Es geschieht
Juli 2018:
Sichtungen einer Anaconda von ca. 10 Metern Länge im nahen Gelände, ebenso einer Jaguarfamilie. Vollmond während zweier aufeinander folgender Ayahuasca-Zeremonien mit einem gut befreundeten Paar aus der Schweiz, mit permanenten Rufen des Schleiervogels. Eule im Garten. Bevorstehender Kauf des an Otorongo angrenzenden Teils von Yushintaita. Komplizierte Kraftakte des Schamanen. Mehrere Totensichtungen während verschiedener Zeremonien. Rückkehr der Titanic in Ayahuasca. Der Planet Titanic, die Titanic mit Namen United States of America.
Yushin, der Herr des Waldes, tritt offen, am helllichten Tag, bei verschiedenen Gelegenheiten sowohl im Dorf wie im Kloster auf, betrachtet ein Mal versunken die sich sonnenden Wasserschildkröten auf den beiden Flößen im Becken, das andere Mal Meister Agustin, dem die toten Indios seiner Jugend nachstellen, und der mit einem Blick den Ernst der Lage erkennt.
Mehrere Bootsfahrer verschwinden oder werden in ihrem Bett tot aufgefunden. Massive verstandesmäßige Korrekturen zur Ernsthaftigkeit des vorgeblich sinnlosen Kampfs gegen die allgegenwärtige Ignoranz und Dummheit der Einheimischen, die sich scheinbar nichts sehnlicher wünschen als einen schmerzlosen Tod, der sie von all diesen unerträglichen Zuständen, die unerklärbar und unauflösbar erscheinen, und dem eigenen Zwang, diese ihre Erde und diesen ihren Fluß mit Wut in Windeseile zu vermüllen, befreit. Einsicht in das kollektive Projekt „Auszug aus dem Sein“. Der Rebell Mensch, wie Franziskus sagt. Der Rebell Mensch. Der sich Auflehnende, der seinen Schöpfer anschreit. Wiederauferstehung mit Wucht der 81-jährigen Shipibo-Großmeisterin Olivia Valera Lomas, am 17.April 2018 in einem Shipibo-Dorf bei Pucallpa von einem Amok laufenden Kanadier mit 5 Schüssen ermordet. Donja Olivia geht noch ein paar Schritte und spricht ihre letzten Worte: „Man hat mich getötet.“ Und bricht zusammen. Sie liegt wie im Sarg mit angelegten Armen und ausgestreckten Beinen in ihrer Stammestracht auf dem Sandboden. Der Kanadier flüchtet und wird von wütenden Einwohnern gestellt. Zwei Männer ermorden ihn nach anfänglichem Zögern an Ort und Stelle wie einen winselnden Hund. Die Angehörigen sprechen im Fernsehen von einem Auftragsmord im Auftrag der „Gringos“.
Mein Lehrmeister Augustinus Karl Wucherer Huldenfeld wurde im März 90. Mein Ziehonkel Prof.Bernhard Winkler, Zisterzienser zu Wilhering, 87. Gnade den Menschen so wie allen, denen ich zutiefst dankbar bin, so wie auch meiner Taufpatin Cäcilia Auer, auch sie 90.
Das herbeigerufene Überschwemmen der Absicht Christi setzt mit sechs Uhr morgens ein, als die Stunde des Wolfs wie Morgennebel sich auflöst. Mehrere Bettler am Markt, ihre Füsse nackt, violett, mittlerweile kälteunempfindlich.
Ich blicke in das Gesicht der Kinder und sehe Christus.
