[Die folgenden 3 Parafen stellen Auszüge aus Wikipedia dar. W.H.]

A) „Gott ist tot“ – Der „europäische Nihilismus“

Mit dem Stichwort „Gott ist tot“ wird oft die Vorstellung verbunden, dass Nietzsche den Tod Gottes beschworen oder herbeigewünscht habe. Tatsächlich trifft dies nur in einem gewissen Sinne zu. Nietzsche verstand sich hier vielmehr als Beobachter. Er analysierte seine Zeit, vor allem die seiner Auffassung nach inzwischen marode gewordene (christliche) Moral. Nietzsche war zudem nicht der Erste, der die Frage nach dem „Tod Gottes“ stellte. Hegel äußerte diesen Gedanken bereits 1802 und sprach von dem „unendlichen Schmerz“ als einem Gefühl, „worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl: Gott selbst ist tot“.

Die bedeutendste und meistbeachtete Stelle zu diesem Thema ist der Aphorismus 125 aus der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel „Der tolle Mensch“. Der stilistisch dichte Aphorismus enthält Anspielungen auf klassische Werke der Philosophie und Tragödie. Dieser Text lässt den Tod Gottes als bedrohliches Ereignis erscheinen. Dem Sprecher darin graut vor der Schreckensvision, dass die zivilisierte Welt ihr bisheriges geistiges Fundament weitgehend zerstört hat:

„Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? […] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder?“

Dieser unfassbare Vorgang würde gerade wegen der großen Dimension lange brauchen, um in seiner Tragweite erkannt zu werden: Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Und weiter wird gefragt: Ist nicht die Größe dieser Tat [Gott getötet zu haben, Anm.] zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Unter anderem aus diesem Gedanken heraus erscheint später die Idee des „Übermenschen“, wie sie vor allem im Zarathustra dargestellt wird: „Tot sind alle Götter: nun wollen wir, dass der Übermensch lebe.“

Das Wort vom Tod Gottes findet sich auch in den Aphorismen 108 und 343 der Fröhlichen Wissenschaft; das Motiv taucht auch mehrmals in Also sprach Zarathustra auf. Danach verwendete Nietzsche es nicht mehr, befasste sich aber weiter intensiv mit dem Thema. Beachtenswert ist hier etwa das nachgelassene Fragment „Der europäische Nihilismus“ (datiert 10. Juni 1887), in dem es nun heißt: „,Gott‘ ist eine viel zu extreme Hypothese.“

Nietzsche kam zu dem Schluss, dass mehrere mächtige Strömungen, vor allem das Aufkommen der Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft, daran mitgewirkt haben, den christlichen Gott unglaubwürdig zu machen und damit die christliche Weltanschauung zu Fall zu bringen. Durch die Kritik der bestehenden Moral, wie Nietzsche selbst sie betrieb, würde die Moral hohl und unglaubwürdig und bräche schließlich zusammen. Mit dieser radikalisierten Kritik stand Nietzsche einerseits in der Tradition der französischen Moralisten wie etwa Montaigne oder La Rochefoucauld, die die Moral ihrer Zeit kritisierten, um zu einer besseren zu gelangen; andererseits betonte er mehrfach, nicht nur die Heuchelei von Moral, sondern die herrschenden „Moralen“ selbst – im wesentlichen immer die christliche – zu bekämpfen. Um dies in einen Begriff zu fassen, bezeichnete er sich selbst als „Immoralist“.

Es besteht heute weitgehende Übereinstimmung, dass Nietzsche sich nicht als Befürworter des Nihilismus sah, sondern ihn als Möglichkeit in der (nach-) christlichen Moral, vielleicht auch als eine geschichtliche Notwendigkeit sah. Über den Atheismus Nietzsches im Sinne des Nichtglaubens an einen metaphysischen Gott sagen diese Stellen wenig aus, siehe hierzu den Abschnitt Kritik an Religion, Metaphysik und Erkenntnistheorie.

B) Gott-ist-tot-Theologie

Der Titel des Time-Magazins vom 8. April 1966 und der Leitartikel bezogen sich auf eine Bewegung in der US-amerikanischen Theologie, die in den 1960er Jahren unter dem Schlagwort „death of God“ bekannt wurde. Die Gott-ist-tot-Theologie ist nach einem Nietzsche-Zitat benannt, das sich u.a. in Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft findet. Sie wird manchmal auch als „Theothanatologie“ bezeichnet, was aus den griechischen Begriffen theos („Gott“) und thanatos („Tod“) herzuleiten ist.

Die Hauptvertreter dieser Theologie waren die christlichen Theologen Gabriel Vahanian, Paul van Buren, William Hamilton und Thomas J. J. Altizer sowie Rabbi Richard Rubenstein.

1961 wurde Vahanians Buch The death of God publiziert. Vahanian erklärte, die moderne säkulare Kultur habe jeden Sinn für das Sakrale verloren, kenne keine sakramentale Bedeutung, kein transzendentes Ziel oder Vorsehung. Er folgerte, für den modernen Geist sei Gott tot. In Vahanians Vision ist eine transformierte nachchristliche und postmoderne Kultur nötig, um eine erneuerte Erfahrung des Göttlichen zu schaffen.

Van Buren und Hamilton stimmten darin überein, der Begriff der Transzendenz habe jede Bedeutung im modernen Denken verloren. Nach dessen Normen ist Gott tot. Als Antwort auf diesen Zusammenbruch der Transzendenz boten Van Buren und Hamilton säkularen Menschen die Entscheidung für Jesus als dem vorbildlichen Menschen an, der in Liebe handelte. Die Begegnung mit dem Christus des Glaubens werde in einer kirchlichen Gemeinschaft eröffnet.

Altizer schlug eine radikale Theologie des Todes Gottes vor, die sich auf William Blake, Hegelsches Denken und Nietzsches Ideen stützte. Er begriff Theologie als eine Form der Poesie, in der die Immanenz (Gegenwart) Gottes in Glaubensgemeinschaften erfahren werden könne. Jedoch erkannte er nicht mehr die Möglichkeit an, an einen transzendenten Gott zu glauben. Altizer schloss, dass Gott in Christus Mensch geworden sei und seinen immanenten Geist weiter gegeben habe, der auch nach dem Tod Jesu in der Welt blieb, womit er im Gegensatz zu neutestamentlichen Aussagen wie 1 Petr 1,2 EU stand. Anders als Nietzsche glaubte Altizer, Gott sei wirklich gestorben. Er wird als der führende Vertreter der Gott-ist-tot-Theologie angesehen.

Der jüdische Denker Richard Rubenstein, dem unter anderem die Prägung des Begriffs Genozid zugeschrieben wird, versuchte die Schockwirkung des Holocaust auf radikale Weise zu durchdenken. Auf der Grundlage der Kabbalah hielt er im formalen Sinn daran fest, dass Gott bei der Erschaffung der Welt „gestorben“ sei. Jedoch argumentierte er, für die moderne jüdische Kultur sei der Tod Gottes in Auschwitz eingetreten. Obwohl dieser nicht im wörtlichen Sinn an diesem Punkt geschah, war es der Zeitpunkt, an dem die Menschheit zu dem Gedanken erwachte, dass ein theistischer Gott nicht existiere. In Rubensteins Werk war es nicht länger möglich, an einen Gott des Abraham-Bunds zu glauben, der der allmächtige Urheber des historischen Dramas ist, denn dann müsse Hitler sein unwissentliches Werkzeug sein. Auch die Lehre der Erwählung des jüdischen Volks gibt er auf, es hat keine entscheidende Rolle in der Heilsgeschichte, der Gott der Geschichte ist gestorben. Die Natur lässt individuelle Formen entstehen und negiert sie. Dieser Sinn für das Tragische oder auch die Ironie menschlicher Existenz wirkt technologischer und ideologischer Hybris entgegen. Rubenstein steht Nietzsches Idee der ewigen Wiederkehr nahe, von der dieser sagte: „Es ist die wissenschaftlichste aller möglichen Hypothesen. Wir leugnen Schluß-Ziele: hätte das Dasein eins, so müßte es erreicht sein.“

Hier sieht sich Rubenstein im Gegensatz zu Altizer, der an der christlichen Eschatologie festhält: In Jesus ist der Messias gekommen, und „wir wissen, dass er in seinem Wort gegenwärtig ist, und dieses Wort versöhnt die Welt mit sich selbst.“ Die „Inkarnation bleibt ein zentrales historisches und theologisches Ereignis, das es unmöglich macht, an einen transzendenten Gott zu glauben; Gott ist in die Geschichte gestorben. Stattdessen ist die Inkarnation – als reales und anhaltendes Ereignis – das Versprechen und die Möglichkeit der letztlichen Transformation und Erlösung der Welt im Hier und Jetzt.“ Sie ist ein kontinuierlicher Prozess des Heiligen, das profan wird, und der Auferstehung des Profanen in einer schließlich heiligen Form.

Vertreter außerhalb der USA waren der anglikanische Bischof John A. T. Robinson und die deutsche Theologin Dorothee Sölle. Sie waren u.a. beeinflusst durch Dietrich Bonhoeffers Frage nach einem religionslosen Christentum.

Nachwirkungen und Kritik:

Das Anliegen der Gott-ist-tot-Theologie stößt bis heute in weiten Teilen der christlichen Kirchen auf Unverständnis und Ablehnung. Dagegen sehen Stephen R. Haynes und John K. Roth darin eine neue Art der Verbindung zwischen theologischer Reflexion und gegenwärtiger Erfahrung. Besonders das Nachdenken über den Holocaust bewerten sie als Impuls zu einem Gespräch derjenigen, die an der Beziehung von Theologie auf das Überleben der Menschheit interessiert sind.

Hubert G. Locke kritisiert die weiße, westlich orientierte Perspektive und weist darauf hin, dass etwa Harvey Cox in Stadt ohne Gott? die Erfahrungen der religiös geprägten afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ignoriert. Der Tod Gottes sei in der Theologie im gleichen Jahrzehnt proklamiert worden, in dem schwarze Christen ihre politische Motivation aus dem Glauben an den Gott des Exodus bezogen. Schwarze und radikale Theologen lasen Bonhoeffer auf ganz unterschiedliche Weise. Während diese die Mündigkeit der Welt betonten, die ohne Gott auskomme, hörten jene seinen Ruf zum Leiden mit Christus in der Geschichte. Obwohl der Holocaust die Fortschrittsidee der Aufklärung zur Parodie habe verkommen lassen, hätten radikale Theologen die Illusion westlicher Humanität nicht aufgegeben, sondern es weniger beunruhigend gefunden, den endgültigen Untergang eines Gottes zu verkünden, den die westliche Tradition intellektuell nutzlos fand.

