jahr. Die Nachtvögel machen sich rar, auch Frösche und Kröten. Dafür eine überquellende Baucar-Webervögel-Kolonie in der mächtigen Kastanie. Bemerkenswerter Friede am Hühnerhof. Der zweite Leithahn, der grauweiße, am Morgen tot im Hühnerhaus, Skorpionstich. Bemerkenswertes Skorpionaufkommen jedenfalls. Weitere Anomalie: Die gelben Stuben-Wespen bauen vermehrt Nester an Holmen, alles in Menschennähe, in deren Hütten. Die Küchenschaben ihrerseits mausern sich zu echten Trümmern. Die katerlosen Kätzinnen freuen sich über die Ankunft des Jungspatzes Dorian. Aus dem kleinen Matz wird wohl in absehbarer Zeit ein Frechdachs. Dann, endlich, gibt es kein fruchtloses Mautzen mehr von traurigen Kätzinnen in der Rolle. Das heurige Jahr war ein fruchtbares Jahr. Alle haben gelernt. Praktisch die gesamte Bevölkerung ging durch dieses exzentrische Virus. Sie nehmen es als Grippe, somit als Naturzustand. Das raubt niemanden die Fassung. Die Todeswelle schwappte schlagartig ab. Die Menschen in unserem Dorf beschäftigt Anderes: Das schnelle Altern und das persönliche Abfinden damit. Mehr denn je leben die Menschen hierzulande im Moment. Mehr denn je in der Musik. Auch die Alkoholleichen wurden weniger. Der eine alte Bettler, meiner, starb zwischendurch, ohne Aufheben. Ein paar Fürsorgliche bescherten ihm ein nächtliches Flußbegräbnis, mit stiller Genehmigung der Polizei. Auch Luis Panduro, mittlerweile 12 oder 11-facher Vater, wurde über Nacht grau. Alle halten inne. Alle fragen sich, was wird hier überhaupt gespielt? Kann es sein, daß dieses Dorf eines Tages wieder verschwindet? Doch niemand bringt sich deshalb um. Die Musik muß alles auffangen. Erstklassige Lieder. Wahrhaftig: Die Musik genießt in Peru eine Heimstatt. Dutzende von Ohwürmern. Die Frauen trällern mit. Die Jaguare im Wald lassen sich zum Glück nicht ausrotten. Mit der Kakaoplantage haben sie eine nette Spielwiese gefunden (2 mal 9 Kilometer…). Wettertechnisch, um es nicht zu vergessen, dürfen wir vermelden, die Klimakatastrophe hält sich in Grenzen, es gab nur 2 Tage mit 35°, angeblich, denn wer denn schaut hierzulande auf ein inexistentes Thermometer?, das also im September. Der Rest Regen, Gewitter, Blitz und Donner und zur Feier des Tages jüngst ein Erdbeben, eine geschlagene Minute lang, lang genug jedenfalls, um die Frauen doch in Panik zu versetzen. Padre Ivan, der weißhaarige, dünne Kanadier, leidet sichtlich an Gedächtnisschwund. Seine Kirche leert sich immer mehr. Es ist traurig mitanzusehen. Die Kirche verliert im Eiltempo ihre Stimme. Die religiös gestimmten Menschen emigrieren. Die Schwindsucht der katholischen Kirche ist eine ernstzunehmende Krankheit. Ein Naturgesetz. Wie die Rache der Natur. Sie hat das letzte Wort. Mutter Erde verschlingt alles, auch das modrige Holz der Kirche im Dschungeldorf. Zurück bleibt, vielleicht, eine Glocke im Busch, in hundert Jahren. Zu einer Zeit, wo auch die paar eisernen Kreuze am Friedhof längst wieder überwuchert sein werden, und niemand, absolut niemand, mehr wissen wird, wer Don Walter Munjoz und Don Hilario Medina (beide mit 94 gestorben) gewesen waren. Zu einer Zeit, wo ich, vielleicht, Herrn Agustín Rívas Vásquez auf himmlischer Spielwiese antreffen werde, ihn, jenen, der seinen hintergründigen Humor niemals verlieren wird, komme, was da wolle.

(In memoriam Leonard Cohen)

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  1. Die geweihte Nacht

    2021. Üppiger Regen. Bewölkter Himmel. Die Zeit steht still am Ufer des Río Amazonas. Alle wenden ihre Köpfe zur Seite. Alle schlafen auf den Booten. Beinahe alle. Der graue, dunkle Himmel verdeckt jeden Anflug von Sonne. Das trägt zum Eindruck der Zeitlosigkeit bei, so wie in der Welt der Bufeos, der Flußdelphine, von der die „Wassergeher“ sagen, sie ähnle einer amerikanischen Großstadt, und wo die Sonne niemals sichtbar wird. Eine Welt in Grau, doch ohne Grauen. Eine Welt, in der Geld nicht existiert, und alle Personen, die einem begegnen, nicht Menschen sind. Es wird Zeit, Innenschau zu halten. Ab Heiligabend, bis Silvester. Die letzte Woche des Jahres gehört traditionell den Toten. Zurecht. Denn irgendwann verschaffen sie sich Gehör, inmitten der Hölle des Lärms. Die Toten sind mächtiger als die Lebenden. Erst bei den Toten ist es gestattet, von „Macht“ zu sprechen. Die Toten lügen nicht. Und mehr noch: Sie sprechen von Wahrheiten, die uns zutiefst erschüttern. Von Wahrheiten, die uns sprachlos staunend zurücklassen, doch nicht erdrückt. Die Toten, unsere Toten, bringen sich in Erinnerung. Sie bringen sich in Erinnerung, weil es der Totenwächter ihnen gestattet. Das Gesetz des Totenreiches, eingelagert in das Himmelsreich. Ein Totenengel gewährt ihnen mit einem Fingerzeig ein Wort, gerichtet an uns Lebende. An einen von uns. Ein Wort wie etwa: „Bedenke!“ Und so denke ich zurück. Der Geist führt mich zurück. All diese Worte. Unhaltbare Worte. Erst der Tote wird mir endgültig sagen, was in der Ewigkeit Bestand hat.

