Drammen

Wer den Oslo-Fjord hineinfährt, kann links nach Drammen abbiegen. Eine niedliche Hafenstadt mit Theaterhäusern und Spielzeugbahnen. Jedes Haus hat seinen Eibengarten. Die Menschen, gefährliche, in die Einsamkeit verliebte Wikinger in Norwegerpullovern, sitzen auf den herbstzeitlosen Terrassen und dichten. Mit einem Nordmenschen ein Gespräch zu beginnen, kann einen schnell ins Hintertreffen bringen. Zu liberal und zu attraktiv sind sie. Die Grübler haben Seltenheitswert. Schwer stolpert man ueber einen, der die Welt mit seiner Pfeife mal verlangsamen möchte.

Die Nordleute mischen sich auch nicht gern unters gemeine Volk, uns Schnursenkeleuropäer. Sie kultivieren ihre eigenen Bräuche, freilich, mit viel Schnaps gemischt, den sie sich vom Haushaltsgeld absparen und drüben, in Hamlet’s Heimat, einkaufen. Der Norweger, der sich mit dem Öl jetzt snobistisch gebärdet und auf gleicher Höhe wie Wallstreet wähnt, hat seinem Schweden-Bruder den Rücken zugewandt. Das kann verfänglich werden. Gut, nicht alle sind so, aber Geld verdirbt den Charakter, das ist nun mal so.

August Strindberg wurde es im Nordland zu eng und er flüchtete zeitweilig ins Alpenvorland, an die Donau, nach Arbing und Klam. Die Buchenwälder, die Granitplateaus und die scharfen Klammen hatten es ihm angetan. Er liebte es, beim Rauschen von Bächen und dem Geschabe von Pferdehufen und Holzräderkutschen vor der Haustür, die er oft tagelang nicht verließ, zu schreiben. Dann wieder, wenn ihn der Wahnsinn zu übermannen drohte, trottete er hinaus in den Nieselregen, und schlug sich eine Schneise ins Niemandsland. Die Mühlviertler Bauern, eine interessante Sorte, sahen ihm alles nach, hielten sie ihn doch fuer einen syphiliskranken Wiener Adligen. Strindberg gewährte sich nur wenige Utopien. Wie alle seine Landsleute vergrub er sich in den Verwerfungslinien der Institution "Ehe". Aber es endete nicht in Rot. Das mögen die Nordmaenner nicht. Wenn es zu eng wird, schiffen sie sich ein und überqueren den Ozean, rüber zur Schildkröteninsel wie Erik der Wikinger, der weite Teile des amerikanischen Schildes durchtrabte, oder wie ein anderer, unbekannter Haudegen, den es bis zum Titicacasee verschlug. Die Nordmänner waren wie Mammuts, und wenn sie mal der Mut verliess, holten sie sich am Busen ihrer Frauen, erst recht echte Mammuts, neuen Mut. Die Wikingerinnen kannten ein Spiel, mit der Wurfaxt brettaufgespannte Zöpfe abtrennen, das spielten sie untereinander. Sie segelten daher und marschierten durch Wüste, Sturm und Eis, Odin-Lieder auf den Lippen. Die Nordmänner waren unverwundbar. Darum, ja, darum brauchten sie nicht die Dramen, nicht griechische und nicht englische, und auch keine Hexenverschwörung und keine Pantheons. Es war Wald, Fels, Fjord und Wolkentraben. Was für ein glückliches Volk!

Die Nordleute haben Svalbard, Spitzbergen. Den Russen haben sie zugestanden, dort oben in der Unwirtlichkeit Eisen abzubauen. Selbst diese Walrossnaturen lassen Siedlungen dort oben im Eis auf. Wodka und Schach nutzen sich einmal ab, wenn nicht genug Frauen zur Verfügung stehen. Letzten Sommer spielten Magnus Carlsen und Peter Svidler 2 dramaturgisch gut gewaehlte Partien in der einzigen Sporthalle der Insel, – für die Bergkumpel (alle mit Meisterstaerke) ein Fest.

Wenn die Nordleute ein Drama suchen, sich also lebensmüde fühlen, dann gehen sie auf eine Bohrinsel, als Taucher zum Beispiel. Die Brecher, die Endzeitbrecher der globalen Verdunstung, sie brechen die Spinnenstelzen der Milliardenburgen ab. Die Kaventmannswelle, die aus dem Nichts auftauchende, ja, sie lehrt dem Nordmann das Fürchten. Das Drama draußen vor der Küste, in der Nacht, wo nichts ist als das Dröhnen des Sturms, wo sie ins Meer, das gurgelnde und schäumende, gespült werden und dahintreiben, bis sie verschluckt werden. So wie damals die Nichtsahnenden der finnischen Fähre, die mit offener Bugklappe in den Bottnischen Meerbusen hinausfuhr. (Zu den Finnen später, ein andermal.)

Nordnächte? Niemals Mordnächte!

0 Antworten

  1. Ein Licht im Dunklen

    Die Nordleute, dem Ausgang nach Norden anscheinend näher, verstehen es, diesem knorrigen Winter in manchen deprimierender Dunkelheit standzuhalten. Die Frauen kommen zusammen, in ihren Küchen, und backen gemeinsam Brot. Brotbacken lieben sie mehr als Süßigkeiten. Die Nordleute haben ein offenes Herz und sind für ansatzlose Geständnisse berüchtigt, ich glaube, das haben sie von Ibsen und Munch. Plötzlich fallen sie in eine Erinnerung, die sie geradezu aufheulen läßt. Ein stummer Schrei entringt sich ihrer Kehle, Tränen treten ihnen augenblicklich in die Augen, und sie pressen die Faust in den offenen Mund, während sie still in der Ecke des Küchengewölbes stehen. So beichten sie einander ihre Vergangenheit, vergangene Liebe, die nicht abgestorben ist.