Gerade angesichts von „Auschwitz, Hiroshima und der Südafrikanischen Union“ halten jüdische Theologen wie Arthur Lelyveld, Norman Lamm, Emil Fackenheim oder Eugene Borowitz transzendente Normen für notwendig:

„Und hier stehen wir, gefangen und eingesperrt in ein Paradox: Wenn solche schrecklichen Dinge geschehen, wie können wir an Gott glauben? Aber wenn wir nicht an Ihn glauben als den Maßstab, der unsere menschlichen, bestialischen, animalischen Neigungen übersteigt und von uns verlangt, mehr zu sein als wir sein möchten, warum protestieren wir so sehr? Wir lehnen uns auf, weil wir wissen, dass wir mehr sind als das, als was wir uns sehen, dass wir ständig danach streben müssen, mehr zu sein als wir sind, dass die menschliche Geschichte nicht weitergehen darf wie bisher. Gott verlangt das von uns, selbst wenn wir mit Ihm streiten.

C) In geistiger Umnachtung (1889–1900)

Anfang Januar 1889 erlitt Nietzsche in Turin einen geistigen Zusammenbruch; kleine Schriftstücke – „Wahnzettel“ – die er an enge Freunde, aber auch zum Beispiel an Cosima Wagner und Jacob Burckhardt sandte, waren eindeutig vom Wahnsinn gezeichnet. Als Ursache für den Zusammenbruch wurde progressive Paralyse als Folge von Syphilis vermutet. Diese Diagnose und die Ursache für Nietzsches Krankheitsbild überhaupt bleiben allerdings zweifelhaft und sind bis heute umstritten.

Der durch die Wahnzettel an Burckhardt und ihn selbst alarmierte Overbeck brachte Nietzsche zunächst in ein Irrenhaus in Basel. Von dort wurde der inzwischen geistig vollständig Umnachtete von seiner Mutter in die Psychiatrische Universitätsklinik in Jena unter Leitung Otto Binswangers gebracht. Ein Heilungsversuch Julius Langbehns, der von sich aus Kontakt zur Mutter aufgenommen hatte, scheiterte. 1890 durfte die Mutter ihn schließlich bei sich in Naumburg aufnehmen. Zu dieser Zeit konnte er zwar gelegentlich kurze Gespräche führen, Erinnerungsfetzen hervorbringen und unter einige Briefe von der Mutter diktierte Grüße setzen, verfiel jedoch schnell und plötzlich in Wahnvorstellungen oder Apathie und erkannte auch alte Freunde nicht wieder.

Über das weitere Verfahren mit den teilweise noch ungedruckten Werken berieten zunächst Overbeck und Köselitz. Letzterer begann eine erste Gesamtausgabe. Gleichzeitig setzte eine erste Welle der Nietzsche-Rezeption ein.

Die Schwester kehrte nach dem Suizid ihres Mannes 1893 aus Paraguay zurück, ließ bald die Köselitzsche Ausgabe einstampfen, gründete das Nietzsche-Archiv und übernahm Stück für Stück die Kontrolle über Nietzsche und die Herausgabe aller seiner Werke. Die hochbetagte Mutter konnte dem kaum mehr Widerstand entgegensetzen, Overbeck wurde ausgebootet, Köselitz schließlich eingespannt.

Nietzsche selbst, dessen Verfall sich fortsetzte, bekam von alldem nichts mit. Nach dem Tod der Mutter 1897 lebte er in der Villa Silberblick in Weimar, wo er von seiner Schwester gepflegt und wie ein Schaustück ausgestellt wurde. Er überstand mehrere Schlaganfälle, in Folge derer er allerdings teilweise gelähmt war und weder aufstehen noch sprechen konnte. Am 25. August 1900 starb er an den Folgen einer Lungenentzündung und eines weiteren Schlaganfalls. Er wurde an der Röckener Dorfkirche neben seinen Eltern und dem kleinen Bruder im Familiengrab beigesetzt.

[Ende Zitat Wikipedia]

D) Sterben

Nietzsches Zusammenbruch wurde durch das Mitansehen-Müssen, wie ein Kutscher sein Pferd peitschte, ausgelöst. Es wird berichtet, daß der Philosoph weinend das Pferd umarmte und dabei laut "Mein Bruder, mein Bruder!" ausrief. Darauf kehrte er nie mehr zurück in die Welt der Menschen. Nietzsche starb bereits 11 Jahre vor seinem Tod in Turin und sollte nach seinem Zusammenbruch 11 Jahre in Dunkelheit verbringen. Vielleicht begegnete er in dieser Zeit, daheim, bereits dem wahren Gott. Dann verschied er, wie eine Pflanze, entschwebte.

Das könnte man berücksichtigen, wenn man ihn, das "große Bergwerk", als welcher er einmal von Giorgio Colli bezeichnet wurde, zu würdigen versucht. Er war ein Grenzgänger. Einige fasziniert er, auch wegen des Dichterhaften an ihm und seinem Werk, doch viele machen einen Bogen um ihn, – in Unkenntnis. Doch jene unter den Interpreten, die ihre Faszination unverhohlen zeigen, sind selbst zu den interessanten Zeitgenossen zu zählen. Viele von ihnen sind bereits unter der Erde, so wie Karl Ulmer aus Wien. Andere, wie Helmut Kohlenberger, der Feuergeist, ziehen ihre Kreise an unbekannten Orten, entschwunden sind sie.

Irgendetwas entzieht uns eines Tages dem allgemeinen Treiben. Wir gleiten fort, unaufhörlich, und kein Sträuben hilft dagegen.

Die Formulierung "Gott ist tot" taucht dort auf, wo das Leben nicht mehr fassbar bleibt. Wo etwas Anderes sich zeigt, Übermenschliches, aber genauso auch "Unmenschliches". Zu begreifen, daß Unmenschliches immer noch Menschliches bleibt, ruft zumeist die Forderung nach menschlicher Moral und Gerechtigkeit auf den Plan. Aber vernichtend wird das Unmenschliche dort, wo es keinen Gegenspieler hat, wie in Auschwitz. Erst die Überlebenden fordern Rechenschaft, … von Gott. Sie sagen, schreien, wimmern, schluchzen: "Wie kannst Du das zulassen? Ist das in deinem Schöpfungsplan berücksichtigt?"

Doch sie denken menschlich. Sie fassen alles menschlich auf. Sie sehen alles menschlich. Und uns allen geht es so, solange wir nicht erwacht sind. Der verhängnisvolle Schlaf der Unwissenheit zöge alles in den Orkus, hielte das Rad des Leidens ewig ingange. Aber es muß nicht so enden. Einmal das Erwachen, nach einem Äon von Wiedergeburten. Unser Sterben, so dramatisch es sich auch ausnehmen mag, ein unheilschwangeres Aufgesaugtwerden im Orkus, einmal kommt es zum Stillstand. Bereits im ausgehauchten Leben ("und über allen Wipfeln ist Ruh‘ "), und immer wieder (und immer wieder! Sogar im Sterben die "Ewige Wiederkehr des Gleichen"!), doch einmal, eines Tages, in einem Moment der Gnade, innerhalb von Äonen, kommt der letzte Tag, er stellt sich ein, mit Übermacht, und Du erwachst, und nie mehr schläfst Du ein.

Fragen Sie einen Tibetaner! Er wird Sie verständnisvoll, vielleicht sogar streng hinter seiner Brille anblicken. "Ja, Gott ist tot, Bruder, DEIN Gott. Er ist abgestorben in Dir, so wie alles abstirbt in Dir. Sehen Sie, so muß es doch kommen. Alles stirbt in uns ab, alles. Es stirbt, weil es leer ist von inhärenter Existenz. Ihr Gott ist eine Idee, Gott ein Wort. Worte haben nicht Bestand. Gott ist nicht das anfängliche Wort, und er war nicht von Anfang an bei sich, denn all dies sind menschliche, leere Worte, nichts, das für sich existieren würde. Wo finden Sie Gott?"

Und ein Indio-Schamane würde ihm treuherzig beipflichten. "Ja, Gott ist ein Wunder, das Wunder der Schöpfung. Außerhalb dieser Schöpfung gibt es nichts. Diese Welt existiert für alle, nicht nur für Christen. So wie sie uns alle verschlingt, auf die eine oder andere Weise, und sei es im Rachen einer Boa Negra."

Nietzsche ist unser Bruder. Er lebte in Einsamkeit, verzweifelte und starb. Aber die Glut, die ihn bewegte, erfuhr ihre Läuterung. Nietzsche starb einen Gnadentod, nach 11 Jahren. Er hört unser Rufen. "Bruder, was siehst Du?"

E) Warten auf Godot

Vielleicht sehen die Sterbenden dasselbe wie wir, doch in gesteigerter Bewußtheit. Vielleicht sehen sie nichts Anderes als die Welt. Vielleicht sagen sie sich in diesem Moment: "Ich mochte die Welt. Die Welt war doch alles für mich, fürsorgliche Mutter, Gebärerin, Ernährerin, Trösterin. Wozu brauche ich Gott? Wozu mich seinetwegen sorgen, wozu mir seinetwegen den Kopf zerbrechen? Weshalb redeten sie mir ein, das Leben sei die Wartehalle zum Tod. Warten auf das Kleinod God, wozu? Es kommt von allein." Es wird mich überkommen, so wie es kommen muß, weshalb also mich sorgen?

Der Gott, den sie uns einträufeln, er zeigt sich seltsam rigide. Ein Wesen sogar mit Namen, mit 4 Buchstaben: Dios, Deus, Dieu, Gott, JHWH. Ein vorzugsweise männliches, eines, das mit feindlichen Heerscharen wie den Ägyptern, die den fliehenden Israeliten durch das Meer nachsetzen, aufräumt. Ein Kriegsgott wie Aries. Ein Westentaschengott, der das Frauliche mit Füßen tritt. Frauen haben zu dienen. Frauen haben in der Kirche zu schweigen. Frauen haben den Tschador zu tragen. In Afghanistan köpften die Taliban sogar eine Frau deswegen. Wahrer Gottesfrevel. Männlicher Gottesfrevel. Ein angesinnter Anschlag auf Mutter Erde, mit Kriegsfolgen.