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Harry Dean Stanton
Vor einem knappen Jahr, am 15.September 2017, verstarb dieser Mann, Harry Dean Stanton, im 91.Lebensjahr. Ein Mann ohne Skandale, immer ruhig, immer in Nebenrollen, immer wortkarg. Ein Gesicht, aus dem man nicht lesen konnte. Die pure Gutmütigkeit, und dennoch unlesbar. Ein Leben der Undechiffrierbarkeit. Stanton spielte die Landstreicher, die Rastlosen, die Umhergeher, die Umherwanderer und -fahrer. Er spielte den zeitlosen Zeitzeugen. Er spielte bei Wenders in dessen Paris, Texas mit, den Lebensretter von Nastassja Kinsky, die damals noch drehte. Zuletzt sah ich ihn bei David Lynch, in dessen dritter Staffel von Twin Peaks. Dort, als 90-jähriger Besitzer eines Wohnwagenparks, erlebt er an einer Verkehrskreuzung, an einem stillen, verträumt geschäftigen, zeitlosen Wochentag den tödlichen Unfall eines Kindes, das von einem Verrückten überfahren wird, und sieht die Seele des Kindes in den Himmel schweben. Die Szene wird von Lynch, wie alles bei ihm, wie im Nebenbei eingeflochten. Das Unglaubliche, das Realitätssprengende, geschieht im Nebenbei. Der Allmächtige will es so. Niemand, der es sieht, traut seinen Augen. So treten Engel auf und entschweben wieder. Zurück bleiben Mütter, die auf offener Straße zusammenbrechen. Stanton, ohnedies die meiste Zeit über sprachlos (auch, weil er gar keinen Text hat), steht in der Gegend herum, sieht alles, aber es fehlt ihm die adäquate Sprache für die Ungeheuerlichkeit, und so reißt er die Augen auf und gafft der entschwebenden Lichtseele nach. Das war Stanton: Ein wandelndes Bäumchen, so wie der alterslose Herr des Waldes. Er findet vor lauter zeitlosem Staunen nicht einmal die Kraft, die Hand zu heben und hinzuzeigen, hinaufzuzeigen. Es ist nicht seine Aufgabe, Andere auf die soeben stattfindende Ungeheuerlichkeit hinzuweisen. Er kann nur nachstarren. Stanton ist der Mann in Manhattan, der am 11.September in Sichtweite der beiden Türme in den wolkenlosen blauen Himmel starrt. Er sieht von Beginn an alles, als noch gar nichts geschieht. Das Gehör braucht er nicht. Er braucht nichts zu hören, schon gar nicht das Geschrei der Passanten auf die Explosionen hoch oben hin und auch nicht danach das permanente Gedüdle der Sirenen. Er hat bereits alles gesehen und weiß, jetzt geschieht Mord, jetzt sogleich geschieht Mord, mitten in Manhattan, und es wird tausendfacher Mord sein, und dieser Mord wird ausstrahlen und den Globus in Brand setzen und zu millionenfachem Mord führen
Harry Dean Stanton steht in Twin Peaks, Montana, nahe der Grenze zu Kanada, an einem lauen Arbeitsvormittag im Park und folgt den putzigen Bewegungen des im Gezweige umherhüpfenden Buschzaunkönigs. Stantons Kleidung ist abgetragen, doch bequem. Er steht nahe den Bäumen, wie es seine Lebensart ist. Immer in der Nähe von Büschen und Bäumen. Er sieht und hört die Vögel. Er weiß, der Dämon wird sogleich daherrasen, und er kann nichts dagegen tun. Der Dämon wird rasen und alles, was ihm in die Quere kommt, auffressen. Sein Hunger kennt keine Grenzen. Stanton kennt das Brüllen des Dämons. Er kann es willentlich ausblenden. Gleich regiert der Tod, der Nachhall des Rasens. Der Tod kennt im Anhub keine Grenzen. Die Menschen springen, aus Angst vor dem Feuer. Sie sind in ihrer Panik besinnungslos. Die Zeugen stecken sich die zur Faust geballte Hand in den Mund, um nicht zu schreien. Stanton blickt immer noch hoch. Dann macht er kehrt und setzt sich in Bewegung. Er geht ohne sich umzublicken. Er geht und geht. Er nimmt keinen Bus und kein U-Bahn, denn alles steht. So geht er zu Fuß über die Brooklyn-Bridge. Er denkt nicht an den Blödel Woody Allen. Er denkt gar nichts. Die Sonne scheint immer noch. Die Luft ist von inselweitem Heulen der Sirenen erfüllt, doch Stanton befindet sich im wattegedämpften Traummodus der Lautlosigkeit. Seine Mission ist getan. Der, der ihn beobachtet, ist gerettet. Der, der ihn beobachtet, ist gerettet. Und dann, in einem Moment der Unscheinbarkeit einer alltäglichen, ungezählten, ortslosen Verkehrssituation, ist der Passant verschwunden, und ich frage mich, wo ist der sympathische alte Herr, der da vorhin noch vor meinem staunenden Blick dahinhumpelte, beinahe dahinhumpelte, aber