    So war es bei Trine und Thule, die sich im Jänner trafen, und wer weiß, wie, nach allem Scherzen und aufgeräumten Bereden des Aktuellen, den Freunden und der Arbeit im Beruf, plötzlich innehielten, die eine, Trine, und Thule fragte sie, was hast du denn, ach nichts, erwidert ihr Trine, ich hab mich nur grad erinnert an damals, 85, im Februar, als es nicht mehr ganz so dunkel war wie heut, aber kalt und eisig, als Jonathan mich besuchen kam, herüber von der Insel, der Regiestudent, der, stell dir vor, mir beinahe jeden Tag einen Brief schickte. Dieser magere, bärtige Student mit seinen großen dunklen Augen, so gar kein Engländer, der mich damals anhimmelte, weiß Gott, warum. Der sich scheinbar nichts daraus machte, daß ich damals noch verheiratet war. Wir mußten bei Freunden übernachten, guten Freunden. Wir gingen ins Kino und sahen "Killing fields" über Kambodscha und den Mozart-Film von Forman. Mein Gott, was habe ich damals nur gesucht in ihm und er in mir? Und er geht mir nicht aus dem Sinn. Warum nur grad jetzt? Bin ich schon so alt, daß ich meinte, bald zu sterben, oder ist es, daß ich etwas Reines traf, damals?

    Und Thule, die nicht ganz hinhört und eifrig weiter den Teig knetet, versteckt ihren Kopf in der Brust und hebt ihn plötzlich, hitzerot, die Augen schreckgeweitet, und sie läßt den Teig, stützt sich mit einer Hand ab, sieht nichts mehr vor den Augen, hört nicht mehr hin auf das Geständnis ihrer Freundin Trine, sondern geht zum Waschhahn, säubert sich die Hände, geht zum Fenster und öffnet es, das Licht der nächtlichen Docks drüben im Blick. Sie zündet sich eine Zigarette an, und ein Kommentar entringt sich ihren Lippen, als Antwort auf die eigene Erinnerung, "Es sollte meine letzte sein!" Und sie wendet sich zu ihrer Freundin, und mit einem Funkeln in den Augen holt sie sie wieder in den Moment zurück. "Ja, ich hatte auch so einen. Fast hätte er mir das Herz geraubt. Aber was wäre aus ihm geworden, hier, bei uns? Sag mir, was wäre aus ihm geworden, hier?" Und Thule hält inne und murmelt einen Nachsatz. "Was ist wohl aus ihm geworden?"

    So sind die Nordnächte, mein Lieber.

    (Aus Karl Firmbergers Nachlaß, mit Dank.)

  2. Liv Ullmann

    Wir hatten sie schon einmal angesprochen, die wahre Muse des Ingmar Bergman, die Frau, der er bis zu seinem Ableben verfallen war, in Treue und Ergebenheit, trotz des nur fünfjährigen Zusammenlebens und der Geburt einer gemeinsamen Tochter (einer Schriftstellerin heute). Noch eine kurze Weile vor seinem Tod setzten sie sich zu dritt nochmals zusammen, um eine Improvisation der "Szenen einer Ehe" der Nachwelt zu überlassen, Bergman, Erland Josefsson und – Liv Ullmann.

    Wenn es eine kultivierte Schauspielerin gibt, die einem majestätischen, atemberaubenden Naturwunder gleichkommt (ich schäme mich nicht, eine solche Sprache zu gebrauchen, denn Paul Celan und Thomas Bernhard ging es mit der Bachmann ebenso), so ist es diese 1938 in Tokyo geborene und in Trondheim zur Schule gegangene Kulturheroine. Für Bergman muß die Begegnung mit ihr im Osloer Schauspielhaus Mitte der 60er Jahre eine lebensbestimmende Sternstunde gewesen sein, Liebe auf den ersten Blick. Was für eine Befruchtung. Sternstunden des Films. Marksteine aus Granit – unvergänglichem -, vom Wind der Fjordhochländer zurechtgeschliffen und hinab an die schwedische Küste getragen. Die Fackelträgerin einer Kunst, das Seelenleben filmisch zu veranschaulichen. Kein Wunder, daß Bergmans erster Epigone, Woody Allen, seine vielbeachtete Bergman-Hommage in den 70ern "Innenleben" taufte, ein Film, der stilgerecht mit dem nächtlichen Wassertod der verlassenen Matrone im peitschenden Pazifik endet. Allen hat sich heute seine eigene entfernt skandinavische Muse gefunden, Scarlett Johannson, sie ein Tribut an das niemals zu erreichende Vorbild. Gerechterweise sollten wir überhaupt jene Klasse an schwedischen Damen des Theaters anführen, die das Leben allemal lebenswert machen: Ingrid Thulin und Bibi Andersson, sie werden wohl nie erreicht. Und die Matrone schlechthin, die sich in den 90ern anschickte, Regiearbeiten für filmische Perlen der Mittsommernachtsträume zu übernehmen, in ihrer stilistische Brillanz wohl aus der Stahlschmiede Odins emporgekrochen. 1995 schrieb Bergman seiner Geliebten das Drehbuch zu "Die Treulosen", wohl ein verdecktes Credo und ein Geständnis, das sie bereits kannte. Ehe dauert nicht, bei keiner, auch nicht bei Frau Ullmann. Wie nur das?, fragt man sich. Wäre diese Frau nicht jedes Opfer, sogar lebenslanges Leiden, wert? Aber da sind die Schweden und Norweger halt viel zu radikal. Wenn das Thermomenter auf unter 90º abfällt, dann ist Rost im Getriebe und Zeit zum Fremdgehen, für schottischen Whiskey und eine ordentliche Szene, selbst in den besten Familien.