Mutter Erde ist uns alles, und das, ja das, das will der Mensch nicht. Er will nicht, daß sie uns wieder verschlingt. Dafür will er sich rächen an ihr. Er sagt sich, das Ende kommt ohnehin, also kann ich tun und lassen, was ich will. Die Erde bringt Leben hervor, gut so, und dieses Leben werde ich abrasieren. Ich schlachte Kälber und treibe Föten ab. Und diese ungeborenen Kreaturen verwerte ich industriell, zu horrenden Preisen, für die Krebsforschung, die Genforschung und für die Kosmetikindustrie. Was warte ich auf Godot? Laßt uns einstweilen rasen, es macht doch Spaß. Das ist das Gesicht der unerträglichen, faschistischen Spaßgesellschaft: Du bist ein Schwerenöter, ein Spaßverderber. Raus mit dir aus der Disco! Wir brauchen keinen Gott! Wir haben den Rausch!

Ja, eigentlich sollten wir über den Rausch schreiben. Den Kokainrausch, den Alkoholrausch, den Pornorausch, den Rausch der Geschwindigkeit, den Rausch des Geldes. Geld als Gott. Noch ein 4-Buchstaben-Gott. "Geiz ist geil." Alles 4-Buchstaben-Slogans.

Das ist es, was der Mensch im Sinne hat: Gott zu schlachten, das Kruzifix über der Schlachtbank, wie in den Wiener Fleischerbetrieben. Tatsächlich: Das Kruzifix über der Schlachtbank! Was ist das? Christus auf der Schlachtbank? Die Nachahmung seines Beispieles? Gott, der uns einen Freibrief auf alles ausgesprochen hat, weil er selbst sterben mußte? "Ihr könnt alles tun. Ihr seid frei, solange, bis euch der Tod ereilt. So wie er mich ereilte."

Das ist der Kodex der Freiheit, den Beckett meinte, und nach ihm Dorothee Sölle: Wir sind Menschen, und das ist ungeheuerlich genug.

Mensch zu sein, das ist nicht selbstverständlich, sagt Tenzin Gyatso, der Mann in Orange. Wir sind das vorläufige Endmoment in einer endlosen Kette von Wiedergeburten. Früher waren wir Teufel, Götter und Quälgeister. Und aller Menschen Vorläufer. Und, um es zu verstehen, selbst wenn man schwer von Begriff ist, wir waren nicht nur hier, sondern auch anderswo. Und wir waren Insekten, so wie unsere Sancudos. 72 Stunden Lebenszeit. So gesehen ist es ein Trost: Keine Toter geht verloren. Dazu ist das Wunder viel zu groß.

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  1. "Der Trost zu wissen, daß man mit dem Herrn ist und im mystischen Sinne die christliche Gemeinschaft zu Seite hat, hilft dem Menschen, die Sorgen und Ängste des Augenblicks zu überwinden, indem er ihm die Gewißheit gibt, daß am Ende nicht das Nichts steht, sondern der Herr ihn mit offenen Armen erwartet. In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß Pater Pio den Gedanken an den Tod immer vor Augen hatte, nicht weil er eine pessimistische Lebensanschauung hatte oder von seinen irdischen Tagen enttäuscht war oder die Last seiner Leiden als unerträglich empfand oder seines ständigen und scheinbar eintönigen Betens müde war; ganz im Gegenteil:

    "Ich habe gearbeitet, und ich will arbeiten; ich habe gebetet, und ich will beten; ich habe gewacht, und ich will wachen; ich habe geweint, und ich will immer weinen für meine Brüder in der Verbannung. Ich weiß zwar und verstehe, daß es wenig ist; doch das ist es, was ich tun kann; das liegt in meiner Macht" (Pater Pio von Pietrelcina, Brief vom 23.10.1921).

    … Es muß auch gesagt werden, daß er dem Leben manchmal nur einen geringen Wert beimaß, wenn er das Gefühl hatte, es nicht mit genug Liebe zu Gott und zu den Brüdern auszufüllen:

    "Ich wünsche nichts anderes als dies: entweder zu sterben oder Gott zu lieben: den Tod oder die Liebe; denn das Leben ohne diese Liebe ist schlimmer als der Tod; für mich wäre es noch unerträglicher, als es ohnehin schon ist. Mein Vater, unter großen Qualen nehme ich es auf mich zu leben, einzig deshalb, um Jesus nicht zu verstimmen und den Befehlen des Oberen nicht zuwiderzuhandeln. Warum aber ist es mir dann nicht gegeben, ihn mit aufrichtigem und ruhigem Sinn zu lieben? Ich fühle mich allein, und eine große Leere, die mich mit Schrecken erfüllt, macht sich in meiner Seele breit. Mein armes Herz ist unruhig, und ich weiß nicht, wo ich es hinlegen soll. Ich lege es in Jesus, aber es ist immer noch nicht gesättigt. Was für ein Unheil ist das bloß? O wenn ich Jesus doch lieben könnte, wie glücklich wäre ich!" (Brief vom 19.11.1916)

    Ich habe diesen langen Aussschnitt aus Pater Pios Brief wiedergegeben, um zu zeigen, daß das Hauptproblem nicht so sehr im Leben oder im Tod an sich liegt, sondern in der Art, wie man lebt und wie man den Tod betrachtet.

    In einem Brief an Raffaelina Cerase spricht er genau davon. Nachdem er gesagt hat, daß sein fortwährender Wunsch die "Befreiung" von den "Ketten" des irdischen Lebens sei, um "mit Jesus Christus zu sein", und daß er viel dafür gebetet habe, beteuert er, "dieses Gefängnis keinen Augenblick früher verlassen zu wollen, als der Herr es beschlossen hat". Und er fügt hinzu: "Und was tue ich in der Zwischenzeit? Soll ich untätig bleiben? Nein, das könnte ich nicht: ich zwinge die Stunden, Tage und Jahre, schnell zu vergehen, und am Ende eines jeden Tages fühle ich den Trost, daß die Last der Zeit, die mich bedrückt und von der ewigen Sonne trennt, wieder ein wenig abgenommen hat". (Brief vom 30.3.1915)"

    (Padre Alessio Parente, Pater Pio und die armen Seelen, San Giovanni Rotondo 2007, S.28-32)

  2. Priester im Dschungel, Priester in Ayahuasca

    „Wie Du weißt, sind drei meiner Schmerzensmänner wundertätig. Der in Nauta, der in Chimbote und der in Puerto Maldonado. Von meinem Christus im Vatikan weiß ich nichts. Ich müßte einmal hinfahren. Doch scheinbar weiß man, woher er kommt, denn in den ersten Tagen von Otorongo, 1994, hatte ich einen Herrn aus dem Vatikan zu Besuch, hier in Yushintaita. Einen Kardinal. Er schilderte mir sein Problem im Vertrauen. Der Heilige Vater hatte ihm die Dispens erteilt, auf Suche nach Heilung zu gehen, für ein Jahr. So landete er schlußendlich bei mir. Ich sagte ihm: „Wenn Sie gesund werden wollen, sollten Sie den Schritt in eine Ayahuasca-Zeremonie wagen. Meine persönliche Kraft ist zu gering. Ich bin nur ein gewöhnlicher Sterblicher. Ich verfüge nicht über Ihr Wissen. Wie könnte ich es wagen zu sagen, ICH heile Sie? Nur Mutter Ayahausca kann das! Sie ruft die Geister. Diese sind es, die zu Ihrem Geist sprechen und die ihn heilen. Gott selbst nähert sich Ihnen wieder an, direkt oder über seinen Sohn. Sie werden es spüren und Sie werden Ihren Glauben wieder finden.“ So gingen wir dann in die Zeremonie. Noch mit von der Partie war ein Schübel peruanischer Pfadfinder, die, weiß der Teufel wie, hier in Tamshiyacu gelandet waren und die direkt, wer weiß, welche Hand sie da geführt hat, hierher nach Yushintaita marschiert waren. Und trotz allen Nachfragens wurde mir nicht klar, was sie bei mir suchten. So lud ich sie zu einer Zeremonie nach Otorongo ein. Und der dritte im Bunde war ein schwer heroinabhängiger, verlumpter Amerikaner. So feierten wir die Zeremonie, – eine unvergeßliche, möchte ich sagen. Die Boy Scouts spielten im Finstern Verstecken, der Junkie schrie wie am Spieß und der Kardinal las in all dem Chaos eine komplette Heilige Messe. Ich stand vorne, hinter meiner Mesa, und kam ob all der Absurdität aus dem Lachen nicht mehr heraus. Ich war überflüssig, vier Stunden lang. Zum Schluß, als alle sich halbwegs beruhigt hatten, durfte ich sie wenigstens noch mit Mapacho abblasen, bevor alle an Ort und Stelle erschöpft in ihre Betten fielen. Leider reiste der Kardinal am übernächsten Tag ab. Er bedankte sich artig für die Hilfe. Ob ich ihm geholfen habe, weiß ich nicht. Er sagte, er werde mich weiterempfehlen. Leider haben wir uns nie mehr wiedergesehen.“ (Agustin Rivas, Yushintaita, 2001).

    „Als Priester Ayahuasca zu trinken, ist in keinster Weise verwerflich. Zunächst ist es Kommunion. Dann ist es Ehrerweisung gegenüber einem Ayahuasca-Priester. Als solchen verstehe ich Don Agustín. Und dann möchte ich natürlich wissen, was ist Ayahuasca wirklich? Was ist der Geist in ihr? Was ist die Korrespondenz zu Brot und Wein?

    Die vergangene Nacht war in Ordnung. Zuerst reinigte ich mich. Als das beendet war, verbrachte ich den Rest der Nacht im Gebet. Der Teufel ist ein gefährlicher Feind. Er kennt uns besser als wir uns selbst.“ (Ein guter Freund, 2002 + 2003).