er ging aufrecht, aufrecht trotz seiner 90 Jahre, ich danke ihm für seine 90 Jahre, nicht alle Tage sehe ich einen 90-Jährigen auf der Straße, wo ist er nur hin, der freundliche, schlaksige Herr, der doch gar nicht hierher, nach Brooklyn, gehörte? Und ich recke den Hals und versuche, um einen klobigen Bus herumzublicken, aber nein, da ist nichts und niemand mehr, und ich bin wieder allein wie ein Leben lang zuvor. Alleine in einer Verkehrssituation, wo alles verstopft still steht und nichts mehr geht. Der Engel beliebt mit mir zu spassen, sage ich mir da, zur Not, wie es eben sein himmlisches Vorrecht ist, auch wenn ich mir aus Wut in die Hand beißen könnte wie Florinda Donner-Grau bei Castaneda im Park der University of California Los Angeles im Jahr des Herrn 1970. Vielleicht finde ich ihn dort, den Engel, diesen hageren Herrn. Wann edlich begegne ich ihm wieder, und sei es, wenn er mich abholt? Wann denn? Wann denn?
Ach du mein Gott. Was waren Sie nur für ein Mann, Harry Dean Stanton. Ich werde jetzt nicht schluchzen. Sie sind bereits in eulysischen Gefilden. A lot of thanks, nevertheless, Sir!
Über den Feldern
11.November 1918
„Vom 29. Oktober bis zum 4. November fand in Paris eine Konferenz der alliierten Kriegskoalition statt, in der über die Waffenstillstandsbedingungen beraten wurde. Die deutsche Kombination von Friedensangebot und Waffenstillstandsersuchen wurde als Eingeständnis der Niederlage gedeutet. Der amerikanische Vertreter Edward Mandell House konnte auch deswegen die Premierminister Georges Clemenceau und David Lloyd George nicht mehr vollständig auf das 14-Punkte-Programm festlegen, so dass in der sogenannten Lansing-Note vom 5. November zwei gravierende Verschärfungen formuliert wurden: die Freiheit der Meere (damit auch die Aufhebung der Blockade) werde erst in späteren Verhandlungen geregelt und die „Wiederherstellung der besetzten Gebiete“ beinhalte die Forderung nach umfassenden Reparationen. In Berlin traf die Antwort am 6. November ein, wo angesichts der um sich greifenden Novemberrevolution und aufgrund des Druckes aus der OHL schon daran gedacht wurde, auch ohne Antwort eine Delegation mit weißer Fahne über die Frontlinie zu schicken. Ursprünglich war General Erich von Gündell als Erster Bevollmächtigter der Waffenstillstandskommission vorgesehen, das Auswärtige Amt bestimmte in Abstimmung mit der Reichskanzlei kurzfristig Staatssekretär Matthias Erzberger (Deutsche Zentrumspartei) zum Leiter. Die vierköpfige Delegation (bestehend aus Erzberger, einem Diplomaten und zwei hohen Offizieren) überschritt auf dem heutigen Gemeindegebiet von La Flamengrie am 7. November die Frontlinie und traf am frühen Morgen des 8. Novembers auf der Lichtung von Rethondes im Wald von Compiègne ein, wo Marschall Ferdinand Foch im „Wagen von Compiègne“ die als sehr hart empfundenen Waffenstillstandsbedingungen verlesen ließ. Hindenburg forderte die deutsche Delegation am Abend des 8. November in zwei – teilweise unverschlüsselten – Depeschen ausdrücklich auf, die Bedingungen auch dann zu akzeptieren, wenn keine Verbesserungen möglich seien. In den folgenden Verhandlungen konnten nur geringfügige Erleichterungen erreicht werden. Am Morgen des 11. November zwischen 5:12 Uhr und 5:20 Uhr französischer Zeit unterzeichneten beide Delegationen den Waffenstillstand von Compiègne. Dieser sah unter anderem die Räumung der von der deutschen Armee besetzten Gebiete binnen 14 Tage sowie des linken Rheinufers und dreier Brückenköpfe in Mainz, Koblenz und Köln innerhalb von 25 Tagen vor. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk und der Friede von Bukarest mussten aufgehoben sowie große Mengen von Transportmitteln, Waffen und erhebliche Teile der Flotte abgegeben werden, um dem Reich die Weiterführung des Krieges praktisch zu verwehren. Der Waffenstillstand trat um 11 Uhr französischer Zeit in Kraft (12 Uhr deutscher Zeit) und war zunächst auf 36 Tage begrenzt, beendete jedoch faktisch den Krieg.“ (Zitat Wikipedia)
It was the first time since 1940 that leaders from the two countries had met at the historic site, where Marshal Ferdinand Foch, supreme commander of the western front, signed the ceasefire agreement with Germany in a railway carriage.