    Aber was bei Liv Ullmann halt so imponiert, ist ihre Kunst, die Welt anzuhalten, und das noch mit Leichtigkeit. Sie genehmigt sich als Nervenärztin ein kindliches Leichenbegräbnis-Trauma und wiederholt den Wunsch, sich lebendig in den Sarg zu legen und so ins Krematorium hineinzurollen. Sie verfällt als Medea auf offener Bühne in eine Sprachlähmung, zu sehr erinnert sie der geistesgegenwärtige Moment, die Meta-Reflexion des Moments auf der Bühne (eine solche Präsenz traute ihr Bergmann zu, soweit verstieg er sich, und er überließ ihr zudem in der Gestaltung dieses Moments der Weltanhaltung freie Hand, wissend, es würde etwas Unvergängliches geboren werden), diese hereinbrechende Reflexion des einzigartigen Moments also bringt die Erinnerung an den Wunsch, ihr eigenes Kind zu töten, und der Wunsch geht nahtlos über an die Erinnerung der Kindheit ("Du Teufelin, welcher Hölle bist Du entsprungen?", so die Mutter zur Tochter).

    Freilich, all diese Glanzstunden konnten nur einer Gemeinschaft inniglicher Geborgenheit unter allen Beteiligten entspringen, getauft mit dem Licht und dem Geruch der schwedischen Ostseeküste. So etwas gibt es nicht auf dem Festland und auch nicht in Shakespeares Heimat.

    Bibi Andersson beantwortete einmal nach Drehschluß zu "Ich habe dir keinen Rosengarten versprochen" eine entsprechende Reporter-Frage, warum denn ausgerechnet ein solcher Titel?, mit "Bergman hatte immer nur Rosen der feinsten Art, alle rot. Bei allen stach er sich die Finger blutig, doch er konnte nicht ablassen. Vielleicht ist es ein besonderes Gift, von dem wir Frauen selbst keine Ahnung haben. Ein Klang in der Luft, der uns, auch mir, der Therapeutin und Ehefrau, wie im Wahn zuflüstert, alles hat ein Ende, Du kannst nichts dagegen machen. Es blickt dich wie ein Verhängnis an, eine schwarze Parze, die dein Schicksal webt."

    Aber trotzdem. Trotzdem. Es ist nicht zu glauben. Denn bei Liv Ullmann gab es zeitlebens eine Mildtätigkeit, eine, die sie schon vor ihrem UNICEF-Einsatz zeigte. Etwas Eingeschriebenes. So ehrliche Augen, ohne jede blasierte Affektion. Es wird mir wohl immer ein Wunder bleiben, welch wunderbaren Segen eine solche Lichtgestalt uns schenken konnte, und ich wünsche mir, daß sie weit in die 90 hineingeht, ach, alles nur Brabbelei.

    Ein Ihnen treu Ergebener, Frau Ullmann.

  3. Angst. Gedanken zu Edvard Munch’s "Der Schrei".

    Sein Bild ist das teuerste, das jemals versteigert wurde. 116 Millionen Euro schwer. Eine gute Investition, ein schwieriges Werk. Ein Bild, das jeden berührt.

    Das Bild entstand nach einem Spaziergang an Oslos windigem Kai, der wie eine Landzunge vom Rathaus, das am Hafen gelegen ist, nach Süden hinausführt. Eine kilometerlange Landzunge, immer windig. Die Spaziergänger, ob im Winter oder im Sommer, sind dafür gewappnet. Im Winter laufen sie mit ihren Skiern herum. Norwegen ist die meiste Zeit kalt und es windet. An der Westküste – z.B. in Stavanger – mehr als im Süden. Doch das genügt den Besuchern. Die windige Kälte ist einfach gewöhnungsbedürftig. Die Norweger wohl auch.

    Im 19.Jahrhundert, als Edvard Munch geboren wurde, hieß Oslo noch Christiania. Das kam von einer Zeit, als Norwegens Könige noch Reichsgewalt über Schweden und Dänemark innehatten. Zwar nur eine kurze Zeit, aber immerhin. Die Skandinavier führten keine eigentlichen Kriege untereinander. Das war immer schon klug.

    Die Norweger sind verschwiegen. Sie sind zerzaust. Ihre Kinderstube dauert nur kurz, dann werden sie freigesetzt. Das verkraften zwar viele nicht, hat sich aber bis heute nicht geändert. So kurven sie wie zerzauste Windkrähen herum. Ihre Heimat, – der weite Horizont. Die Norweger leben in innerem Asyl. Das halten sie mit Grog aus Dänemark warm. Trotz allem Frieden, der in ihrem Land seit hunderten von Jahren eingepflanzt zu sein scheint, zeigt sich in ihrem Blick tiefe, den Betrachter bisweilen verstörende Einsamkeit. Dieser ständige Wind der Küste. Das ständige Meeresrauschen. Felsencharaktere. Wald, das ist Mangelware, – an den Küsten. Es gibt kein Waldrauschen. Das vermißt man. Das Pfeifen in der Luft, das einen beim ersten Tritt vor die Haustüre begrüßt, wird zum ständigen Begleiter. Die Norweger, das sind die verbissenen Schilangläufer. Und sie laufen immer alleine. Sie gleiten nicht auf Kuven über das Eis, mit den Armen schlenkernd, rechts – links – rechts – links, wie die Holländer im Winter, zusammengerottet, mit einander plaudernd während des gemächlichen Ziehens ihrer Runden auf den Deichen und Grachten. Nein, die Norweger laufen nicht Eis, und nicht alle sind sportverrückt, auch wenn einen im Winter Schispringer mitten in den Stadtparks von den Bänken anspringen können. Denn Landen will gelernt sein.