    „Ich habe gestern zum ersten Mal an Ayahuasca teilgenommen und es nicht bereut. Vielleicht war es auch ein Beitrag zur Versöhnung mit den Geistern der Verstorbenen und der Vergebung für die Präpotenz, die Europa bei der Christianisierung der hiesigen Stämme an den Tag legte. Dafür schäme ich mich nicht. Zu einem bestimmten Zeitpunkt war es mir nicht mehr möglich sitzen zu bleiben. Ich legte mich auf den Boden. Sie haben es gesehen. In dieser Demut fühlte ich mich wie damals bei meiner Priesterweihe. Die Hand von Mutter Ayahuasca war deutlich spürbar. Eine weibliche Hand. Eine zärtliche, mitfühlende Hand. Eine Versöhnung mit allen Müttern und dem Heiligen Geist. So am Boden auf dem Bauch zu liegen, den Kopf in die Hände gebettet, in aller Übergabe, an nichts mehr denkend, seit langer Zeit, ich kann es nur als Demut und wohltuendes Vertrauen bezeichnen. Ich wüßte nicht, wann ich das letzte Mal ein derart bedingungsloses Vertrauen gespürt habe.“ (Ein Namensvetter aus Arequipa, bei Don Luis Panduro Vásquez, 2005).

    „Es ehrt mich, daß die Kirchenobrigkeit mich inspektionieren läßt. Sowohl hier in Peru wie drüben bei euch, in Österreich und in Italien. Auch die Staatspolizei war 1999 an Ort und Stelle anwesend. Ich habe den Mann direkt angesehen, bin zu ihm hingegangen, habe ihm die Hand gegeben und mich vorgestellt. Dann habe ich ihm gesagt, „Gnädiger Herr, ich sterbe genauso eines Tages wie Sie. Wir alle treten eines Tages dem Allmächtigen gegenüber. Das ist mein Credo. Schreiben Sie das in Ihren Bericht.“ Der Mann hat mir daraufhin nicht den Rücken zugedreht, sondern ist ruhig sitzen geblieben und hat aufmerksam zugehört.

    Es gibt eine Reihe von Theologen, die etwas bei mir suchen, so wie die Ärzte, die oft auch krank herkommen. Die Priester, wie gesagt, glauben zunächst, eine Mission erfüllen zu müssen, und fragen mich, ohne sich zu deklarieren, choram publicam, „Glauben Sie an Gott, Don Agustín?“ Daraufhin antworte ich zumeist: „Darauf können Sie Gift nehmen. In mir ist ein Schamane. Aber zuvorderst bin ich Christ. Katholik!“ Dann setzt sich der Fragesteller. Später nimmt er mich bei der Seite und bittet mich unumwunden: „Erzählen Sie mr von Gott!“ Natürlich weiß ich dann schon, wieviel es geschlagen hat und danke Gott innerlich, daß er mir diesen armen Teufel geschickt hat. Und dann sage ich ihm: „Es gibt nichts außer Gott. Gott ist alles. Diese ganze Herrlichkeit ringsum, und alle Vergänglichkeit. Er läßt uns leben und sterben. Fragen Sie meinen Assistenten. Er sagt zu allem nur Ja und Amen, solange, bis ihm die Hutschnur reißt und er wieder einmal mit der Welt und der ganzen Verrottetheit aufräumen möchte. Das ist die Versuchung. Die Prüfungen des Einen. Gott Vater ist anwesend, stets und immerzu, überall. Und wir Sünder könne nur Buße tun, immerzu.“ (Agustin Rívas Vásquez).

    "Die wahre Prüfung in Ayahuasca geschieht durch den Heiligen Geist oder durch einen von ihm geschickten Engel und ist vom Menschen, dem so geprüften, nicht beeinflußbar. Deswegen, und weil er es selbst wie wir alle erlebt hat, spricht Freund Agustin von "exquisiter Tortur". Es ist eine ironische Formulierung von etwas Todernstem. Zum ersten Mal in deinem Leben blickst du dem Tod ins Gesicht und erkennst, alles Leben war Lüge. Da kann man nur bitterlich weinen oder schreien. Und man hat den Kübel …. und den Dschungel mit seinen Bestien. Auf eine mehr kommt es nicht an. Einen Teufel in Menschengestalt." (Pablo Amaringo, Pucallpa, August 2000).

  3. „… und nichts war mehr wie zuvor“

    Aus aktuellem Anlaß eine Sammlung denkwürdiger Aussprüche zum Thema „Gott und Welt“

    „Vergangene Nacht begegenete ich Gott. Ich hatte mein Haupt auf seinen Knien. Er streichelte meinen Kopf. Er sprach zu mir: „Verzweifle nicht, Kind!“ Ich habe keine Fragen mehr.“ (Eine Ayahuasca-Teilnehmerin, Juni 2011)

    „Was sucht ihr den Lebenden unter den Toten?“ (Peter Handke, der Große Fall, 2011)

    „Ayahuasca wird eines Tages in Christus einnmünden. Wahrhaftige Spiritisten wissen das. Es bewahrheitet sich ihnen jeden Tag, hier, mitten im Dschungel.“ (Solon Tello, Spiritist, Iquitos, 2003)

    „Für jene, die so handeln als gäbe es Gott nicht, wird das Erwachen bitter sein. Für jeden kommt der letzte Tag. Bitter zu meinen, man könne den letzten Tag nach Belieben aufschieben. Selbst in der Kindheit geht das nicht. Doch Kinder sterben zumindest unschuldig.“ (Agustín Rívas Vásquez, 2010)

    „Unser Problem ist in der Tat das, was das Volk die „Amtskirche“ nennt. Die Kirche heute ist ein Unternehmen, ein riesiges Schiff, dessen Größe nicht zu ermessen ist. Viele Priester und Ordensfrauen verzweifeln an dieser Größe. Sie kommen sich verlassen vor, ungehört, nicht wahrgenommen in ihren menschlichen Armut. In ihrer Verzweiflung tun sie eines Tages dann Dinge, die sie später bitter bereuen. Hinzu kommt, daß für nicht wenige Theologie Wortklauberei geworden ist, wissenschaftliche, akademische Wortklauberei. Ein Brotberuf eben, gewürzt mit giftigen Einwürfen. Inmitten all dessen stirbt das Glaubenserlebnis, das Gotteserlebnis, das Christuserleben. Es ist für mich äußerst stupend, die Geistigkeit Ihrer Ayahuasca-Zeremonien hier zu erleben. Diese Nähe zum Christentum, bis hin zu den Gegenständen auf dem Altar. Sogar ein Kreuz. Eine Eucharistiefeier. Ich darf sagen, mir sind die Augen aufgegangen.“ (Ein Geistlicher in Otorongo, 1998)

    „Die Frage, wer Christus war, beschäftigt die Wenigsten. Das ist meine Einschätzung, wenn ich die Gesichter studiere. Man könnte es auch umdrehen: die Judenfrage des Dritten Reiches hat damals niemanden interessiert, und sie interessiert auch heute nur die Allerwenigsten. Nur die Allerwenigsten glauben an die leibhaftige Anwesenheit des Auferstandenen im Brot. Vielleicht – um Gerechtigkeit walten zu lassen – liegt es an der Tiefe, an der Unfaßbarkeit des Mysteriums selbst. Man ist inmitten all der sozialen Fremdbestimmung dazu nicht fähig. Ich glaube, das trifft auch auf die Besucher hier im Dschungel zu. Auch hier am Tisch regieren noch Polemik und Besserwisserei. Woher sonst diese zeitweiligen Konflikte bis aufs Blut? Seltsamerweise beginnen die Suchenden dann in Ayahuasca, Christus zu sehen. Haben Sie gestern den geradezu verzückten Ausruf des Marihuana-Rauchers gehört? Etwas ist ihm aufgegangen. Die Erzählungen des Meisters Agustín über seine Visionen zum Letzten Abendmahl klingen beim ersten Hören geradezu gotteslästerlich, doch sie entbehren nicht innerer Logik. Die Dimensionen freilich, auf die sie verweisen, sind ungeheuerlich. Aber warum nicht? Vielleicht gehört gerade das zur Krise unserer Zeit. Ein neues Christus-Verständnis, beruhend auf echten Visionen. An der Apokalypse des Johannes stört sich heute auch niemand mehr. Und was war doch diese Vision anderes als Rausch, Exstase?“ (Ein weiterer Besucher, 2009)

    „Ich bin kein Ayahuasca-Trinker, wie du ja weißt. Als evangelisch Gläubiger ist es mir als Rauschmittel verboten, wie die Bibel schreibt. Doch halte ich niemanden ab. Ich würde sogar meine Frau nicht davon abhalten, wenn sie die „purga“ trinken möchte. Ich finde auch die Erzählungen über die Zukömmlichkeit von Pflanzendiäten für hilfreich und respektierenswert. Der Muttergeist einer Pflanze, der sich dem ernsthaft Diätierenden annähert. Ein erhabenes Bild. Ich darf gestehen, auch ich habe die Bibel besser verstanden, wenn ich gefastet habe. Offenbar tut uns die Reinigung gut.“ (Miguel Pézo Tenazoa, Pastor der evangelischen Taufgemeinde von Tamshiyacu, 2011)

    „Das Gerede über Gott ist nur allzu leichtfertig. Fast niemand gibt sich Rechenschaft über dieses leichtfertige Reden. Sie haben diesen Gott auf ihrer Zunge gepachtet. Ich hingegen kann dieses Wort schon nicht mehr hören. Meine Frau ist zu früh gestorben. Ich habe lange über ihren Tod gehadert. Sie war ein wertvoller Mensch. Vielleicht hat sie selbst so früh sterben wollen. Sie hat sich unverantwortlich nahe auf ihre krebskranke Mutter eingelassen. Und so starb sie, bevor noch alles zwischen uns ausgesprochen war. Leider. Doch allen, die da felsenfest behaupten, es gäbe Gott, jenen, die diesen Herrn geradezu als ihr zeitweiliges Eigentum gepachtet haben, all jenen kann ich nur sagen, ihr ward nicht im Krieg. Ihr habt den Kameraden an eurer Seite nicht fallen gesehen, das Blut sprudelt aus seinem Mund, wie er nach seiner Mama schreit. Dieses Bild wird euch euer Gerede von Gott aus dem Schädel blasen.“ (Ein Besucher, 2008)

    „Meine Frau war gläubig, wie Sie wissen. Doch ihr Sterben dauerte sieben Jahre. In diesen sieben Jahren ging sie durch die Hölle, und ich konnte nichts für sie tun. Mehr kann und will ich nicht sagen. Ich wollte ihnen das, wo der Augenblick paßt, sagen, weil ich weiß, daß Sie nicht zu denen gehören, die Gott verteidigen.“ (Dr.Sch. zu Anna, die das Rad anhalten will, 2005)

    „Ich kenne meinen Vater nicht. Ich weiß nicht, warum er MICH zeugte. Meine Mutter hat sich nie darüber geäußert, warum sie ausgerechnet mit ihm im Bett landete. Die Tatsache, daß er mich zeugte, ist noch lange kein Grund, am Leben bleiben zu müssen. Wenn Sie meinen, das sei leichfertiges Gerede, täuschen Sie sich. Haben Sie etwa Angst um mich? Sie wollen mir doch nicht einreden, ich bedeute ihnen etwas?!“ (Ein junger Besucher, 2003)

  4. Einsam bin ich auf hoher See, und kalt die Nacht so dunkel

    Rückkehr zu Friedrich Nietzsche

    Der Heimatlose, der sich nur im Engadin wohl fühlte, er war kein Phantast unter den Philosophen. Man muß sich auf ihn einlassen, auf seine beißende Sprache, die er gegen die Dekadenz, zumal das Christentum, richtete. Ein heimat- und frauenloser Heiliger, versteckt hinter einem übermächtigen Schnauzbart, der der Nachwelt zum unverwechselbaren Erkennungszeichen des Philosophen werden sollte. Ein oftmals Kränkelnder, der scheinbar nichts Anderes kannte als sich die Finger wundzuschreiben. Wie Marcel Proust, der sein Leben im Bett verbrachte und sich von dort aus auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“ begab.