    Christus, der Gesalbte, der Erlöser, kam also zu uns. Gott wurde Mensch. Das läßt mich innehalten. Dankbar innehalten. Ich kann mit dieser Wahrheit leben. Ich brauche kein „X-mas“ und keinen „Santa Claus“. Ich brauche diese Verbrechen nicht. Ich steige aus dem Terror aus. Ich ziehe mich wie Freund Dieter für 14 Tage ins Kloster zurück. Von Heiligabend bis Dreikönig. Ich bete und schweige. So steige ich aus dem Terror aus. Ich versenke mich in diese Wahrheit. Gott wurde Mensch. Ein Versöhnungsakt sondergleichen. Versöhnung wofür? Für diese scheinbare Todesverdammung. Für die Vertreibung aus dem Paradies. Mit der Vertreibung aus dem Paradies kam der Tod in die Welt. Globaler Tod, der nicht zu ermessen ist. Kein einziger der 115 Milliarden Menschen, die auf dieser Erde einen Menschentod gestorben sind, ist stofflich verschwunden, und sei es atomare Plasmahitze. Nichts verschwindet. Es löst sich nur auf, wird unsichtbar. Doch meine Erinnerung bleibt immer unsichtbar. Meine Gedanken bleiben immer unsichtbar. Von den meisten meiner Gedanken merke ich nicht einmal etwas. Meine Kinder fragen mich mehrmals am Tag: „Papi, was denkst du gerade?“ Eine Frage, für die ich immer, immer, dankbar bin. „Ich denke gerade darüber nach, was Haß ist, Elias.“ „Ach ja.“ „Papi, was denkst du gerade?“ „Ich schäme mich gerade abgrundtief für mein Mördertum, Michael.“ „In Ordnung, Papa.“ Christus also, der Erlöser, erlöste uns von ewigem Tod. Das leuchtet mir ein. Das ist eine Grundwahrheit, die auf ewig lebensfähig bleiben wird. So wie der Jahrhundertsatz des Polen Wojtyla: „Das Schicksal des Menschen ist es, ewig zu leben.“ Das ist mein Satz Nummer Eins. Ein Jahrhundertgeschenk. Ein Lebensgeschenk. Und der zweite Satz, von einem Heiligen unter Tränen mir gegenüber in hell erleuchteter Kapelle geäußert: „Gott liebt Sie mehr als Sie es sich jemals vorstellen können!“ Die Saat dieses Ausspruches von vor sechs Jahren ist heuer aufgekeimt. Damit ist Friede eingekehrt. Der Friede (wenn schon nicht die Freude) des Kindseins. Ein bißchen Konzentration ist also von Nöten. Ein bißchen Geistesgegenwart. Ein bißchen Kunst. Kunst! Die Rettung kommt von alleine. Dann, wenn die Posaunen erschallen.

  2. Kriegerdialoge

    Rückschau auf die Reden meines Lehrmeisters. Weiter, umfassender Rückgriff.

    „Von Ignoranz können Sie nur sprechen, wenn Sie Gewußtes ignorieren. Der Begriff, auf den Sie sich beziehen, Doktor, ist „Verblendung“. Wir könnten auch sagen: Aufgeblähte Selbstvoreingenommenheit. Blasen Sie sich im Übrigen nicht auf, weil ich von „aufgebläht“ spreche.“

     

    „Deine Hauptschwäche ist Hysterie. Über sie stolperst du regelmäßig. Und du bist im Unrecht, wenn du meinst, du hättest ein Anrecht auf sie.“

     

    „Du weißt sehr wohl, woher deine Hysterie kommt. Darüber brauchen wir kein Wort verlieren.“

     

    „Du wanderst tatsächlich wie der heilige Franz von Assís durch den Wald von Yushintaita. Offenkundig mögen sie dich.“

     

    „Ich bin dem Chullachaqui nur ein einziges Mal begegnet. Das hatte es jedoch in sich. Dann, etwas später, galoppierte er wie ein Postbote, der sich das Keppi am Kopf festhalten muß, am Waldrand meines Imperiums der Jugend entlang und vorbei. Ich rief ihm nach: „Onkel, bitte, Einhalt!“ Doch er hatte kein Erbarmen mit mir. Seltsam, daß er mir seine Gunst dermaßen vorenthält. Was meinst Du? Wieso wohl?“

     