    Im Herzen dieses Volkes regiert der Sturm. Jener der Westküste, die sich wie unergründliches Fraktal-Chaos mehrere hundert Kilometer fjordzerzaust hochzieht. Das ist etwas Anderes als die Pazifikküste Chiles. Chile, das sind hunderte Kilometer Sandstrände, wo unvorsichtige Strandgänger von Orcas in die Brecher hinausgerissen werden können. In Norwegen gibt es keine Orcas und keine Haie. Wale ja, doch weit draußen vor der Küste, und weit im Norden, vor allem auf den Lofoten, der Wahlheimat des unvergessenen Horst Tappert.

    Deutschland hätte nie den Krieg gewinnen können. Die Wehrmacht wußte schon nicht mehr, wie zu den Erzlagerstätten oben in Schweden gelangen. Norwegen war für Deutschland von Anfang an jenseitig, und das war für einen Geisteskranken, der von einem tausendjährigen Reich fantasierte, unbegreifbar. Unangreifbar. Jenseitigkeit.

    Norwegen, das war seit Urzeiten Nordland. Und Nordland, das heißt Nordlicht. Das Licht in der Nacht, das unstete, das flackernde, das herumziehende, das ruhelose. Das Nordlicht, das ist dem Betrachter der unstete Tod. Der nicht ruhende Jäger, der Schnitter, der sein Schübel Gerste sucht, um es mit seiner Sichel, seiner Sense zu mähen. Das violette Licht in der Dunkelheit. Deshalb brennt bei den Norwegern das Wohnungslicht die ganze Nacht über. Strom kostet nichts.

    Edvard Munch wurde in eine Ruine geboren. Seine Mutter starb, als er sechs war. Seine Schwester starb noch als Kind. Sein Bruder wenige Monate nach der Trauung. Nur der Vater lebte länger, – und Munch selbst, obwohl er zeitlebens ein Gratgänger war. Norwegen, das war für ihn Einsamkeit. Menschliche Unüberbrückbarkeit. Unwägbarkeit. Deshalb war er so gerne in Deutschland. Deutschland war nicht rauh, und es war für Künstler ein lebendiger Traum. Die 90er Jahre vor der Jahrundertwende waren Munchs produktivstes Jahrzehnt, trotz aller melancholischer Attacken. Munch war ein verbissener Maler. Er malte gegen das Verschlungenwerden. Er war Existentialist. Er hätte auch Steinmetz werden können. So sind die Schwerblütigen, die niemals, aber auch wirklich niemals Dandies, also leichtlebige Partygänger, werden können. In diesem klobigen Kämpfer, der sich in eine verschlingende Welt geworfen sah, bildete sich ein eigener Stil. Ein eigener Stil, angemessen an die Spannungsaufladung eines Erdbebens. Ein Kämpfer der Elemente. Kein Stubenhocker. Kein Ofenhocker. Kein Vielfraß.

    Ein Küstengeher. Ein Kämpfer, der litt, ohne sich zu beschweren. Er war gesund, aber er litt an der Verfassung des Menschseins. Er litt wie ein Affenkind, dem die Mutter weggeschossen wird. Weggeschossen vom Leben, das gerade noch gezeugt hatte. Munchs Familie litt an Schwindsucht. Sie verschwanden, innerhalb weniger Wochen vom Leben verzehrt. So kann niemand heimisch werden auf seinem Grund. Man geht einsam am Kai und wird unversehens Zeuge eines Zusammenbruchs. Des stillen Dramas, das sich unbesehen anbahnt und schlußendlich durchbricht, mitten im so selbstverständlichen Sturm, der nicht zu brausen aufhört.

    "Wann endlich, wann kehrt Frieden ein?" Christus lebte in der Levante. In der warmen Levante. Nicht im Nordmannsland. Er hatte nicht die Wikinger im Blut.

    Dort oben, in deren Land, atmet der Wind nur kurz durch. Der Frieden, dort oben, er dauert vielleicht nur einen Mittag lang, zur Konfirmation. Die Kinder in ihren Trachten spielen draußen, auf den Dünen. Doch schon eine Zigarette anzünden wird dem Betrachter, der den Kindern versunken nachsieht, unmöglich. Wieder kommt Wind auf. "Was hält mich hier?", fragt der bärtige Augenbeglaste. "Es ist alles irreal. Niemand hat nur die leiseste Ahnung, welche Qualen ich hier leide. Der Wind hier heraußen verwehrt mir sogar die Zigarette."

  4. Von Angesicht zu Angesicht (2)

    Rückkehr zu den Tränen der Liv Ullmann

    Sie erinnert sich und erzählt es ihrem Therapeuten, einem erfahrenen Mann. Sie vertraut ihm rückhaltlos. Sie beginnt sich zu erinnern. Ihre Mutter, die Geisteskranke. Die Mutter, die ihr Bergräbnis, ihre Einäscherung vorwegnahm. Der Haß der Mutter auf die Tochter. Die Tochter, die sich daraufhin als Ärztin den Geisteskrankheiten widmet, – und eines Tages unter der Last der Erinnerungen zusammenbricht. Sie schluchzt. Sie weint. Sie ruft nach der toten, eingeäscherten Mutter.

    Ingmar Bergman (*14.Juli 1918, + 30.Juli 2007) setzt Liv Ullmann in Szene, seine geliebte, die unvergleichliche norwegische Schauspielerin und Lebensgefährtin, mit der er eine Tochter hat. Hatte. Denn Bergmann ist seit sieben Jahren tot. Sein Werk bleibt unvergessen.

    Liv Ullmann nimmt die Position ihrer Mutter ein. Sie findet sich im Sarg wieder, lebendig. Der Sarg steht in Flammen, im Elternhaus. Sie schreit. Sie strampelt mit den Füssen. Sie wird befreit, von ihrem Mann. Die Vision verflüchtigt sich, wie Nebel. Die Erinnerung setzt ein. Die Verfluchung aus dem Mund der entäußerten, wesensfremden Mutter.