On Saturday, as the French and German national anthems were played, the sun briefly broke through and the chancellor rested her head on the president’s. The two leaders laid a wreath and unveiled a plaque celebrating their reconciliation. They then signed the visitors’ book in a replica of Foch’s railway carriage, known as the Compiègne Wagon, where in an act of revenge Adolf Hitler forced France to sign its capitulation in June 1940.
“We owe it to our soldiers,” said Macron afterwards. Symbolically, he and Merkel sat side by side and not face to face as the French and German representatives had in 1918 and 1940.
In Compiègne, 80 miles north-east of Paris, Jean-Claude Tranchant, one of the French flag-bearers at the ceremony, said he had been marking the armistice for 25 years. “I am very happy Mme Merkel is here today. It is logical that she is with us for the centenary. I think everyone is happy she is here. It’s symbolic for our country and internationally. It’s also important for the younger generation and the future,” he said.
In November 1918, in the clearing that would become known as the Glade of the Armistice, Foch sat in a dining car that had been converted into an office, with his team, including the British admiral Sir Rosslyn Wemyss. The Germans arrived in another train. After days of talks, the Germans agreed to sign the Armistice at 2.05am, walked a few yards to Foch’s carriage and signed at 5.10am.It was a cold damp morning and the 1,561th day of the war, and the atmosphere inside the carriage was as chilly as outside. When the document was signed, Foch stood but refused to shake hands with the Germans. “Eh bien, messieurs, c’est fini. Allez,” he said. (“So, gentlemen, it’s finished. Go.”)
The Elysée said Merkel’s visit to Compiègne was “highly symbolic”. “It’s the first time French and German leaders have visited the site since the second world war,” the presidential palace said, suggesting the event echoed the moment that chancellor Helmut Kohl and President François Mitterrand appeared hand-in-hand at Verdun in 1984.
German-born Marius Stieghorst, artistic director at the Orléans Symphonic Orchestra, composed a “hymn to peace” to be performed during the weekend commemorations.
“The Great War was above all a war of sounds, the whistling of the shells for example … many soldiers died because they didn’t listen to the sounds,” Stieghorst said in an interview.