    „Christus steht ganz oben. Dann kommen die Engel, mit deutlichem Respektabstand. Mindestens einen Meter darunter. Und dann die Heilgen, die Märtyrer. Die, die für ihren Glauben an Christus gestorben sind. Ich bin kein Heiliger. Nicht einmal heiligähnlich. Mich suchen Sie besser in den unteren Regionen.“

     

    „Siehst du, Kind, so sind die Gringos. Sie stehen vom Essen auf, ohne sich zu bedanken. Gleich geht dieser Gringo auf die Toilette. Dort wird er durch den Boden brechen.“ (Und so geschah es)

     

    „Ich trinke Ayahuasca, um in Form zu bleiben. Unter anderem. Ich habe eine anspruchsvolle Frau im Bett, die ausführlich bedient werden will.“

     

    „Ich werde meine Meinung zum 11.September nicht preisgeben. Ich bin doch nicht lebensmüde und lasse mir Yushintaita innerhalb einer Sekunde mit Napalm anzünden.“

     

    „Ayahuasca ist eine exquisite Folter. Warum? Weil wir es nicht anders verdient haben. SIE haben es nicht anders verdient.“

     

    „Ich trage die Nerven eines Toten in beiden Armen in mir. Dort drüben lag der Leichnam.“

     

    „Hexer meiden einander aus gutem Grund. Das ist Naturgesetz. Diese Art von Gesetzen findest du überall in der Natur. Und wenn sie einander nicht mehr ausweichen können, schlagen sie sich gegenseitig die Schädel ein. Selbst Petrus und Paulus konnten ein Lied davon singen. Die Frauen sind sogar noch schlimmer. Sie lassen Henker für sich arbeiten.“

     

    „Deine Vorliebe für Messer ist aufgesetzt, Doktor. Du weißt selbst nur allzu genau, sie passen nicht zu dir. Das Kreuz übrigens auch nicht. Mach dir nichts vor, Doktor. Na gut, du weißt es ohnehin bereits. Was brumme ich noch herum?“

     

    „Im Krieg bist du nicht du selbst. Beim letzten Kriegszug führte ich unsere Krieger an. Ich mit meiner Kriegslanze und den drei Schädeln dran. Die Männer rannten alle schreiend von mir weg. Ich war in diesem Moment ein Monstrum.“

     

    „Die Franzosen in der Botschaft benutzten meine Werksstücke als Bücherschelf. Welche Anmaßung! Welche Geringschätzung! Welch ein Affront! Die stolzen Franzosen! Ich habe alle Skulpturen eigenhändig weggeschafft. Das war eine Tortur. Dann, in einem Park, trat ich in Hungerstreik. Das Fernsehen kam mich interviewen. Als die einfühlsame, staunende Reporterin wieder weg war, schwebte ich den Baumstamm, an dem ich angelehnt da kauerte, hoch.“

     

    „Mein Jahr bei den Yaguas war geheimnisvoll. Ich habe unter anderem gelernt, daß nicht nur Katzen 7 Leben haben, sondern auch Kröten. Eigentlich nachvollziehbar bei dem Gemüt, das sie tagein, tagaus zeigen, erst recht bei Regen.“

     

    „95% aller Peruaner gehören liquidiert. So zumindest hätten die Inkas gehandelt.“

     

    „Jergón und Majás kauern gemeinsam in der Höhle des Majas, die dieser gegraben hat. Der Jergón kommt immer als Untermieter. Dann, nächtens, bei Regen, grummeln sie. Nur der Teufel weiß, was sie dann einander erzählen.“

     

    „Geld ist nur Papier. Die Ratten in Cusco und noch höher sehen es als Papier. Du weißt ja, sie fressen alles, erst recht Papier, das behandelt und bedruckt ist. Sie ziehen das Papiergeld den Zeitungen vor. Wegen der Lügen. Kluge Geschöpfe. Wir können von allen Lebewesen lernen, auch von Küchenschaben und Skorpionen.“ „Wie wahr, Don Agustín! Meine Pater Pio-Biographie wurde zu einem Zehntel von den Cucarachas vertilgt, drinnen, in der Bibliothek, und apropos Skorpion: Tatsächlich, mit dem Kerl kann man reden, Don Agustin!“ „Nur, wenn du kein Verbrecher bist. Der Skorpion ist ein Eigenbrötler. Er mag Trockenes, Holz und Warmes. Diesem Gesellen kann es nicht warm genug sein, besonders nächtens. Er frißt Ungeziefer, besonders Würmer und Tausendfüßler, Cucarachas und Nachtfalter. Die mit Vorliebe. Mittlerweile weißt du ja zur Genüge, daß du deine Stiefel in der Früh ausschütteln sollst, bevor du sie anziehst. Da fällt gern was raus.“

     

    „Ich habe alle Präsidenten beraten, auch den Militärdiktator. Das war ein gute Zeit, damals. Nicht wie heute, wo wir alle Zukunft moralisch verspielt haben.“

     

    „Die Inkas waren begnadet. Sie verstanden sich darauf, Tonnen von Wasser durch die Luft zu transportieren. Ihre Geheimnisse sind bis auf den heutigen Tag nicht entschlüsselt. Der heutige Mensch ist zu chaotisch, um sich darauf einzulassen.“

     

    „Die Nodriza ist ein Raumschiff, 10 Kilometer im Durchmesser. Sie können Gift darauf nehmen, diese Leute wissen, wann wir hier in Yushintaita Zeremonien feiern. Diese Leute gehören mit zu jenen, die eines Tages entscheiden werden, daß es genug ist.“