    Die Verfluchung. Was ist ein Fluch? Darüber nachzudenken wäre an der Zeit; Über Fluch und Haß. Die Grundhaltung der Schlächter. Derjenigen, die "Nein!" sagen. "Nein" zum Mitmenschen. Wie Bashar al Saddat. Er sagt "Nein" zu den Kindern seines Landes. Er anerkennt sie nicht als sein Volk. Doch die Schlächter verschonen auch das eigene Volk nicht. Traurig.

    Deshalb weint Liv Ullmann. Sie weint bestürzend. Sie weint wie eine Wikingerin: Herzzerreissend. In voller Stärke. Hemmungslos und doch kultiviert. Sie ruft im Weinen: "Mutter?" Es klingt wie Mutter Erde, die nach ihrem Kind, einer Mutter, ruft. Die Tochter wird zur Mutter und versucht die eigene Mutter, nunmehr ihre Tochter, zu beschützen.

    Ingmar Bergman kennt den tollwütigen Hund, den Höllenhund. Er versucht ihn mithilfe der Frauen zu neutralisieren. Die Frauen bringen ein Opfer: Sie weinen; sie schlittern in eine Geisteskrankheit; sie versinken in kurzzeitiger Melancholie; sie verstummen, … mitten auf der Bühne (die Ullmann in "Persona"). Die Schauspielerinnen zeigen sich als Person. Diese ganze Riege an epochalen Schauspielerinnen, die Bergman willfährig zur Verfügung standen – schwedische zuvorderst und norwegische -, all diese Frauen in Wahrhaftigkeit: Wer will diese Heroinnen, diese Leuchtfeuer des Nordens, in abscheulicher Lügenhaftigkeit zum Verstummen bringen. Diese Verbrecher hinter den Rednerpulten. Diese Unpersonen. Diese Verbrecher, die den Menschen schänden auf das Allerschlimmste, den Menschen, die Kinder, … und das eigene Leben in Gestalt von Mutter Erde. Unpersonen. Untote.

    Ingmar Bergman und Erland Josefsson, die beiden Freunde, sind tot. Diese alte Garde von wahren Gestalten – nicht Schemen -, Personen des Geistes, Verkörperungen des Geistes, so wie Liv Ullmann, die innehält, auf der Bühne. "Ich bin einen Schritt entfernt von der Unendlichkeit!" Und sie verstummt. Erst in der Klinik, nach Tagen, findet sie ihre Sprache wieder. Das war damals, in den 70er-Jahren.

    Ingmar Bergman kannte dieses Gefühl, genauso wie Liv Ullmann. Darin waren sie sich kongenial gleich. Ein Kriegerpaar. "Ich bin einen Schritt von der Unendlichkeit entfernt. Ein Schritt nach vor und ich werde verschlungen. Ich hebe den Blick. Was sehe ich? Ungeheuerliches! Unfaßbares! Unaussprechliches! Den Kosmos. Die Unendlichkeit der Wunder. Die Vermessenheit des Menschen, der hinter mir wie ein Wurm sich krümmt. Hinter mir die Kreatur, die in bodenloser Ignoranz lebt, weil sie meint, über dem Abgrund, auf Bodenlosigkeit aufgehängt zu sein. – Aufgehängt worden zu sein von einer unpersönlichen Macht, der man ebenso unpersönlich entgegentreten dürfte; – entgegentreten könnte; – entgegentreten müßte. Wir treten dieser unpersönlichen Macht unpersönlich entgegen, wie Demiurgen unseres Schicksals."

    Das ist das Inferno im Rücken von Liv Ullmann. Vor sich sieht sie das Auge der Unendlichkeit. Und nun die Frage: Ist der Blick dieses Auges kalt oder warm? Was sagt dieser Blick? Was sagt er dem Wagemutigen?

    Das Auge der Unendlichkeit sagt zuvorderst eines, so der Dalai Lama: "Nichts existiert aus sich heraus. Nichts."

    Deswegen fasziniert den Menschen die Nichtung. Die Vernichtung. Die Vernichtung aus Menschenhand, in allen Spielformen. Der Mensch erfindet alle Formen der Selbsttötung, erfinderisch, so wie er alle Formen der Sexualität erfindet. Er erfindet das freie Schweben über der Bodenlosigkeit, eine Schlinge um den Hals. Ja es genügt ein Rasierkabel; eine Schnur.

    Diese Faszination des Menschen an der Vernichtung des Lebens – Pflanzen, Tiere, Mensch – ist das eigentlich Erbärmliche, das Ekelerregende. Tot zu sein von einem Moment auf den nächsten. Das exerzieren wir vornehmlich im Bild, wenn schon nicht in der Praxis.

    Das alles sieht Liv Ullmann. Sie erstarrt im Schweigen. Und das Publikum wird unruhig. Es beginnt zu nuscheln, dann zu raunen. Dann der erste Zwischenruf.

    Gauthama Siddharta sitzt in Bodgaya unter dem Boddhi-Baum. Drei Versuchungen, die letzte das Heer des Kriegsgottes. Ein Kriegsgott. Nichts ist ihm gewachsen. Gauthama sieht: Dieser Gott vernichtet die Menschheit mit einem Handstreich. Die nichtsahnende, dahinkrebsende, dahineilende, dahinscherzende, dahinwütende Menschheit. Wie der Chixkhulub-Meteorit. Ein Himmelskörper von zehn Kilometern Durchmesser, mit zumindest 40.000 Kilometern pro Stunde. Er kam nicht steil daher, sondern ganz flach. Auf Yucatan. Ganz Nordamerika ging in Flammen auf. Ein Gott setzt der Ära der Saurier, der weltbeherrschenden, ein Ende.