He described his emotion at finding a recording of the minutes before and after the armistice. “What we have is one of the great perversities of the war. We hear the sound of ‘normal’ war two minutes before. Everyone knew the war would end, but you hear the exchanges. One minute before there is something unimaginable; everyone, the Americans, Germans, English, French started firing like madmen against the enemy. We hear the greatest chaos you can imagine. I don’t want to know how many soldiers were dead the last minute of the great war, knowing in one minute peace would happen. This was very moving for me. We have done an orchestral improvisation on that moment, to transform that perversity.” (Zitat The Guardian, 11.November 2011)
Es soll nicht geschehen
Eine Mutter geht durchs Leben. Sie hat stets kalte Hände. Ihr Gatte, ein aufmerksamer Kavalier, weiß darum. Andere merken es beim Händeschütteln zwar auch, gehen jedoch gefließentlich darüber hinweg. Jeder hat ja mal kalte oder schwitzende Hände. Der Gatte weiß, meine Frau schwankt kraß zwischen Hoch und Tief. Mal ist sie lebenslustig, mal ist sie zutiefst verängstigt. Er realisiert nicht, daß seine Frau sich ausgerechnet um ihn sorgt. Obwohl er den Gedanken seiner Frau kennt, will er ihn sich selbst gegenüber nicht eingestehen: Die Familienmutter mutmaßt, ihr Mann könne heimlich fremd gehen und dabei gar nicht merken, was er da tue. Die Familienmutter wird nächtens von einem quälenden Gedanken heimgesucht: Mein Mann ist von einer Anderen verhext, und er merkt es nicht einmal. Er merkt nicht einmal, was er da tut, wenn er bei ihr die Hosen hinunterläßt. Er meint vielleicht, sie ist ich. Was sucht er bei ihr, was ich ihm nicht gebe?
Ein andere, Mutter von Töchtern, findet schon lange kein Glück mehr mit ihrem Ehegespons. Ein fader Mann, für den sie nichts mehr empfindet. So bekundet sie offen. Bei Tag flutet ihre Phantasie lebhaft durch die Straßen. Sie weiß, welcher Mann ihr gefällt und hegt keine Scheu, den poteniellen Galan anzusprechen. Sie weiß, welcher Mann Qualität repräsentiert, doch gleichzeitig weiß sie auch, all dies ist nur ein Arrangement auf Zeit. Irgendwann werde ich auch dieses Mannes überdrüssig sein und werde mich schlußendlich gezwungen sehen, ihn aus unserem provisorischen Bett hinauszuekeln. Wie so viele andere auch – Männer wie Frauen – denkt sie während des Beischlafs an einen Anderen. Sie ist eine intelligente Frau. Manches sieht sie kristallklar. Sie ist überzeugt, das, was sie tut, gehört getan und fordert geradezu sein Recht. Den Ruf ihres Körpers hat sie nie mißachtet.
Ein Mann befindet sich in einer delikaten Position. Er ist Militär. Er dient in einem Corps, das verdeckte Operationen durchführt, Operationen im eigenen Land. Ein Spezialist der Luftwaffe, in Uniform. Kein Mann in Zivil, kein Agent von FBI, CIA, NSA, DEA oder gar des Secret Service, zum Schutz des Präsidenten abgestellt. Der Mann ist ein Techniker. Er bedient eine Waffe, die er zwar nicht selbst erfunden hat, die er jedoch mittlerweile so gut kennt, daß er sie auf Befehl präzise (und tödlich) einzusetzen versteht. Ein Offizier, der im Einsatz freie Hand genießt. Sein Einsatzbefehl hat Rahmencharakter. Er kann für nichts belangt werden. Der Mann hat ein junge Frau und eine Tochter. Er entschloß sich, eine Familie zu gründen, weil er meinte, für sein seelisches Gleichgewicht mögen Frau und Kind dienlich – warum nicht zweckdienlich? – sein. Die Frau ist zwar nicht optimal, doch auch kein Fiasko. Genau betrachtet, sagt sich der Luftwaffenoffizier, habe ich es gar nicht so schlecht erwischt. Immerhin ist meine Frau bodenständig und nicht überdreht. Eine Überdrehte hätte ich nicht lange ausgehalten. Vielleicht hätte ich sie sogar umgebracht. Doch die meine hat Realitätssinn. Unser Auto fährt sie souverän. Das ist viel wert. Sie fragt nicht, was ich mache. Sie hält sich an die Abmachung. Ich kann ihr ja auch gar nichts sagen. Selbst wenn ich nur in Verschwiegenheit ihr gegenüber ausplaudere, laufe ich ernsthaftes Risiko, innerhalb kürzester Zeit ein toter Mann zu sein. Und nicht nur ich. Befehl ist Befehl. Sie weiß, ich bin in Unternehmen eingesetzt, die nicht öffentlich diskutiert werden. Sie weiß sogar, meine Einheit kann ganz vorne eingesetzt werden. Sie weiß, wenn es zum Ernstfall kommt, wird sie zeitgerecht evakuiert, sie und die Tochter, so wie die Familien der Männer meiner Einheit. Evakuation nach Colorado. Im Schlimmstfall. Das rechne ich meiner Frau hoch an: Diesen Pragmatismus, den sie angesichts meines Berufes an den Tag legt. Sie ist zufrieden mit ihrer Rolle als Hausfrau. Besser so. Besser auch für meine Tochter. Meine Tochter ist stolz auf mich. Was kann mir Besseres passieren?