    Der Autor des „Antichrist“. Der Autor des Ausspruchs „Gott ist tot“. Der Proklamator des Nihilismus. Der Schöpfer des Übermenschen, des Zarathustra. Der Mann, der behauptete, den Menschen treibe nur eines an, der „Wille zur Macht“. Was ist Macht? Sich Sklaven zu halten. Die Welt somit nur ein Sklavenhaus, mit der Kirche als einer der Hauptdarsteller.

    Nietzsche kannte wahrlich nicht viel von der Welt. Er lebte in seinem Engadiner Paradies. Bisweilen besuchte er Deutschland und vielleicht noch Italien. Mehr ließen seine ärmlichen Verhältnisse nicht zu. Er lebte in seiner Studierstube, die eigentlich eine Schreibstube war. Er schrieb wie unter Zwang, aber nicht aus Phantasie. Es hat den Anschein, als fühlte er sich von der Welt bedrängt, von ihr gegen seinen Willen eingenommen. Er begegnete Richard Wagner und dessen Werk. Aber vor allem Cosima Wagner, die ihn zu seiner großen Verstörung betörte. Doch er hütete sich, sie zu berühren. Er wollte sich nicht mit dem Übervater, dem Komponisten des „Rings“, anlegen. Er dachte nicht einmal daran, so strikt war er. Die einzige Frau im Leben des Feuerkopfs der deutschen Philosophie blieb, so steht zu vermuten, Lou Andreas Salomé, die „femme fatale“ der deutschen Dichtung und Musik.

    Nietzsche war ein Fanatiker, ohne andere zu verletzen. Er kämpfte ohne Gegenüber, aber dennoch gegen reale Verhältnisse. Gegen menschliche Verlogenheit. Die trieb ihn in den Wahn. Aber dieser Begriff wird dem, was geschah, nicht gerecht. Nietzsche hatte zuletzt, in diesen letzten Minuten (vielleicht waren es Stunden) in Turin, als er verlassen durch die Straßen streifte, wie ein aus der Folter Entlassener, wie einer dem Massaker Entkommener, wie einer dem Bombenattentat, dem Selbstmordattentat Entkommener, in diesen letzten Minuten kulminierte sein Leben, und er verlor nicht den Grund, als er den Kutscher dessen Pferd peitschen sah, er verlor nicht den Grund, den letzten Grund, auf dem er gestanden war, als er das geschlagene Pferd unter Ausrufen und Weinen "Mein Bruder, mein Bruder!" umarmte, nein, nicht die letzte Felszacke verlor er, an der er zeitlebens gehangen war. Er gab nicht sein Leben wie Prometheus, der Feuerbringer, an den Felsen geschmiedet, die Leber jeden Tag ein Stück gefressen vom gottgesandten Aar. Nein, dieser lebendige Philosoph stürzte nicht in die Bodenlosigkeit des Nihilismus, den er zeitlebens herausgefordert hatte, sondern er zollte der Wahrheit Tribut, jener unaussprechlichen Wahrheit, die sich in diesem Moment vor seinem Auge auftat, ausweitete, der kalte Blick der Unendlichkeit, die vor ihn hintrat, und der er, weil er nicht vorbereitet war, erlag. Das geschah im Jänner 1889, im naßkalten Turin, und schleuderte den Zusammengebrochenen für zeitlose elf Jahre in die Identitätslosigkeit, in der er zu nichts Anderem mehr fähig war als beim Fenster zu sitzen und hinauszuschauen, ohne das, was vor dem Fenster war, zu erkennen, auch nicht die Regentropfen am Glas. Kein Wort. Nur Stille. Zeitweise ein Schluchzen, wie ein Kind. Ungehemmte Tränen. Unbeholfen im Verrichten der Notdurft, unbeholfen im Essen. Nur beim Fenster sitzen und hinausschauen. Zeitweise am Arm der Schwester spazierengehen. Ein Identitätsloser wie mein Nachbar Walter Wiesinger, der mir Unvergessene, den die Gattin, als er schon nicht mehr er selbst war, im frühen Alter spazieren führte, und wo sie mir in der lärmbeschallten Unterführung der Bundesbahn begegneten, er an ihrem Arm ein Engel in reinster Unschuld, von blendendem Weiß umgeben (ja, von blendendem Weiß!), auf dem Weg in die Ewigkeit.

    Ein zeitlebens Einsamer wird nach 11 Jahren zu einer Tür geführt, vor der allen graut, doch nicht jenem, der, so wie er da steht, nur mehr unschuldige Selbstvergessenheit ausstrahlt. Elf Jahre, während derer jene, die sich für ihn pflegend aufopferten, bereits weggestorben waren.

    Was lernen wir daraus? Identität währt nicht ewig. Das Wort währt nicht ewig. „Nihilismus“, das ist nur ein Wort. Auch es weicht vor der eigentlichen Gewalt. Was also Not tut, ist Mut.

    Kapitän Smith ging in seine Steuerkabine. Dort war sein Platz. Dort erwartete er das Ende, festgeklammert am Steuerrad. Dort ertrank er in den eiskalten Fluten des Atlantiks, immer noch im funktionierenden Licht der Festbeleuchtung dieses so stolzen, todgeweihten Schiffs, während draußen die Furie der Todesangst kreischte.

    Sophie Scholl, dieses zarte Geschöpf von erst 18 Jahren, brach ohnmächtig nieder, als sie der Guillotine ansichtig wurde. Ohnmächtig zerrten sie sie bis zur Kopfauflage und schlossen diese über ihrem Nacken.

    Paulus verbat es sich, daß man ihm die Hände fesselte. Freiwillig kniete er hin und legte seinen Kopf auf den Richtblock. Sein letztes Wort: „Christus!“. Der Henker mit dem Schwert war nicht vermummt.

    Mut und Vorbereitung, nichts mehr. „Du wirst mir nachgehen.“ „Noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein.“

    Mein Bruder! Mein Bruder!

    "Was ihr dem geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan!"

    (Sonntag, 25.September 2011, Zenithsonnenstand)

  5. Menschenfrage – Gottesfrage

    Die erste Inkonsistenz, an die ich mich bewußt erinnere, war die Wahrnehmung des Kreuzes. Ich war damals sechs. Ich erinnere mich noch genau. Es war ein sonniger Wochentag, Freitag. Ich las die bebilderte Kinderbibel. Es waren kleine färbige Zeichnungen. Mit dem Alten Testament hatte ich keine Schwierigkeiten, mit dem Neuen Testament und Golgotha jedoch ganz große. Ich erinnere mich noch genau. Das Hängen dieses so guten Mannes, von dem ich las, daß er unschuldig wie ein Lamm gewesen sei, trieb mir die Tränen in die Augen, schnürte mir die Kehle zu und trieb mir die Hitze in den Kopf. Mein Herz pochte traurig. Ich mußte das Buch schließen und legte den Kopf auf das Kissen. Ich erinnere mich genau. Mein nächster Gedanke war: „Diese gemeinen Menschen! Warum sind sie nur so böse? Was hat er ihnen getan?“ Zum Glück hellte sich mein Gemüt wieder auf, als ich weiterlas und zwei oder drei Seiten später die Auferstehung vorfand. Alles war in Gold und Rot und Gelb. Tröstlich. Dann blätterte ich zurück. Golgotha. Alles Schwarz und Grau. Ich blieb versunken liegen und starrte auf die Seite. Ich erinnere mich genau. Ich betrachtete seinen Körper. Christus war schon tot. Es stand da nichts von seinen sieben Worten am Kreuz. Der Kommentar war: „Er gab aus Liebe für die Menschen sein Leben. So befreite er sie aus der Erbsünde.“ Da fing ich erst recht zu denken an. „Welch eigenartiges Sterben! Was war seine Aufgabe? Zu sterben? Für uns? Warum? Er war doch unschuldig? Niemand unschuldiger als Jesus, der für alle Kinder da ist! Warum töten sie den Kinderjesus? Meinen Jesus? Die Erwachsenen sind alle Verbrecher! Besser, nie erwachsen zu werden!" Ja, das waren meine Gedanken beim Anblick dieses verkrümmten Leibes am Kreuz. „Jesus stirbt für uns am Kreuz.“ "Wieso stirbt er für uns? „Uns, das bin doch auch ich! Warum ist er für mich gestorben? Er hat mich doch gar nicht gekannt! Ich lese jetzt zum ersten Mal von ihm! Warum ist der Mensch so gemein? Sie hätten ihn doch leben lassen können! Was hat er ihnen getan? Warum ausgerechnet ihn?" Ich erinnere mich, daß ich bis dorthin keine Vorstellung vom Töten anderer Menschen hatte. Der Gedanke schockierte mich, aber erst recht die Art und Weise. Es war das Kreuz, das mich am meisten schockierte. Die Soldaten mit ihren Lanzen und Helmen. Eine Schlachtungsszene. Ich erinnere mich genau. „Wie böse waren diese Menschen, und wie gut er. Warum waren sie nur so böse? Was hat er ihnen getan? Kann das heute auch vorkommen? Sterben am Kreuz?“ Damit schloß meine Betrachtung.