    Gauthama Siddharta sieht Leben und Tod. Ein Hauch. Doch die Ungheuerlichkeit läßt ihn nicht den Atem anhalten. Er sieht. Er atmet ruhig. Nichts ist ungeheuerlich, denn nichts existiert aus sich selbst.

    "Wie meinen Sie das?", fragt Opra Winfrey den Dalai Lama in der Garderobe der Carnegie Hall. "Nichts ist von Bestand, wohlgeborene Dame", antwortet unsere Heiligkeit. "Nichts ist das, was es zu sein scheint." Sie blickt ihn noch immer fragend an, ein Maskenlächeln der Interessiertheit auf dem Gesicht. Schlußendlich ist sie die bestbezahlte Talkmasterin der Staaten. Eine Multimillionärin. "Nichts existiert aus sich heraus, gnädige Frau. Auch wir beide nicht." "Was heißt das?", fragt sie ihn nochmals. "Wir sitzen hier ganz entspannt, vielleicht sogar fröhlich. Wir sind uns des Momentes bewußt, so meinen wir. Doch nichts kann uns diesen Moment absichern. Selbstgefälligkeit ist der Todfeind des Menschen." Opra Winfrey fühlt sich indigniert. Wie nun sich aus dieser Situation schwindeln? Ohne Gesichtsverlust!

    Ingmar Bergman starb auf Fårø, seiner Insel in der Ostsee. Er hatte von seiner Liege am Kamin immer einen Blick auf den steinigen Strand. Er lebte im Paradies. Es war ihm vergönnt. Sein Inneres war aufgepeitschte See. Nicht immer, doch oft. Er konnte – wie ein Zauberer – das Meer aufpeitschen. Er bedurfte dazu nicht der Nuklearkraft. Bergman kannte die Tsunami-Welle. Er zügelte sie in Dosierungen. Bergman stellte Gewalt nie dar. Tötungen. Doch er ließ den Tod auftreten, im "Siebten Siegel". Den mittelalterlichen Tod. Den, der alle mit sich nimmt. Und was bleibt dann?

    Der Blick ins Nichts der großen Liv Ullmann, einer Menschenikone, die ihresgleichen sucht. Amen.

  5. Im tiefen Wald, da steht ein Häuschen

    Hoch oben, im Norden, im Land der Wikinger, da hab‘ ich eine Freundin. Eine, die mir vor langer Zeit versprochen wurde. Ich liebe sie wie keine andere, aber die Mächte sagten uns beiden, zarte Liebe währt am längsten. Und so trennten sie uns, sodaß wir einander im Lauf der Zeit nicht untreu werden konnten. Hin und wieder besuche ich sie, nächtens, in ihrer Hütte im Wald, in der rauchigen. Das Feuer ist ihr Gefährte. Sie hustet nicht mehr. Ihre Haut ist eine andere. Die meisten fürchten sie, denn keiner weiß, wovon sie lebt. Sie hält keine Tiere: Keine Katz‘, keine Ziege, keine Hasen. Kein Hahn, der kräht. Die Leute wissen nicht, diese Frau, meine treue Freundin, lebt rein von der Natur, rein von der Natur. Sie frißt nicht Gras, nein, das nicht, aber sie findet alles, was eßbar ist, und sie ißt sogar Baumrinden. Holz, sagen die Leute dazu. Sie nennt es anders. Und jüngst habe ich mir die Mühe gemacht, nachzusinnen, was sie im Winter, dem bitterkalten, zu sich nimmt, und da stieß ich auf ein Geheimnis, das kann ich jetzt nicht verraten, sie liegt mir zu sehr am Herzen. Ich muß noch lernen, meine Plaudertasche zu verschließen, ich bin ein Plappermaul, eines, das sich gerne in Szene setzt und dabei unversehens Freunde verrät.

    Meine Freundin hat keinen Namen. Sie sagt, sie hat ihn mit dem Leben im Wald, fernab aller Kriechenden, verloren. Ihre Hütte, nichts Gezimmertes, liegt versteckt. Nur jene, denen es vorbehalten ist, auf sie zu stossen – manche suchen sie verzweifelt, andere begierig -, finden sie, ohne zu wissen, welche Wege sie genommen haben. Fast allen ist die Begegnung unheimlich, und alle ziehen verstört von dann, nachdem sie erhalten haben, wonach sie suchten, den Orakelspruch. Meine Freundin ist eine Hexe. Sie lebt im Schatten des Feuers, das nie erlischt, und sie trinkt einen Tropfen Blut. "Alle", sagt sie, "wollen wissen, was ihnen die Zukunft bringt, "und dann, eines Tages, nah oder fern, finden sie das, was ihnen die Zukunft gebracht hat, und sie sind verstört, daß es so kommt, wie ich es ihnen geweissagt habe. Sie alle meinen, wüßten sie, was der große Magier für sie bereit hält, könnten sie ihn umstimmen, durch Brand- oder Geldopfer, ja manchen meinen sogar, es gelte ein Menschenopfer. Sie alle sind Händler. Doch mit dem Meister gibt es kein Handeln. Schlußendlich frißt er sie alle, die Klugen wie die Törichten."

    Ich habe keine Angst vor meiner Freundin, denn ich bereite mich gut vor, will ich sie aufsuchen. Ich reinige meine Lust. Ich faste, bevor ich los ziehe. Und dann, wenn ich sie finde, diese sosehr Schöne, der ich verfallen bin, dann jauchzt mein Herz, und natürlich spürt sie es. Sie lebt außerhalb der Zeit. Jede Begegnung mit ihr scheint mir zeitlos. Nie weiß ich danach, wie ich von ihr nach Hause kam. Selbst das, was wir bereden, kommt mir vor, als sei es Gerede in einem Traum. Mein Herz brennt vor Liebe. Ich trinke ihre Worte. Unsere letzte Begegnung verlief anders. Ich erinnere mich. Sie sprach, und ich hörte ihr zu. Auch ich gebe ihr einen Tropfen Blut, aber sie nimmt ihn nicht an, nicht von mir. Sie sagt, ich bin kein Kunde, denn ich wolle ja doch nichts von mir wissen. Und das stimmt. Warum ich zu ihr komme, das wissen nur sie und die allmächtige Erdgöttin.