Ein junger Mann hat bereits in jungen Jahren eine Vision. Die Vision schlägt ihn geradezu nieder. Eine Vision des landesweiten Gefängnisses. Der junge Mann kommt aus einfachen Verhältnissen. Sein Vater, ein Eisenbahner, wohnt direkt am Bahnhof in einer Eisenbahnerwohnung. Seine Mutter geht putzen. Der junge Mann sagt sich: „Das ist meine Familie. Das habe ich von ihr zu erwarten. Nichts. Mein Vater wird früh sterben, meine Mutter mich nicht verstehen. Wie denn auch soll meine Mutter Antworten haben auf meine Fragen? Meine Fragen sind weit gegriffen und lassen sich kaum in Worte fassen. Fragen zum KZ. Eines weiß ich jedoch: Ich werde mich niemals ins KZ einliefern lassen und beim Krieg werde ich ebenso wenig mitmachen. Was also bleibt mir übrig? Ich weiß es noch nicht.“ So sprach der Alex, der Unvergessene. Wahrscheinlich ist er schon lange tot. Er führte eine Trinkerexistenz am alten Linzer Bahnhof. Er wußte, seine Optionen waren von Anfang an strikt beschränkt. So dünkte es ihn. Er wußte, er war von Anfang an ein Todeskandidat. Doch ihn beweine ich. Einer der wahrlich Unvergessenen. Was für eine Wucht, mit der er aufersteht, wie ein Phönix aus seiner Asche.
Und zuletzt ein treuer Diener der Botschaft in Lima, ein dankenswert Bedachter: „Herr Dr.Himmelbauer, gehen Sie Ihren Weg in Christus. Ströme von Gewalt und Blut überfluten uns aus dem Fernsehen heraus. Es ist nur mehr unerträglich. Sie leben im Paradies. Beten Sie für uns. Das Außenamt ist ein delikates Ministerium, doch ich bin dankbar. Hier lerne ich, wahrhaftig zu sprechen, und Bedacht zu nehmen für mein Gegenüber.“
Öffentliches Morden
Manche Menschen stehen unter schwerem Schock, so wie am 11.September 2001. Manche Griechen, manche Kalifornier. Allesamt fragen sich: wie konnte das möglich sein? Wie konnte so etwas möglich sein? Eine grauschwarze, riesige Wolke, die den Tag zur Nacht macht. Lichterloh brennende Autos und Gebäude, die sich selbst von beharrlichen Wassergüssen aus Feuerwehrschläuchen nicht löschen lassen. Gebäude, die geradezu explodieren. Brandquellen, die noch Tage später wie vergessen und vereinsamt dahinbrennen. Bäume, die von innen ausbrennen. Vollkommen ausgebrannte Autowracks auf Straßen durch unbeschädigte Weingärten, wie vergessene Nadelstiche vollkommener Zerstörung durch eine Strahlenwaffe. Aufgesprengte Straßen. Geschmolzene Leitplanken. Vollkommen ausgebrannte, verkohlte, zerschmolzene Autos, die auf Achse stehen. Keine Spur von den Rädern. Aluminiumfelgen zerschmolzen. Sicherheitsschlösser aus Newton-Stahl verbogen. Bewaffnetes Militär, das alles abriegelt und Zuückkehrenden den Zugang zu ihrem in Asche verwandelten Anwesen verwehrt. Der Schock im griechischen Mati sitzt noch tiefer als in Kalifornien, denn die 99 toten Griechen raffte es innerhalb von Minuten, wenn nicht Sekunden hinweg, die meisten in ihren im Stau auf der Straße festhängenden Autos. Eine Feuerwalze von weit mehr als tausend Grad kommt wie unter schwerstem Sturm mit 123 km/h dahergerast. „Das Verhalten der Flammen noch nie so gesehen und unerklärlich“, sagt ein Feuerwehrmann. Die Löschmannschaften arbeiten unter lebensbedrohlichen Bedingungen. Sie wissen nicht, daß sie vergeblich gegen Brandbeschleuniger kämpfen, Aluminiumoxyd. Das Niederbrennen der 14.000 Gebäude und mehr wird völlig unverfroren durch Funkenflug erklärt. Thomas Gottschalk so wie viele andere Hausbesitzer (Gerald Butler etwa) unter schwerstem Schock. Sein Haus wurde punktgenau und total in Asche verwandelt, in Malibu. Er lebte in einem selbstgeschaffenen Paradies nach holländischen Vorbild: Windmühle, Grachten. Seine Kinder wuchsen in diesem Paradies heran.