    Am nächsten Tag fragte ich meine Mutter. Ich erzählte ihr von meiner Lektüre. Sie gab mir folgendes zur Antwort, jetzt erinnere ich mich: „Karli, das ist schwierig zu verstehen, doch Du bist klug, und wenn Du erwachsen bist, wirst Du es verstehen. Tröste dich, Jesus ist auferstanden von den Toten. Heute lebt er bei Gott im Himmel. Er hat uns unermeßlich geholfen, denn der Mensch wird böse, wenn er nicht an Gott glaubt. Er hat uns ein Beispiel gegeben. Immer gut sein mit den anderen.“ Ich erinnere mich. Plötzlich heulte ich wie ein Schloßhund, konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. In meiner Verzweiflung fragte ich das Erstbeste, was mir in den Sinn kam: „Jesus muß jetzt nicht mehr leiden?“ „Nein“, sagte die Mutter, „er ist für uns gestorben, damit wir zu Gott kommen können!“ „Und wann kommen wir zu Gott?“ „Immer, in jedem Augenblick, aber erst recht, wenn wir gestorben sind!“ „Wir alle?“ „Ja, wir alle. Die ganze Familie.“ Damit war es beredet und ich schloß die Kinderbibel für ein paar Tage. Später kehrte ich noch einmal auf sie zurück, zur Jakobsleiter des Alten Testaments. Von ihr träumte ich zwei Mal. Ein Engel sprach zu mir: „Hab‘ keine Angst, Karli, Jesus lebt hier bei uns im Himmel. Du wirst ihn sehen. Dann wird er dir alles erzählen.“

    „Beten zu können ist ein Geschenk. Beten zu können ist Suche nach Gott. Beten heißt lernen. Man lernt richtiges Beten. Richtiges Beten heißt ehrlich sein. Wer erwachsen ist und sich den Glauben bewahrt hat, trägt alles vor Gott hin. Andere ziehen Jesus vor. Das Beten ist ein Mysterium, wie es zurecht heißt, denn es stellt uns vor die Frage, was dieses Leben überhaupt bedeutet, woher es kommt, und warum wir leben. Der Betende oder besser: der Betwillige, wird sich ausrichten in den Nebel, und er wird fragen: „Bist du hier bei mir?“ Ich meine, das ist eine weltentscheidende Frage, die an einem Faden hängen mag. Eine lebensentscheidende Frage. Diese Sehnsucht nach Antwort. Es ist wohl nicht viel anders als wenn einer von einem Tag auf den anderen aufhört, zur Kommunion zu gehen. Ein Drama sondergleichen. Eine spirituelles Drama, angesichts dessen man nur hoffen kann, daß Christus eines Tages wieder in ihm wirkt und ihn zu sich zurückholt. Also kein abgeschlossenes Drama. Zum Glück. Die Einsamkeit ohne Gebet muß schrecklich sein. Wohin es die Menschen treibt, kann man manchmal sehen. Aber ich darf nicht schlecht denken. Wir wissen von niemandem, nein, von niemandem, wohin ihn die Gottesfrage treibt und ob er nicht insgeheim betet. Genau genommen wäre mein Behauptung, Hitler habe nicht gebetet, eine Gotteslästerung. Was, wenn er nicht doch gebetet hat? Was, wenn der Herr ihn nicht doch im letzten Moment berührt hat?“ (Pater B., Zisterzienser)

    „Es will mir scheinen, daß die Rede über Gott (besonders die professionalisierte) dem Gerede zu verfallen droht. Zur Eigentümlichkeit des Geredes gehört, daß das öffentliche Verständnis des eigenen Daseins und die anerkannte Ausgelegtheit den lebendigen Bezug zum Seinsgrund wieder verloren oder nie (ursprünglich) gewonnen haben. Man vermeint, zu verstehen und sachgerecht mitteilen zu können, ohne sich je dem, worum es im Grunde geht, neu zu öffnen und sich dafür (immer erneut) offenzuhalten. Durch den vermeintlichen Vorrang des Geredeten (besonders der Glaubensformeln sowie ihres Weiter- und Nachredens) vor der zu glaubenden Sache, die von sich her sich zeigt und mitteilt, wird das Glauben entleert und verkümmert der Sinn für Tradition. Es kann im Hörer der Eindruck entstehen, es mit einer Werbeagentur zu tun zu haben, der Wirkung wichtiger ist als die Qualität.

    Dazu kommt, daß das Sprechen über Gott letzten Endes gar nicht den Sinn der Wissensvermittlung, der Erkenntnisanhäufung haben kann. Gewiß geht es um Wahrheit, und gerade um letzte Wahrheit; aber die Wahrheit, die Offenbarkeit, insofern sie für uns immer „Stückwerk“ bleibt, ist nicht das Letzte. Das Erste und Letzte ist Er, unter dessen Anruf und Ruf wir stehen. Er ist als der Anbetungswürdige hervortreten zu lassen. Das erst ist „Ortho-doxie“: Das Wort meint ursprünglich nicht, die richtige Doktrin zu besitzen, sondern Ihn in seinem Ruhm als den in rechter Weise zu Rühmenden hervortreten zu lassen und so seiner Anwesenheit bei uns Raum zu geben.

    Was sich im Laster der Trägheit äußert, ist das Unvermögen, dem (ungeteilt) zustimmen zu können, wozu jemand als er selbst zu sein berufen ist. Der Träge ist verzweifelt, mit sich uneins, er ist de-sperat, d.h. ohne Hoffnung. Meist gelingt es ihm, aus Verzweiflung und larvierter Depression auszubrechen und sein Leben in … Phänomene der Flucht zu verlegen. Dann erscheint alles in bester Ordnung. Als Heilmittel gegen dieses Laster haben die Alten vor allem Einsicht in dessen Äußerungen und symptomatische Zusammenhänge sowie das Gebet empfohlen. Dadurch kehrt man zwar zunächst zu Verzweiflung und Traurigkeit zurück, aber diesmal in umgekehrter Richtung – und damit kommt es zur befreienden Wende. Diese vergessenen Einsichten können gerade für den Menschen von heute und für das Gespräch über Gott wegweisend sein. Das düstere Dunkel im eigenen Dasein darf nicht geflohen, ihm Gegenteil, ihm muß standgehalten werden. Dann hellt sich die Nacht auf, und die Quelle fließt wieder.“ (Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld, Befreiung und Gotteserkenntnis, Wien 2009, 170f.)

    Wo stünden wir ohne Christus? In Ruanda heute. Im Kongo, in Nigeria, in Soweto. In dutzenden Staaten des schwarzen Kontinents, wo es scheinbar keine Hoffnung gab und gibt. Und in den modernen Staaten, den technologisierten, hätten wir allüberall den „Platz des himmlischen Friedens“, Tienamen, im Herzen Pekings, wo die Panzer über die Demonstranten hinwegrollen. Hinwegrollen. Das ist das Bild einer Welt ohne Christus. Eine solche Welt wäre nichts wert. Absolut nichts. Eine solche Welt würde sich innerhalb eines Jahrzehnts selbst aniquilieren.

    „Der Mensch in seiner Gottesferne erreicht eine Grenze. Und mit dem Menschen erreicht der Planet eine Grenze. An dieser Grenze stehen Mächte, von denen der Mensch nichts ahnt. Sie gebieten der Welt Einlaß, Mutter Erde auf ihrer Bahn. Aber ohne Menschen. Sie lassen die Erde als vermüllte nicht durch. Nicht in diese unbescholtenen, nie gesehenen Gefilde des Universums, unserer Milchstraße.“ (Agustín Rívas Vásquez, bereits 2004)

    „Sie machen sich über den Papst lustig. Sie bewerfen ihn mit faulen Eiern, verbal. Aber sie vergessen, er ist 85. Einer, der voll im Einsatz steht, 18 Stunden am Tag. Morgen ist er tot, endgültig tot. Dann geht er heim zum Schöpfer. Dann dürfen sie sich jemand Anderen suchen. Benedikt XVI. ist unser Papst. Er wurde vom Kardinalskolleg im Schnellverfahren erkoren. Sie wußten, was sie taten. Alle hatten sich mit Gott im Gebet verbunden, drinnen in der Sixtinischen Kapelle. Sie wußten von seinem Glauben. Er stand ja lang genug an der Seite des seligen Johannes Paul. Jetzt, 2011, hat er den zweiten Band seines Werkes über Jesus veröffentlicht. Er schreibt darin auf Seite 317: „Können wir also um das Kommen Jesu beten? Können wir aufrichtig sagen: „Marana tha! Komm, Herr Jesus!“? Ja, wir können es. Nicht nur das: Wir müssen es! Wir bitten um Antizipationen seiner welt-erneuernden Gegenwart. Wir bitten ihn in Augenblicken persönlicher Bedrängnis.“ Benedikt XVI. ist ein Gläubiger. Er glaubt an die Allerheiligste Trinität. Er läßt sich von ihr durchfluten. Er bittet darum. Das alleine zählt in unserer Hinfälligkeit.“ (G.B.Winkler, em.Prof. in Regensburg aus der Zeit Prof.Ratzingers dortselbst)

  6. Die allseits geleugnete Lüge

    Liebe Leserinnen und Leser, Freundinnen und Freunde!

    Wir sind nunmehr im Dezember 2011. Fehlt ein Monat, dann sind wir in jenem ominösen Jahr 2012. Sie alle können es bereits bezeugen aus Ihrer eigenen Wahrnehmung: Ein Drama, so scheint es, nimmt seinen Lauf. Je näher man hinsieht, umso atemberaubender, ungeheuerlicher nimmt sich das aus, was sich vor unseren Augen entfaltet.

    Aus gegebenem Anlaß und von den Mitteilungen aus den Zeremonien gedrängt, sehe ich mich veranlaßt, Sie mit einigen Texten des seligen Johannes Paul II. bekannt zu machen, gewissermaßen als Objekte der Meditation. Das Thema ist evident. Ich bitte um Verständnis.