    Sie murmelte aus dem Dunkel ihres fellbelegten Lagers hervor, als spräche sie im Schlaf: "Unsere Zeit ist nicht die, als die sie die Kreaturen wähnen. Die Kreaturen sind zurückgekehrt in die Epoche der alten Bücher. Sie wissen es nur nicht. Sie beten einen Gott namens Baal an. Er flüstert ihnen zu: "Werdet wie ich!" Also bauen sie Türme. Türme, die in den Wolken verschwinden. Sie wollen sich über die Erde erheben, während draußen, am Boden, die Erdenwürmer in ihren erbärmlichen Lumpen verhungern und verdursten und erfrieren. Sie treiben Schabernack, wie er unvorstellbar war. Einer von ihnen nennt sich "der Spinnenmann". Er klettert auf den höchsten Turm. Ein anderer spannt zwischen zwei gleichgearteten Türmen ein Seil und balanciert mit einem quergehaltenen Stab in schwindelerregender Höhe hinüber. Doch es kommt ein Windstoß, der ihn in die Tiefe stößt. Doch der Mann ist ein Schwindler. Er hängt an einem Seil. Ein dritter steht oben, knapp unter der Spitze. Er springt in die Tiefe, breitet Arme und Beine aus und gleitet wie ein Flughörnchen in weitem Bogen zu Boden. Die Menschen betreten die Türme, manche in reinem Weiß, sie tragen einen Turban. Fast alle sind Männer. Sie betreten einen Metallkorb, der sie in die Höhe zieht. Unter sich haben sie nichts. Einen leeren Schacht. Sie leben in diesem Turm. Sie atmen fremde Luft, an der sie mit der Zeit, ohne es zu merken, erkranken. Der Turm ist ein Käfig aus Glas, das ihr Gesicht spiegelt. Sie meinen, der Turm stünde ewig. Die Ameisen aus fremden Landen, die ihn erbaut haben, sind alle tot. Das ist das schlimmste Vergehen, das ich sehe. Ihr Götzenkult an Baal. Doch keiner dieser Türme, die in die Wolken ragen, steht ewig. Oder meinst Du, Kleiner (sie nennt mich immer "Kleiner", weil sie sagt, ich wäre ein "ewiger, nie erwachsen gewordener Junge"; ich lasse das ohne Weiteres gelten, denn ich habe eins doch wahrlich gelernt: Ihr nicht zu widersprechen, und peinlichst genau zuzuhören), diese Nadeln währten auf tausend Jahre?"

    Meine Freundin aus dem Wald hat mir eines wohl zuvorderst zu verstehen gegeben: "Ändere alles an Dir! Alles Andere kommt von selbst." Sie sagte noch etwas: "Geniere dich für nichts! Es gibt keine Fehler. Verdamme dich nicht selbst! Erkenne, deine Unruhe hat einen tiefen Grund und zurecht. Suche nicht Rettung! Frage nicht: "Wo ist Rettung?" Alles regelt sich von alleine, egal, wie es endet. Und das Ende, mein Kleiner, steht nicht fest. Willst du mir nicht zum Abschied einen Kuß geben?"

    Sehen Sie, Brüder und Schwestern: Ich bin ihr verfallen.

  6. Persona

    Elisabet Vogler, Elektra, in das klassische Gewand der griechischen Tragödie gekleidet, erstarrt mitten in der Darstellung stumm auf der Bühne. So verharrt sie minutenlang unbeweglich. Unruhe macht sich in dem im Dunklen zuschauenden Publikum breit. Dann kommt der Regisseur auf die Bühne. Er führt Elisabet Vogler ab. Der Vorhang fällt.

    Liv Ullmann in Ingmar Bergmans „Persona“. Ein tiefsinniger Film. Einer der besten der Filmgeschichte. Ein Film, mit dem sich Bergman selbst aus tiefer Depression im Gefolge einer schweren Lungenentzündung herausriß. Ein Film über die menschliche Selbstreflexion. Ein Film über die Selbstreflexion eines Künstlers und dessen technische Hilfsmittel. Denn der Künstler bedarf immer eines Mediums, das seine Botschaft trägt.

    Doch das eigentliche Moment von Bergmans „Persona“ ist die Erstarrung. Die menschliche Erstarrung, die Versteinerung, die Denkunfähigkeit, die Bewegungslosigkeit. Der Stupor. Der Blick ins Nichts, und dabei nicht niederbrechend.

    Der Blick ins Nichts. Liv Ullmanns Leistung. Eine Leistung wie keiner zweiten. „Persona“ ist Liv Ullmann vorbehalten, und ihrer langjährigen Kollegin, Bibi Andersson. Die eine Norwegerin, die andere Schwedin. Bergman läßt den beiden Titaninnen allen Freiraum. Sie thematisieren den Begriff der Person. Person und Identität. Schlichtweg ein Abgrund. Wer hat schon je ehrlich in ihn hinabgeblickt? Hinabzublicken in die Finsternis, ohne etwas zu erkennen. Wie in einen unbekannt tiefen Brunnenschacht im Halbdüster.