     

    „Atlantis war eine Supermacht. Sie hatten sogar Atomwaffen. Doch sie lästerten Gott, auch, weil sie sich Sklaven hielten, die Lemuren. So führte Gott eine Weltkatastrophe in Gestalt eines Asteroiden herbei. Das war 27.000 Jahre vor Christus.“

     

    „Im Kosmos gibt es viele Planeten, die von ihren sogenannten Herrschern mutwillig zerstört wurden.“

     

    „Michael Jackson hätte zu mir kommen wollen, doch der Tod war vor. Der Dalai Lama auch, wegen seines Darmkrebses. Irgend jemand in seinem Umkreis wird ihm wohl davon abgeraten haben. Verständlich.“

     

    „Wenn ich eines Tages sterbe, werde ich euch berichten, wie es drüben ist. Auf jeden Fall wird es jede Vorstellung sprengen.“

     

    „Niemand weiß, wer ich bin, nicht einmal ich selbst.“ „Bereitet Ihnen dies Schwierigkeiten?“ „Selbstverständlich! Wie denn nicht? Doch die Schredderanlage des Allmächtigen mahlt unerbittlich und unermüdlich. Vor Gott hat sogar der Teufel Angst. Zumindest denke ich manchmal so. Wie also sollte ich nicht vor mir selbst Angst haben?“

     

    „Der Chullachaqui, so denke ich manchmal nachts, was muß er fühlen angesichts des zerstörten Waldes? Was wird seine Rache gegen all die Räuber sein?“

     

    „Die Menschen meinen, sie wären die Herrscher des Planeten. Sie könnten sich alles erlauben. Doch die Erde wandert, am Gängelband der Sonne. Die Sonne selbst wandert. Es genügt, was ich sehe. Die Via Lactea. Die Sonne durchwandert reine, unbescholtene Sphären. Dort herrschen Mächte, die die unbeschreibliche Verdreckung unseres Planeten und seine Verstrahlung nach außen nicht hinnehmen werden. Sie gewähren dem Planeten bzw. den Verursachern keinen Einlaß in diese Sphären. Sie werden den Planeten abbürsten. Nur die Gerechten überleben, rechtzeitig woanders hingebracht. Mein Verbündeter hat es mir bereits vor Jahren angekündigt. Das ist die Apokalypse, sagte er.“

     

  3. Silvester 2021

    Die letzte Zeremonie des Jahres. Zuvor Altjahresbesuch bei Herrn Rívas. Der Weg nach Yushintaita kaum mehr wiederzuerkennen. Ein Weg der Erinnerungen an 14 Jahre nächtlichen Marschierens oder von Motorradfuhren mit Don Cecilio, dem Bäcker. Der Meister wurde heuer 88. Sein Gedächtnis nach wie vor intakt. Charápa Máma, das Teichanwesen, eine Idylle von Paiche-Fischen, Gamitanas, Schildkröten und Enten. Alles wirkt wie im verschachtelten Zwergenland. Hüttleins, Stege, Öfen, Unterstände. Aus dem Nichts telefoniert der Meister mit einem Uralt-Taschentelefon mit einem Freund in Buenos Aires. Keiner fragt sich, wie geht das zuwege, hier, mitten im Dschungel, abseits von aller Technologie? „Yushintaita ist abgebrannt, vor drei Tagen, Doktor. So endet alles. Der Blitz, wenn er spricht, läßt alle schweigen. Er läßt die Leute vergessen, daß sie überhaupt sprechfähig sind. Dasselbe, wenn wir sterben. Alle ziehen denselben Weg zurück, im völligen Schweigen. Ich hätte schon letztes Jahr sterben können, doch ich wollte noch nicht. Ich habe mich wie eine Schildkröte von Salat ernährt. Und Ersticken wollte ich um keinen Preis. Meiner unwürdig. Immerhin kann ich behaupten, einem der Geheimnisse von la Madre auf die Spur gekommen zu sein. Ein Braugeheimnis. Ein Fingerhut genügt. Wie visionär! Vergiß nicht auf mich, bitte auf demnächst, wir haben noch etliches zu besprechen. Du solltest mich einweihen, wie du die Sache anpacken willst. Gott jedenfalls läßt mit sich reden. Das Cascavél-Baby hat dich gebissen? Du Glücklicher. Und der Skorpion noch dazu? Direkt nach Ayahuasca? Ja, so ist Gott. Er schickt seine Botschafter, seine Tierchen. Du erinnerst dich, wie es mir damals, Ende der Siebziger muß das gewesen sein, wie mich die Tarantel biß, wie es damals war? Und dazu ein Weltuntergangsgewitter, sodaß die Felsblöcke zu rollen begannen. Ich erbrach mich von oben bis unten, dampfte im Fieber und mußte danach trachten, nicht Hab und Gut in der Sintflut zu verlieren, grade nicht mein Gewehr und die Patronen und die Taschenlampe mit den Batterien. Das war damals Gebirgswildnis. So begann dieses Jahr damals, als mich der Herr an die Knute nahm. Ich war die zwei Nächte mehr drüben als herüben. Jedenfalls wachte ich nach der zweiten Nacht im Sturm auf, als alles vorüber war. Ich mußte meine sieben Sachen zusammensuchen. Teilweise vom Wasser weggetragen. Ich hätte leicht irgendwo abstürzen können, geschwächt vom Fieber, wie ich war. Wie wild damals alles war! Und dann die Gorillas in der Zeremonie. Sechs mächtige Gorillas mit Kohlenaugen, rot. Angst hatte ich nie. Ich roch es jedes Mal, wenn der Tod im Anrollen war, egal, ob ich auf Lastwägen mitfuhr oder im Flugzeug. Die alten Propellerflugzeuge. Du weißt schon. All die Geköpften. Oder die frisch gestrichenen Silos. Wumm. 20 Anstreicher auf einen Schlag tot. Eine simple Zigarette genügte. Ich ging rechtzeitig in Deckung. Wumm! So war es auch damals mit dem Asteroiden. Den Atlantern verschlug es die Sprache. Sie konnten nicht glauben, was sie in den letzten Sekunden ihres Lebens sahen. Gibt dir das zu denken? Natürlich gibt es dir zu denken. Wir ziehen am selben Strick. Du denkst dasselbe wie ich, und umgekehrt. Du fragst dich, ob der Tod Triumph kennt. Natürlich kennt er ihn nicht. Gott ja auch nicht. Denkst du, Gott kennt Zorn oder Rache? Kein größerer Unsinn! Wenn er überhaupt etwas kennt, dann vielleicht Barmherzigkeit. Er in seiner Unendlichkeit. Dann, wenn wir mausetot und im nächsten Moment zu Asche zerfallen sind. Und sich niemand, absolut niemand, mehr je an uns erinnern wird. Wie sagen die Dichter?“ „… und der Rest ist Schweigen.“ „Ja, der Rest ist Schweigen. Nur die Vögel bleiben, und die Grillen.“ „Und Freund Frosch.“ „Ja, Freund Frosch. Die Ayahuasca-Frösche von Yushintaita. Und all die besinnungslos Betrunkenen, die in der Kloake aufwachen. Von Glück können sie reden, wenn sie sich nicht selbst besudelt haben. Meinst du, Christus besudelte sich selbst ab der Gefangennahme in Gethsemani, Doktor?“ „Es war Weltuntergang, Don Agustin. Er war eine Fleischmasse.“ „Ja, du sagst es. Der Herr verzeihe mir meine Frage.“ „Ich glaube jedenfalls, es war der finsterste Tag in der Geschichte der Menschheit, Don Agustin. Unvorstellbar. Ich hätte das sogar als Zuschauer niemals überlebt.“ „Da hast du wohl recht. Atahualpas Todestag war ein Schmarren dagegen. Bei seinem Garrottentod gab es kein Erdbeben. Zumindest wurde nichts berichtet.“