Die kalifornischen Männer aus Paradise, denen es, so wie dem Heros F.F., den ich persönlich kenne, gelingt, ihre Familie im Auto zu retten, werden zu Vätern des Jahres. Daran gibt es keinen Zweifel. Sie steuern. Sie kennen die Wege. Sie überholen. Sie sehen, an der Kreuzung unrettbarer Stau. Allgemeine Panik. Sie entscheiden in der Sekunde und reversieren, fahren nach Paradise zurück und nehmen eine andere Ausgangsstraße. Es gibt nur deren drei. Einer sieht sich deshalb gezwungen, wie ein unerschrockener Pfadfinder einen Waldweg zu nehmen. Schwerste Bedingungen, doch seltsamerweise nicht die 1.000 oder 1.500 Grad Celsius, die Stahl verbiegen und gesamte Anwesen so wie zu 9-11 in Asche verwandeln. Sie fahren unbeirrt durch die Feuerhölle. Die Goodyear-Reifen halten. Die Gattin nebenan, das Handy im Videomodus unbeirrt in der Hand, beginnt laut und deutlich zu beten. „Vater unser im Himmel, ich bitte Dich, rette uns! Vater im Himmel, großer Gott, bitte laß uns nicht sterben! Wir sind eine Familie. Großer Gott, du der Alleinige und Wahre, laß uns bitte unbeschadet aus dieser Hölle herauskommen!“ Der Mann, F.F., hält eisern das Volant fest. Er stoppt kurz und orientiert sich. Er weiß, wo er ist und fährt weiter. Dann, plötzlich, es ist tiefste Nacht, die Scheinwerfer erhellen das Inferno, auf einmal, wie von Geisterhand weggezogen, strahlendes, klares Blau. Der Mann läßt die Fenster hinunter. Frischluft! Seine Geschwindigkeit behält er bei. Die Gattin verfällt in einen Weinkrampf. „Großer Gott, aus tiefstem Herzen danke ich dir, daß du uns verschont hast.“ Sattes Weinen. F.F. weiß in diesem Moment, ich bin mit einer Götterfrau verheiratet.
Dies war am 23.Juli 2018, mitten im Hochsommer, im Griechischen Mati zur vollen Mittagszeit nicht der Fall. Niemand entkam im Auto. Manche verließen ihre Autos und flüchteten mitten in der hereinbrechenden Dunkelheit in heilloser Panik zur Steilküste. Dort gab es kein Entkommen. Manche stürzten sich in den Tod. Andere umklammerten einander und gingen so gemeinsam, wie bei einem Schiffsuntergang, in den Tod. Nur ein paar Skelette blieben zurück, die anderen Asche. Der griechischen Feuersbrunst fielen 99 Menschen zum Opfer, mehr als bei den kalifornischen Bränden. Im Verhältnis ungleich mehr. Das griechische Innenministerium bat das amerikanische Militär um Unterstützung beim Ausforschen etwaiger Brandleger, da es wußte, es hatte kurz zuvor Drohnen über das Gebiet fliegen lassen.