    Die Herkunft des Wortes Person ist nicht vollständig geklärt; es existieren hierzu verschiedene Theorien. Fest steht lediglich, dass es im 13. Jahrhundert als person(e) aus lat. persona „Maske des Schauspielers“ ins Deutsche übernommen wurde. Der Ursprung des lateinischen Begriffes ist jedoch umstritten. Am bekanntesten ist die Ableitung von lat. per-sonare (kurzes -o-) für „durchtönen“ (nämlich die Stimme durch die Maske). Ein vergleichbarer Erklärungsversuch nimmt die Abstammung von per-sônare bzw per-zônare (langes -o-) für „verkleiden“ (zu griech. ζώνη zônê ‚Gürtel‘) an. Diese Ad-hoc-Herleitungen werden jedoch stark angezweifelt. Der an der Lautgeschichte interessierte Etymologe Josef Justus Scaliger (* 1540, † 1609) entschied sich für perzonare (einen Gürtel anlegen), was allerdings keine rein lateinische Etymologie darstellt. Denn zona kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Gürtel“.

    Manche Wissenschaftler halten den Begriff für eine Entlehnung aus dem neutestamentlichen griech. πρόσωπον prosôpon ‚Maske‘, ‚Rolle‘, ‚Mensch‘ (ältere Bedeutung: (An)Gesicht, Miene, Blick, äußere Gestalt, Aussehen).

    Einer anderen und von den meisten Etymologen und Philologen heute für wahrscheinlicher gehaltenen Theorie zufolge stammt er jedoch vom etruskischen Wort phersu für ‚Maske‘. Die Ableitung aus dem Etruskischen wird bereits seit Jahren als einzige Version von der Duden-Redaktion vertreten. Phersu war der Eigenname einer Gestalt aus der Unterwelt, die bei Leichenspielen auftrat und sich in einer für sie typischen Verkleidung zu erkennen gab. (Zitat Wikipedia)

    Erstarrung.

    Wenn alles zum Stillstand kommt. Wenn alle nur mehr vor sich hin starren, bewegungslos an ihrem Platz verharrend. Wenn nichts mehr geht und nichts mehr fährt und nur mehr die Erde sich dreht und Gott Atón umkreist.

    Die Würde der menschlichen Person ist unantastbar. Bis zu seinem, des Menschen, Tod.

    Sind Bäume Personen? Ich glaube, ja. Man kann sie reden hören, nächtens, nach dem Regen.

    Sind Mörder, Schänder, Schlächter Personen? Ich meine, nein. Es sind Tiere, Untiere. Monstren. Monstren sind keine Personen.

    Warum ist Gott, nach dem Glauben der Christen, ein Gott in drei Personen? Ich meine, die Frage ist berechtigt, doch ich kann sie nicht beantworten. Ich stelle die Frage gerne. Ihretwegen schreibe ich diesen Artikel, der sich drei Monate zur Reifung genommen hat. Doch ich kann diese Frage nach der göttlichen Trinität nicht beantworten. Ich glaube einfach an sie. Ich erlebe sie. Gerade weil ich sie gebrechlich und unergründlich, nervenaufreibend erlebe, klebe ich an ihr, kehre Tag für Tag zu ihr zurück, meist im Morgengrauen, wenn mir vor dem, was da draußen passiert, aufs Neue zu grauen beginnt.

    Eine Person spricht. Sie handhabt das Wort. Aus ihr spricht der Geist. Kann ich das stets von mir behaupten? Nein! Doch vielmehr, wie ich erlebe, ein Ungeist hält mich in seinem Bann, einer, dessen Sprache Haß und Vernichtung ist.

    Wenn alles zum Stillstand kommt, so auch der Schlangenkörper der Medusa, der alle griechischen Heroen zu Stein erstarren ließ. Nichts währt ewig, so auch nicht der Haß der Medusa. Und Nosferatu selbst haßte ja nicht. Er war nur maßlos zornig auf den Schöpfer. Auf den, der ihm, vermeintlicherweise, durch türkischen Verrat die Geliebte, die vom Turm in den Tod gesprungen war, geraubt hatte, sodaß er sich gezwungen sah, dem Herrn, dem Heiland, in dessen Bildnis in der Burgkapelle, in dessen Herz das Schwert zu stoßen. Nichts währt ewig, so sagt das Volk, doch Liebe, auch wenn es das mitleidige Volk – oder Einzelne – nicht glauben, wohl.

    Wer kann schon von Ewigkeit sprechen? Wer vermag sie zu ermessen? Wer vermag die Würde des Menschen, die Würde der menschlichen Person, zu ermessen? Wird diese Person zerrinnen? Wird sie sich in Staub auflösen? Ja. Das sagt der Verstand. Doch dann, am Ende der Zeit, wird sie wiederauferstehen, als jene Person, als die sie der Schöpfer von Anbeginn an geschaffen hatte.

    Das prägnanteste Zitat zur Würde des Menschen hat meines Erachtens ein Pole geäußert. „Das Schicksal des Menschen ist es, ewig zu leben.“ Das schrieb er in einem Buch mit dem bezeichnenden Titel: „Die Schwelle der Hoffnung überschreiten“. Ja, Hoffnung. Ein auch in meinem Sprachschatz nur allzu vernachlässigtes Wort. Verzeih mir, o Herr. Ein zerbrechliches Wort, wie es scheint; doch was für eine titanische Geisteshaltung. Hoffnung.

    Wenn wir die Maske ablegen, als Gegürtete. Wenn wir ins Totenreich eingehen, als Stumme. Wenn uns verboten wird zu sprechen. Wenn es uns zurecht verboten wird, in jenem Reich, in welchem ein Engel waltet, ob dunkel oder hell, doch machtvoll im Tod.

    Wenn Elektra, die Rächerin ihres ermordeten Vaters, noch vor der Tat innehält. Wenn Sprache versinkt. Wenn Stille sich über alles senkt, auch über die tiefste Niederträchtigkeit, und auch über den tiefsten Gram. Stille. Und aus den stillen Wiesen steigt weißer Nebel wunderbar.

Schreibe einen Kommentar

Weitere Artikel