    Arapaima im Aquarium des Kölner Zoo.

  4. Unwiederbringliche Momente

    Nur ein einziges Mal (ein einziges Mal im vergangenen Jahr!) flog der Aymama ins nächtliche Anwesen, drehte seine Runde, dabei klagend rufend. Es war eine Mondnacht. Er klagte und rief. Niemand und nichts antwortete ihm. Wir lagen alle wach. Es war gegen 23 Uhr.

    Es gab keinen Blitzschlag, auch nicht in der Nähe. Auch keinen gefährlichen Baumwurf, nirgendwo. Es gab keine Anaconda-Sichtungen, nicht einmal erzählte, und auch keine Begegnungen mit dem Buschmeister, dies allerdings im Gegensatz zum vorvergangenen Jahr, wo die Bestie sogar ins Dorf kam, zur Wasserpumpe, wo sich scheinbar noch Kröten im Übermaß finden.

    Anfang Dezember hingegen hatte Bray Llucema auf der Langbrücke der Colpa, dort, wo Otorongo bereits begonnen hat, eine unvergeßliche Begegnung mit einem Waldteufel, ganz wie er in den Legenden beschrieben wird, Zyklopenschädel, das Ganze am Vormittag. Zotteliges Braun, kräftigste Stierbeine, die ihresgleichen suchen, allergrößte Behendigkeit. Ein Dimensionseinbruch sondergleichen um 10 Uhr vormittags, völlig unvorhergesehen natürlich, doch es hatte sich in Ayahuasca bereits abgezeichnet. Das inmitten komplexer Virussituationen allüberall.

    Vampirfledermäuse, die eindeutig die Unterredung mit dem Menschen suchen, das mitten im Dorf.

    Und immer noch niemand auf den kriminellen Holzplattformen am Puerto Láo abgestürzt, hinunter in die Steilkloake, während oben das Platzgedränge mit all den fliegenden Händlern immer enger wird.

    Kein bewaffneter Überfall, nirgendwo. Und kein einziger Bericht von übergriffiger Polizei.

    Im vergangen Jahr 2021 starben in Iquitos etwa 3.000 bis 5.000 Menschen (maximal) am Virus. Das sind 10 bis 14 pro Tag. Iquitos zählt grosso modo 400.000 Einwohner. Das Bevölkerungswachstum von Peru betrug von 2018 auf 2020 1,67 Millionen Menschen, mit einem deutlichen Sprung im Jahr 2020, also dem Jahr des Ausbruchs der Pandemie. In Peru starben 2020 knapp 2 Millionen Menschen, 3,5 Millionen wurden geboren.