    “Die Ursünde ist nicht nur die Verletzung eines positiven göttlichen Willens, sondern vor allem auch die Verletzung des Beweggrundes eben dieses Willens. Sie will die Vaterschaft abschaffen, indem sie den Glanz zerstört, der die geschaffene Welt durchdringt; sie versucht dies, indem sie die Wahrheit, die die Liebe ist, in Frage stellt und nur noch das Bewußtsein Herr/Knecht hinterläßt. Damit aber scheint der Herr stolz auf seine Macht über die Welt und den Menschen zu sein; als Folge davon fühlt sich der Mensch zum Kampf gegen Gott herausgefordert.” (Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994, S.253)

    “Wenn Sünde ein Abbruch der Kindesbeziehung zu Gott ist, um die eigene Existenz aus dem Gehorsam ihm gegenüber herauszunehmen, dann ist Sündigen nicht nur die Verneinung Gottes: Sündigen ist auch, so zu leben, als ob er nicht existiere; Sündigen ist, ihn aus dem eigenen Alltag zu beseitigen.” (Gnadenvolle, nachhaltige Versöhnung)

    “Die Sünde ist also nicht eine rein psychologische oder soziale Frage, sondern ein Ereignis, das die Beziehung zu Gott schädigt, indem Gottes Gesetz verletzt, sein Plan in der Geschichte zurückgewiesen, die Werteskala grundlegend geändert wird und “die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis gemacht”, das heißt, “das Böse gut und das Gute böse genannt wird” (vgl. Jesaja 5,20). Bevor sie gegebenenfalls eine Beleidigung des Menschen darstellt, ist die Sünde vor allem Verrat an Gott. Bezeichnend dafür sind die Worte, die der verlorene Sohn, der mit Gütern verschwenderisch umging, zu seinem großherzigen Vater sagt: “Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt!” (Lukas 15,21).” (Generalaudienz vom 8.Mai 2002)

    Im Matthäusevangelium (12,31 f.) spricht Jesus selbst von einer “Lästerung gegen den Heiligen Geist”, die “nicht vergeben wird”, weil sie in ihren verschiedenen Formen eine hartnäckige Weigerung darstellt, sich zur Liebe des barmherzigen Vaters zu bekehren. Das sind gewiß extreme und radikale Formen: die Zurückweisung Gottes, die Verweigerung seiner Gnade und somit der Widerstand gegenüber der Quelle unseres Heils selbst, wodurch sich der Mensch den Weg zur Vergebung willentlich zu versprerren scheint. Es ist zu hoffen, daß nur ganz wenige Menschen bis zu ihrem Ende in dieser Haltung der Rebellion oder geradezu der Herausforderung gegen Gott verharren wollen, der seinerseits … in seiner barmherzigen Liebe größer ist als unser Herz (vgl. 1 Joh 3,20) und alle unsere psychologischen und geistigen Widerstände überwinden kann, so daß man – wie Thomas von Aquin schreibt – “am Heil keines Menschen in diesem Leben zu verzweifeln braucht, wenn man die Allmacht und die Barmherzigkeit Gottes betrachtet”.”

    “In Jesus Christus beugt sich Gott dem Menschen zu, um ihm die Hand zu reichen, ihn wieder aufzuheben und ihm zu helfen, mit neuer Kraft den Weg wieder aufzunehmen. Allein ist der Mensch nicht imstande, sich wieder aufzurichten, er braucht die Hilfe des Heiligen Geistes. Wenn er diese Hilfe zurückweist, begeht er die Sünde, die Christus als “Lästerung gegen den Geist” bezeichnet und von der er zugleich erklärt, daß sie nicht vergeben werden kann (Mt. 12,31). Warum kann sie nicht vergeben werden? Weil sie im Menschen sogar den Wunsch nach Vergebung ausschließt. Der Mensch weist die Liebe und Barmherzigkeit Gottes zurück, weil er sich selbst für Gott hält. Er glaubt, sich selbst genug sein zu können.” (Erinnerung und Identität,. Gespräch an der Schwelle zwischen den Jahrtausdenden, Augsburg 2005, S.21)

    “Der Mensch, der vorher (im Zustand der Urgerechtigkeit) in der ganzen Wahrheit seines nach dem Abbild Gottes geschaffenen geistig-leiblichen Seins freundschaftlich und vertrauensvoll mit dem Schöpfer verkehrte, hat nun das Fundament jenes Freundschaftsbundes verloren. Er hat die Gnade der Teilnahme am Leben Gottes verloren: das Gut der Zugehörigkeit zu ihm in der Heiligkeit, nämlich des ursprünglichen Verhältnisses von Unterordnung und Kindschaft.” (Generalaudienz vom 24.September 1986)

    “Je mehr der Mensch zum “Sklaven der Sünde” (Johannes 8,34) wird, umso weniger erfreut er sich der Freiheit der Kinder Gottes. Er hört auf, Herr seiner selbst zu sein, wie es die eigentliche Struktur seines Personseins, d.h. die Struktur eines vernunftbegabten, freien und verantwortlichen Geschöpfes, erfordern würde.” (GA vom 12.November 1986)

    “Die Zurückweisung der Vaterliebe Gottes und der Geschenke seines Herzens findet sich immer an der Wurzel von Spaltungen unter den Menschen.”

    “Es ist auch richtig, daß die persönliche Sünde immer einen gesellschaftlichen Einfluß ausübt. Während der Sünder Gott verletzt und sich selbst schadet, wird er ebenfalls für das schlechte Zeugnis und für die mit seinem Verhalten verbundenen negativen Folgen verantwortlich. Auch wenn sich die Sünde im Inneren befindet, verursacht sie eine Zersetzung des Menschlichen und vermindert den Beitrag zum geistigen Fortschritt der menschlichen Gemeinschaft, den zu leisten jeder Mensch berufen ist.

    Darüber hinaus festigen die Sünden der Einzelnen jene Formen der sozialen Sünde, die eben Frucht des Anhäufens vieler persönliches Sünden sind. Die wirkliche Verantwortung tragen selbstverständlich die Personen, denn die soziale Struktur als solche ist kein Subjekt moralischer Handlungen. … Es ist dennoch eine unbestreitbare Tatsache, daß … die gegenseitige Abhängigkeit der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Systeme in der heutigen Welt vielfältige Strukturen der Sünde schafft. Es besteht eine erschreckende Anziehungskraft des Bösen, das viele Verhaltensweisen als “normal” und “unvermeidlich” beurteilt. Das Böse nimmt zu und bedrängt mit verheerenden Folgen das Bewußtsein, das orientierungslos zurückbleibt und nicht einmal in der Lage ist zu unterscheiden.” (25.8.1999)

    “Wer für die Sünde sensibilisieren will, muß anderswo ansetzen: bei Gott und seiner Zuwendung zum Menschen. Denn die Sünde bekommt erst dort ihre wahre Bedeutung, wo wir sie im Licht der Barmherzigkeit Gottes anschauen.” (25.8.1999)

    “Wenn die Kirche kraft des Heiligen Geistes das Böse beim Namen nennt, so tut sie das nur mit dem Ziel, dem Menschen die Möglichkeit aufzuzeigen, es zu überwinden, indem er sich den Dimensionen der “Liebe zu Gott bis zur eigenen Geringschätzung” öffnet. Und das wiederum ist eine Frucht der göttlichen Barmherzigkeit.” (Erinnerung und Identität, S.20f.)

    Das Aufdecken der Sünde steht in einem zweifachen Zusammenhang zum Kreuz Christi. Einerseits ermöglicht uns der Heilige Geist, durch das Kreuz Christi die Sünde, jede Sünde, in der ganzen Dimension des in ihr enthaltenen und verborgenen Bösen zu erkennen. Andererseits ermöglicht uns der Geist, wiederum durch das Kreuz Christi, die Sünde im Licht der erbarmenden und nachsichtigen Liebe Gottes zu sehen. Und so wird das “Aufdecken der Sünde” gleichzeitig zur Überzeugung, daß die Sünden verziehen werden und der Mensch erneut der Würde des von Gott geliebten Sohnes entsprechen kann.” (Predigt vom 17.August 2002)

    “Das Drama der heutigen Zeit … ist größtenteils durch den Verlust des Sündenbewußtseins bedingt. … Es ist notwendig, dem Bewußtsein den Sinn für Gott, für seine Barmherzigkeit und für die Unentgeltlichkeit seiner Gaben zurückzugeben, damit es die Schwere der Sünde begreift, die den Menschen gegen seinen Schöpfer stellt. Denn der Tatbestand der persönlichen Freiheit muß als kostbares Geschenk Gottes wiedererkannt und geschützt werden gegen das Bestreben, sie in die Kette der gesellschaftlichen Bedingungen aufzulösen oder sie von der unverzichtbaren Beziehung zu Gott abzutrennen.” (25.8.1999)

  7. Umberto di Castillo +, ein Priester in Ayahuasca

    Ein Nachruf an einen Freund

    Er war ein Künstler und Musikliebhaber, ein Freigeist. Nonkonformist. Genau aus diesen Gründen wurde er Priester. Wegen der Wahrheit, seiner Wahrheitssuche. Und wegen des menschlichen Elends. Wie Wucherer- Huldenfeld war er in der Psychoanalyse zu Hause. Er legte sich sogar auf die Couch. Umberto di Castillo liebte Italien, doch sein Einsatzgebiet war Österreich. Zuerst St.Valentin, Niederösterreich, dann Wien Hütteldorf, dann Wieselburg, wiederum im niederösterreichischen Mostviertel, und dann Wien Landstrasse. Von dort demissionierte er die Funktion, nicht das Amt. Schlußendlich unterrichtete er in Wien 13., an einer technischen Schule, Philosophie und Religion, unkonventionell, allseits beliebt.

    Ich kannte Hubert seit Kindheit, eine Lichtgestalt. Ich wußte, in seiner Anwesenheit werden alle unruhig. Die Art, wie er spricht und sich bewegt, paßt niemandem. Die Männer fühlen sich unwohl, denn sie sehen, die Augen dieses Mannes glühen wie Kohlen. Hubert hegte ein Faible für das Theater, das Wiener Burgtheater. Er bewegte sich im Kreis der dortigen Schauspieler. Ähnlich war es mit dem Ensemble der Volksoper. Schlußendlich ehelichte er eine Sängerin der Volksoper. Das konnte nicht gut gehen, bekannte er später selbst. Aber er war ein Schauspieler. Er war niemandem etwas schuldig, so meinte er, und deshalb sprach er frei. Er rezitierte Gedichte frei. Er hatte dieses Elefantengedächtnis eines Schauspielers. Er war exzentrisch. Manche Frauen hegten grenzenloses Vertrauen zu ihm. Er mißbrauchte es nie. Das war von vornherein ausgeschlossen, denn er war durch und durch gottesfürchtig. Das war seine Grundqualität.