Für uns Europäer wiegt Griechenland ungleich schwerer. Das Mutterland der Demokratie. Und niemand der dortigen Griechen ahnte diesen Sekundentod, mitten im Stadtzentrum von Mati, um 13:00, zur vollen Mittagszeit. Alle in Badekleidung unterwegs. Hochsommer. Die unangekündigte Apokalypse. Der Krieg. Der nicht erklärte und der nicht beendete Krieg. Der mutige Mensch kann jetzt nur mehr an den Ort des Verbrechens fahren und mit seiner Spurenlese beginnen. Immerhin: Jetzt sind wir gewarnt. Doch wer kehrt nach Paradise zurück? Dies ist eine berechtigte Frage.
Und wer übernimmt die Verantwortung? Wer übernimmt die Verantwortung am Tag des Gerichts?
Aufbruch
Gestern funkte mich FF aus Kalifornien an. Seine Stimme klang unverwüstlich. Ich war ihm dankbar. Er hat zwar meine Beiträge nicht gelesen, denn er versteht kein Deutsch, doch er weiß, ich denke Tag und Nacht an ihn. An ihn wie an seine Familie. Ich sehe die Flucht jeden Tag. FF bestätigte mir die Ahnung, die sich bereits festgesetzt hatte, als ich an die Zukunft dachte. Was wird er machen? Jetzt weiß ich es. „Hi man“, schrieb er. „Ich kehre nach Paradise zurück. Jetzt weiß ich wenigstens, wie spät es ist. Ich will es wirklich wissen.“ Er hat den Fall noch nicht mit seiner Frau endgültig ausdiskutiert. Es geht um die Kinder. Doch er will wieder aufbauen, und sei es nur eine symbolische Hütte auf seinem Grund, diesmal mit hitzeisoliertem Betonkeller. Er wird sich mit Nachbarn kurzschließen. Sein Entschluß hat auch bei mir einiges verändert. Wohl doch. Mal sehen, wie es anhält.
Karwoche 2019
Eine dichte Woche, die einem die Sprache verschlagen könnte und mich ins Staunen bringt:
Tiger Woods gewinnt am Palmsonntag das Masters von Augusta zum fünften Mal, nach 15 Jahren, wie ein wiederauferstandener Phönix, nach Jahren des Durch-die-Hölle-Gehens, moralisch und körperlich gebrochen. Nicht einmal er selbst hatte daran geglaubt.
Einen Tag später, am Montag, den 15.April, brennt Notre Dame de Paris im Herzen der Seine-Metropole. Die christliche Welt ist erschüttert. Noch während des Brandes stimmen Französinnen am Ort des Geschehens christliche Choräle an, während hunderte, wenn nicht tausende moslemische Facebook-Nutzer ihre Genugtuung ausdrücken. Brandursache nach wie vor ungeklärt. Erste mysteriöse Filmdokumente mit Männern am Dach bzw. im Turmgang tauchen im Netz auf.
Die Meldung über den Lawinentod des österreichischen Extrembersteigers David Lama (28) und dessen Freund Hansjörg Auer (35) sowie des US-Amerikaners Jess Rosskelley (36) in den kanadischen Rocky Mountains erreicht uns. David Lama, Opfertod einer charimatischen Ikone, aussöhnendes Vorbild für viele Menschen.
Schachweltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen gewinnt mit einer brillianten Leistung und großem Vorsprung das Vugar Gashimov-Memorial in Shamkir, Azerbaijan. Eine in jeder Hinsicht durch und durch erstaunliche Demonstration der Fähigkeiten des menschlichen Geistes. Vugar Gashimov war azerbaijanischer Großmeister und starb mit 28 Jahren an einem Gehirntumor.
Am 2.April jährte sich zum 13.Mal der Todestag von Frau Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg, Witwe von Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Witwe wurde 92 Jahre alt.
In den Zeremonien in Otorongo gedenken wir zu dieser Zeit ganz besonders all der Suizidanten dieser Welt. Alle 40 Sekunden stirbt ein Mensch von eigener Hand.
Nachtrag heute, Ostersonntag: Ein Anschlag auf kirchliche und soziale Einrichtungen in Sri Lanka fordert mindestens 200 Menschenleben sowie mehrere hundert Verletzte. Wer ist imstande, so etwas zu tun?