    In Tamshiyacu wohnen etwa 6.000 Menschen, im Bezirk Fernando Lores 18.000, mehr als die Hälfte davon Kinder und Jugendliche. Wir hatten 2021 etwa 200 Corona-Tote (Maximalschätzung), das sind 3% der Bevölkerung. Fast alle jenseits der 60, der überwiegende Teil Männer. Im selben Zeitraum wurden mindesten 350 Kinder geboren, eines pro Tag.

    Im ganzen politischen Bezirk ertranken vergangenes Jahr etwa 10 Personen. Etwa 20 Männer starben im Alkoholsuff an Gehirnschlag. Zehn, allesamt Burschen, an der „Paste“. Eine Person an Suizid, zwei bis drei durch Mord in Lima. Etwa 2 bis 3 an Baumwurf im Sturm. Niemand an Vipernbiß. Etwa 5 Jugendliche an Aids. Der Friedhof von Tamshiyacu platzt aus allen Nähten. Nächstes Jahr steht ein Grundstückskauf für die Toten an.

    2021 war lebhaftes Jaguarjahr, ebenso lebhaftes Hühnerhabichtsjahr. Kein Frosch- und Krötenjahr, auch kein Schlangenjahr. Alles mucksmäuschenstill, so als ob gewisse Populationen der Tierwelt gar nicht mehr existierten. Die Eulen und Kautze machen sich dermaßen rar, daß es einen schmerzt. Auch die Gürteltiere kommen nicht mehr aufs Anwesen, dafür die Marder verstärkt. Stinktier und Ameisenbär machen sich ebenso rar.

    2021 war ein Erdbebenjahr und auf jeden Fall wasserreich. Es war ein friedliches Hühnerjahr. An einer Stelle gab es massiven Hahnüberschuß. Wir verkauften alle, den Rest verzehrten wir zu Johanni. Es gab war wiederum ein üppiges Kückenjahr, sehr zur Freude der Frauen, ohne Katastrophen. Alle Mutterhennen Profis, souverän. Würfe mit 10 „Buserl“ keine Seltenheit. Keine Ertrinkungstode der G’schrappen in Sintflutregenfällen, wo die Mutter nicht weiß, wo vorne und hinten ist, während die kleinen Kreaturen weggespült werden.

    2021 war das Jahr des neuen Sprechens mit Gott. Lehrreich sondergleichen.

    Was gäbe es zu berichten von markigen Jahressprüchen? Mal nachdenken. Ja, ein paar Sätze sind anzufügen:

    „Ich strebe Versöhnung mit meinen Feinden an, erst recht mit jenen, die bereits tot sind.“

    „Ich schließe Frieden mit mir selbst.“

    „Fast alle Menschen warten auf ein freundliches Wort. Jeden Tag.“

    „Vergangene Woche (das war im Mai 2020) ging ich den ganzen Weg bis ins Dorf. Das sind 11 Kilometer, 11.000 Schritte. Tausend Mal das Mantra. Das hat mir geholfen, Olga.“ „Glaube ich dir auf der Stelle, Olav. Wenn es jemanden gibt, der zu gesunder Übertreibung neigt, dann bist es du, mein Lieber. Apropos: Hast du verstanden, daß der Heilige Geist dir die Eingebung dazu gab?“ „JA, Olga! Das hat mein Herz jubilieren lassen.“

     

  5. Des Pudels Kern

    „Alles geht vorüber. Alles ist vergänglich. Betrachte dein Inneres, wie es sich in dir bewegt. Damit bist du bereits am rettenden Ufer. Beobachte, wie es sich in dir bewegt. Halte inne. Nichts bleibt. Schon ist es vorüber, selbst das Gräßlichste. Schon ist es vorüber. Niemand macht sich eine Vorstellung über das Ausmaß der Vergänglichkeit, Erleuchtete ausgenommen.“ So redet mir ein Engel zu.

    Wir bewegen uns als Gespenster. Wir meinen, wir hätten ein Anrecht auf unsere Selbstdarstellung. Wir hätten ein Anrecht auf unser Wort, auf unsere Bewegungen. Wir meinen, wir könnten tun, was in unserer Macht steht. Das Menschenmögliche tun als Herausforderung an unser Menschsein. Doch dabei meinen wir nur Willkür. Willkür der gröbsten Art, Verbrechen jeder Art, wie sie uns gerade einfallen. Der Müll etwa. Die mit Urin gefüllten Plastikflaschen im Unterholz der Autobahnen. Autobatterien, Lastwagenreifen, Kühlschränke. Schreibmaschinen im Río Amazonas. Abgetriebene Föten, begierig von der Medizin im Handumdrehen verarbeitet. Experimente mit Stammzellen, mit dem Inbegriff des Lebens. Experimente mit jeder Form der Folter. Experimente mit den Nukleiden der Elemente. Partikelbeschleuniger und Partikelkollision. Antimaterie für den Bruchteil einer Sekunde. Gewisse Menschen, Besorgte, wissen, welche Verbrechen in unserem Ungeist dampfen. In diesem Ungeist, der kein Maß kennen will.