    Ich sah ihn nach 15 Jahren wieder, in der Schottenringpassage, eines Abends. Er kam von einer Andacht in der Votivkirche und wollte zu Fuß den ersten Bezirk queren, am Steffl vorbei die Wollzeile hinaus in sein Revier, den Dritten, St.Rochus. Von dort weg, vor mehr als 35 Jahren, hielt ich ihn mir auf Rufweite, für fruchtbare Begegnungen. Er hatte funkelnde Kohleaugen. Das Auffälligste an seinem Gesicht war jedoch immer sein martialischer Schnauzbart. Er rauchte Marlboro, distinguiert, ohne je zu husten. Als er in Pension ging, lebte er in der Rudolfsvilla in Reichenau an der Rax. Im Haus der Habsburger, an seiner Eingangstür ein ausgestopfter, aufgerichteter Braunbär. Er lebte bescheiden wie eine Kirchenmaus, denn er hatte Schulden bei der Bank, wegen einer Bürgschaft für einen Rumänen, der ihn hintergangen hatte. Hubert war immer verschuldet. Er lebte praktisch von der Hand in den Mund. Ich genoß seine Tomatensuppe, angereichert mit Brot. Er lebte wie ein verarmter Schauspieler aus der Monarchie. Einer, bei dem man aufpassen mußte, daß er nicht im Winter erfror. Manche Frauen waren ihm Gönnerinnen. Deren Geld verfloß für die Miete, das Holz zum Heizen. Er war ein Spezialist im Holzanzünden. Er schämte sich seiner Armut nicht. "Ich bin es gewohnt, erhobenen Hauptes Canossagänge anzutreten", sagte er mir einmal. Da kam er direkt von meinen Eltern, seinen Freunden aus den ersten Jahren. Ich bewunderte ihn für seinen Offenbarungseid. Mein Vater schmetterte ihm dennoch das Ansinnen ab. Er tat das nicht wegen Hubert, sondern aus Prinzip, denn er verlieh nie Geld. Hubert war also 260 Kilometer umsonst gereist. Er reiste noch mit dem Nachtzug zurück. (Hubert hatte keinen Führerschein. Alleine der Gedanke, sich in ein Auto zusetzen, produzierte ihm einen Lachanfall. "Selbst wenn ich als Beifahrer einsteige, ist mein Fahrer im höchsten Maße unfallgefährdet. Ich übertreibe nicht! Über mir hält der Heilige Geist seine Hand, doch für meinen Fahrer kann ich nicht garantieren. Ich steige auch in kein Taxi ein, nur in den Bahn- und Postbus. Die sind unfallsicher und außerdem unterhalte ich mit denen ein Bümdnis", meinte er einmal). Die Art, wie er die Abfuhr seines ehemaligen Diskussionspartners hinnahm, zeigte mir sein Format. Ein wildes Tier, das in die Nacht zurückkehrt, in die Kälte, in die Einsamkeit. Vielleicht deshalb war er immer mein Gast. Delia Rosenkranz, die ihn wirklich mochte, sagte es einmal bei Tisch in einem Reichenauer Gasthaus unverblümt, an ihn gerichtet: "Lieber Herr Hubert, merken Sie sich das: Sie sind immer unser Gast, egal, wo wir uns treffen. Wir und viele Unbekannte haben Ihnen soviel zu verdanken. Und wenn Sie einmal nicht weiter wissen, kommen Sie zu mir in die Atacama-Wüste. Dort frieren Sie nicht." "Frau Delia", antwortete er, "ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Sie haben ein großes Herz. Aber den Gefallen kann ich Ihnen nicht tun. Denn die armen Schafe, um die ich mich sorgen muß, wohnen HIER."

    Delia Rosenkranz war eine unvergleichliche Frau. Sie hatte ein Herz für Arme, für Verlassene, für vom Leben Verschreckte, für Alte. Die fielen ihr wie reife Früchte zu. Sie war es, die mich ermahnte: "Herr Hubert braucht uns! Fahren wir! Warum nicht gleich jetzt?" (Es war schon 18 Uhr abends, unter der Woche). "Herr Hubert", sagte sie ihm einmal in der Küche, "Sie sind unser Kind. In meinem Land – Chile – kümmert man sich um die Alten, bis sie sterben. Das ist Pflicht. Machen Sie sich also keine Sorgen." "Ich weiß, Frau Delia", antwortete er, "das ist ihr gutes Herz. Ich weiß es zu schätzen. Aber einstweilen komme ich noch ganz gut alleine zurecht mit meiner Tomatensuppe und dem Brot. Und in einer kalten Wohnung zu hausen, kennt jeder Student. Zur Not hat man noch sein Bett. Und Gott sei Dank hatte ich immer den Schlaf von Unschuldigen."

    In der Konditorei an der Brücke, an einem Samstagnachmittag, bei Apfelschnitte und grossem Braunen, faßte er sein Credo zusammen:

    "Ich wurde von meiner Familie von Anfang an angefeindet, wegen meiner Art. Meine Mutter haßte mich geradezu, als ich meinen Entschluß, Priester zu werden, bekanntgegeben hatte. Das hat soweit geführt, daß ich flüchten mußte. Meine Mutter starb verbittert. Meine Schwester gab mir dafür die Schuld. Auch sie spricht nicht mehr mit mir. Ich bin den Erbstreitigkeiten aus dem Weg gegangen und habe auf meinen Teil verzichtet. Ich konnte auch ohne das leben. Ich habe all das als Prüfungen Gottes verstanden. Er hat meinen Hochmut erkannt. Ich bete jeden Tag intensiv. Die Gespräche mit dem Herrn sind intensiv. Ich frage ihn, warum hast Du mich so geschaffen? Warum so hochmütig? Warum hast Du mich so geschaffen, daß ich dich sosehr radikal infrage stelle?

    Warum läßt Du es zu, daß Satan sich in mein Gebet zu Dir einmischt? Es ist unerträglich, die Stimme Satans zu hören, mitten im Gebet. Wenn es so weit geht, wie kann es dann noch Hoffnung geben? Ich spüre die Verantwortung auf meinen Schultern als Priester. Da begreife ich die Last, die Christus, der wahre Hohepriester, auf sich nahm. Die Sünde der Welt. Das habe ich jetzt in den Nächten des kämpfenden Gebetes verstanden. Das ist das Licht der Hoffnung: Kreuzestod und Auferstehung. Die Menschheit ist nicht mehr der endgültigen Verdammung preisgegeben. Wir sind durch ihn erlöst, auch wenn die Menschheit ihn, den Nazaräner, leugnet. Es ist ein Mysterium, erkennen zu können, wie die Menschheit das Mysterium Christi abweist. Die Macht des Bösen ist für sich ein Mysterium, das mir nächtliche Angstzustände bereitet. Die Spannung der scheinbaren Verworfenheit ist bisweilen unerträglich. Ich fürchte den Tod nicht. Seltsamerweise macht mich ein anderer Gedanken unruhig: "Wer hütet nach mir meine Schafe?" Das Neue Testament gibt zwar eine Antwort auf diese Frage: Christus selbst vollendet sein Heilswerk auf Erden. Doch die Konvulsionen der Erdumwälzung, dieses Sterben über Generationen hinweg in allergrößter Verfluchung, wie soll ich das hinnehmen, selbst in Antizipation? Wie konnte der Herr sagen, die Sünde gegen den Geist kann nicht vergeben werden? Er meinte das Verfluchen des Vaters. Denn der Mensch kommt so weit. Ich habe es aus nächster Nähe gesehen, immer wieder. Tiefste Verzweiflung und schlußendlich Umnachtung im Sterben. Der Kampf gegen den Antichristen ist mein Lebenskampf. Jetzt, im Alter, kann ich es mit Sicherheit behaupten. Es ist doch ironisch, daß ich so zu euch spreche, hier im Café. Es ist wohl göttliches Mitleid, das uns in jedem Moment ereilen kann."

    Hubert war Ayahuascero. Er trank sechs Mal mit mir, in Österreich. Agustin blickte ihn von Beginn an nachdenklich an, als ich ihn vorstellte. Er bat ihn, er möge bei der Eingangskonferenz neben ihm Platz nehmen. Nach der Konferenz wendet sich Agustin an Hubert, als wäre ihm etwas eingefallen: "Padre, kann ich bei Ihnen beichten?" Huberts Antwort: "Meister Augustin, Sie als Katholik wissen, ich müßte die Beichtstola tragen. Doch diese habe ich dem Erzbischof von Wien zurückgegeben. Andererseits weiß ich, daß Ihre Beichte ein schamanische ist, denn sie sind Schamane, soviel verstehe ich. Suchen wir uns also einen ruhigen Platz."

    Das letzte Mal trank er bei Pedro Guerra Gonzales in der Wildschönau. Am Morgen danach sein Statement: "Im ersten Teil der Nacht reinigte ich mich regelkonform. Den Rest der Nacht verbrachte ich im Gebet. Es steht schlimm um uns." Und er blickte meinen Peruaner intensiv an. Der fühlte sich unwohl.

    Ich brachte Hubert zur Bahn und erstattete ihm die gesamten Fahrtkosten plus dem Bus. "Alleine deine Anwesenheit war unbezahlbar, Hubert." Und Hubert fährt wieder zurück, in sein Asyl an der Rax.

    Hubert hebt seit mehreren Jahren nicht mehr ab. Anna, die selbst im Gehen ist, hat ihn, ihren Beichtvater, nicht mehr wiedergesehen, zum Abschied, obwohl sie es sich bis zuletzt wünschte. Es tut jedes Mal aufs Neue weh, wenn ich an ihn denke, erst recht in Ayahuasca. La Purga, la Madre ist eine Weltüberwinderin. Sie führt uns bis zur Pforte. Sie läßt uns erkennen, was Liebe ist, auf milde Art, wie einem Kind. Himmel und Erde können vergehen, doch diese Freundschaft reicht weit hinüber. Sie, und daran besteht kein Zweifel, endet nicht. Großer Gott!

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