     

    Wir bewegen uns an die Grenze. Wir sagen uns: „Tatsächlich, es ist wahr: sterbe ich, habe ich es geschafft. Dann ist Ruhe. Niemand erreicht mich mehr, und ich bin alle Sorgen los. Denn ich verschwinde in der Zeitlosigkeit. Ich verschwinde im Nichts, wo nichts mehr zählt, schon gar nicht das Leben, und auch nicht der Tod oder gar Gott. Wo nichts mehr zählt, kein Wert, kein Sinn, kein Ich. Dies ist mein Triumph. Wo ich aus dem Schneider bin, denn es wird niemanden geben, der mich verantwortlich machen könnte, und kein MICH, das sie in die Mangel nehmen könnten. Keine Hölle und kein Fegefeuer, denn ich bin fort, ausgelöscht, nichts und niemand, auf ewig, ohne jede Sorge, unwiderruflich. Verstehst du, was ich meine? Ich erlaube mir, mit der Kapuze am Kopf noch „Heil Hitler!“ zu rufen. Nur die Henker haben damit ein Problem, nicht ich. Merkst du das denn nicht? Die einen waren Heilige und die anderen Mörder. Was macht es für einen Unterschied? Der Tod, der zu Napoleons Zeiten eine Milliarde Menschen hinwegfressen mußte, hatte damals schon Arbeit genug. Demnächst wird er acht Milliarden wegschaffen müssen. Wohin, bitte? Alle ab ins Meer? In Indien haben sie schon seit langem kein Holz mehr. Also ab ins Meer, so wie Müll. Acht Milliarden Kadaver im Meer, was kümmert es mich? Das Gas und die Särge hören sich bald auf. Irgendwann kommen sie mit den Leichenhaufen nicht mehr zurande. Dann werden sie sie unter der Sonne verrotten lassen. Was für ein Gestank. Und dann beginnen sie heimlich mit dem Kannibalismus. Ich kann dir versichern, der Kannibalismus ist nicht mehr weit. Und sie werden selektieren. Klar doch. Sie mögen zartes Fleisch, nicht die stinkenden Kadaver von 80-Jährigen. Sie werden mit Vorliebe Kinder verzehren. Ich kann dir versichern, es wird eine Kannibalismus-Industrie entstehen, eine gut organisierte. So wie der Mädchen- und Sklavenhandel. Sogar der Sohn der Königin, dieser hodengesteuerte Ungustl, konnte sich nicht zurückhalten. Junges Fleisch! Welch ein Leckerbissen!, so sagte er sich, dieser arme Lustmolch.“

    Und es wird niemanden geben, der uns mit strafendem Blick und erhobenem Zeigefinger anzischt: „Ich verbiete dir, so zu reden. Du bist von allen guten Geistern verlassen! Das hätte ich mir von dir nicht erwartet! Du wirst deine Sünden im Fegefeuer abbüßen. Du erst recht. Du Mörder!“ Messer in der Luft bis zuletzt. Morddrohungen. Und dann: Stille. „Wolfgang, ich habe jetzt drei Wochen geschwiegen, in der Diäthütte, doch jetzt muß ich mit dir reden, bitte. Ich muß unbedingt mit dir reden, denn sonst werde ich irre. Ich kann dir gar nicht beschreiben, welche Fratzen und Gedanken der Irrsinn hervorbringt. Danke dir, daß du mir rechtzeitig klargemacht hast, daß ich das nicht bin. Das war ungeheuer wichtig. Doch wenn ich es nicht bin, wer ist es dann? Was macht das für einen Sinn? Wer treibt hier dieses Teufelsspiel mit uns? Ich meine, wirklich! Was geschieht hier? Warum bringe ich die Stechmücken immer noch um, warum? Erklär mir das, bitte. Das sind alles Grundsatzfragen, verstehst du? Meine eigene Stimme klingt mir fremd. Ich geniere mich für meine Stimme, verstehst du? Doch noch mehr geniere ich mich für diesen stinken Unsinn, der aus meinem Maul quillt, unablässig, sobald ich nur dieses verfaulte Gebiß aufklappe. Und es ist nicht nur das, tell dir nur vor. Aber das weißt du ja ohnehin bereis. Aha, ich verstehe. Du lächelst wissend. Dir erging es nicht besser, willst du sagen. Hab ich nicht recht? Danke jedenfalls, daß du so ehlich bist.“

     

     

    „Ich könnte dir alles gestehen. Ich habe da keine Vorbehalte mehr. Ich sag das so leicht dahin. Interessant. Bei dir gerne. Besser als beim Papst. Lustig. Ich geniere mich nicht einmal, sowas heraus zu trompeten. Besser, ich erzähl dir alles. Das rettet mich. Stell dir vor, ich habe zum Beispiel deine Arbeiter im Verdacht gehabt, mir meine Billigsdorfer-Swatch gestohlen zu haben. Dabei ist sie mir nur vom Sockel gefallen, nach hinten. Und ich? Zum Genieren, oder? Doch ich habe Gesprächsbedarf, Wolfgang. Ich weiß, da geschieht etwas ganz Mächtiges mit mir. Bei deinen Zeremonien kann ich es klar fassen. Mein Tod. Etwas Heiliges. Das ganz Andere. Das muß man erlebt haben. Ich weiß jetzt, warum du dir das antust. Die Leute, die dich als ihren Feind abstempeln, glaub mir, diese Leute wissen nicht, was sie da reden. Diese ungeheure Verzweiflung.“ „Ja, Claudine, so sprach schon Freund Alexander: „Wolfgang, laß mich hier sitzen und nippen. Indem du mich so leben läßt, habe ich Hoffnung. Weißt du, ich brauche das Trinken. Anders hielte ich es nicht aus. Und meine Kultur will ich nicht verlieren. Von Rettung wollen wir erstmal nicht sprechen. Wäre ja schön, aber wo kämen wir da hin? Jeder Lebende mit seinem Anspruch auf Rettung? Doch von meinem Begräbnis will ich auch nicht reden. Zu makaber. Sagen wir besser, gib mir noch 30 Jahre, alter Freund. Mit wem willst du es die nächsten 30 Jahre noch aushalten, wenn nicht mit mir?“ „

     

  6. Der Chullachaqui-Caspi Baum

    Gertraud Wild, Dezember 2021

    Sanft und weich fühlt sich der Dschungelboden unter meinen Barfußschuhen an. Es ist, als würde ich durch den Dschungel schweben. Der dicke, braune Blätterteppich verschluckt meine Schritte und fast kommt es mir vor, als wäre ich selber Moos, eine zerfallene kleine Brücke oder das dichte Grün des Dschungels. Fast 5 Wochen lebe ich schon in einer Diäthütte außerhalb des Camps‘s Otorongo in der Stille mitten im Dschungel von Peru. 21 Tage davon hatte ich kaum menschlichen Kontakt und ernährte mich von Gemüse und Reis ohne Salz und Zucker. Falls es das Wetter erlaubte und nicht schwere Regengüsse oder nahende Gewitter einen Spaziergang im Dschungel unmöglich machten, ging ich fast jeden Tag auf den gleichen Pfaden spazieren. Mein erster Zielpunkt war immer der Chullachaqui-Caspi Baum, ein Baum der mir bei meinem ersten Dschungelaufenthalt als Wohnort von Chullachaqui, dem Herrn des Waldes, vorgestellt wurde.

    Wie immer, hefte ich meinen Blick auf den Boden um nicht versehentlich auf eine Schlange oder andere giftige Lebewesen zu steigen. Meine Schritte sind langsam und bedächtig. Kleine Äffchen schmeißen von hoch in den Baumkronen Früchte oder andere Dinge herunter – möchten sie sich bemerkbar machen? Ich brauche so ca. 40 Minuten um zum Chullachaqui-Caspi Baum zu kommen. Der Pfad ist voll von Erinnerungen der letzten Wochen. An einer bestimmten Stelle habe ich am ersten Tag meines Aufenthaltes ein Brüllen gehört und kehrte voller Entsetzen zum Camp zurück. Ich war überzeugt, dass dieses Gebrüll von einem Jaguar stammte. Mir wurde versichert, dass seit einem halben Jahr kein Jaguar in dieser Gegend gesichtet wurde und das Gebrüll eines Jaguars den ganzen Dschungel für einen Augenblick verstummen lässt. Die nächsten Tage hatte ich noch ein bisschen Angst. Sie ist mit der Zeit ganz verschwunden.

    Eine Gruppe von umgefallenen Bäumen versperrt den Weg. Ich klettere über die Stämme um auf die andere Seite des Weges zu kommen. Später muss ich wieder unter einem Stamm durchkriechen. Im Dschungel fallen manche Bäume einfach um. Man sagt, dass die Bäume müde sind und sich ausruhen wollen. Oft sind ihre Wurzeln noch immer mit dem Boden und der Baum wächst einfach horizontal weiter.
    Zwei Huyhuyshu Vögel rufen immer an der gleichen Stelle ihr „Hurra, hurra, hurra, hurra“, in einer aufsteigenden Tonleiter. Ich habe sie das erste Mal richtig gehört, nachdem ich meine Angst vor dem Jaguar überwunden hatte. Wie doch das Gehirn Außenereignisse sofort auf sich bezieht!

    Am Anfang meines Aufenthaltes bin ich zweimal am Chullachaqui – Caspi Baum vorbeigegangen ohne ihn zu bemerken. „Der Herr des Waldes hat Sie in die Irre geführt“ sagte Dr. Himmelbauer, als ich ihn von meiner Suche erzählte. Eine mächtige Liane, die nur ein paar Meter vor dem Chullachaqui -Caspi Baum wächst, zeigt mir jetzt immer an, dass sich der Baum direkt dahinter befindet.

    Heute habe ich in meinem kleinen Rucksack neben Zeichensachen, Mosquitorepellent, Taschenlampe und Kamera auch eine kleine Kerze und meine kleine Guan Yin Kristallstatue mitgenommen. Ich möchte mich beim Dschungel für die wunderbare Zeit bedanken. Kein besserer Platz ist mir eingefallen als beim Chullachaqui-Caspi Baum, dem Wohnort des Geistwesens des Dschungels. Viermal habe ich diesen Baum schon gezeichnet, seine Beinwurzeln, Verknotungen, Verknorrungen und Zwischenräume. Leicht berühre ich seine fast seidig anfühlende Rinde und blicke in das Innere des Baumes, wo mir plötzlich klar und deutlich ein Gesicht entgegenschaut. Schelmisch und verschmitzt lächelt es mich an. „Ich existiere wirklich“ scheint es mit tonloser Stimme zu sagen. Der Dschungel ist eine magische Welt.

     

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