„Herr Kollege, Sie sind am Zug!“
„Ich? Am Zug?“
(Zyklus Vassily Ivanchuk, Ukraine)
Es wird still. Wir atmen tief. Endlich kommt der Schlaf. Wir können es beobachten. Wir beobachten, wie wir tief atmen und uns entspannen. Die Tortur der Gedanken kommt zum Erliegen. Ich spüre die weiche Matratze, das frischgespannte Leinen. Alle Apparate sind abgeschaltet, die Tür verschlossen. Es wird niemand anrufen, ich weiß es. Nicht in dieser heiligen, menschenleeren Stille. Ich treibe fort, so wie alle anderen auch. Beim Sterben ist jeder für sich allein. „Laßt mich allein! Wenigstens beim Sterben will ich allein sein! Könnt ihr es nicht lassen, mir auf die Nerven zu gehen?“ „Herzchen, sei doch so lieb und hol mir eine Tasse Tee vom Schwesternzimmer.“ Die Gattin geht den Tee holen. Derweilen geht auch der Gatte.
Nebel fällt ein in Grindelwald. Schlußendlich verschwindet auch der letzte drohende Schatten der Eiger-Nordwand im Totenhemd des gespenstischen Nebels. Heinrich Harrer ist tot. Und Brad Pitt hat sich entschlossen, den Tod nicht mehr aus den Augen zu verlieren. Brad Pitt kauft sich eine Hütte in Montana und zieht sich über den Winter in sie zurück, wie ein Bär, ohne Telefon, ohne Waffe. Er will den Winter verschlafen. Er kann es sich leisten, befindet er sich doch in einer beneidenswerten Lage.
Im sibirischen Khanty Mansyisk, der Hauptstadt des Schachs von Wladimir Putins Gnaden, hält die Kälte Einzug auf den gepflasterten Plätzen. Ein geistesabwesender Herr sitzt des Nachmittags auf einer marmornen Bank. Sein Blick folgt einem Spalt zwischen zwei Gebäuden, hinaus in die Dämmerung der schwarzgewordenen Wälder. Sein Kopf bewegt sich nicht. Es scheint als stiere er ins Nichts. Niemand wirft ihm einen Blick zu, niemand erkennt ihn. Die Lichter gehen an. Schneeflocken beginnen wieder aus dem Dunklen herabzutanzen. Der Schritt der Passanten ist zielgerichtet. Man merkt, sie suchen das Warme. Auch Vassily Ivantschuk erhebt sich. Er kratzt sich am Kopf. Ohne sich umzusehen betritt er die nächste Lokalität, ein Café. Er geht nach hinten, ein Raucherabteil, und setzt sich an einen kleinen Zweiertisch. Er bestellt sich einen Mokka, einen kleinen, ohne Milch, ohne Zucker. Er legt den Kopf in seine Rechte und sinniert, den Blick auf den braunen Marmor der Tischplatte gerichtet. Nach einer Weile hebt er den schweren Kopf und lächelt wiederum ins Nichts, wie ein Kind. Die Augen sind ihm feucht. „Wir sind am Ende, und ich auch. Ich weiß nicht mehr weiter. Wir brauchen den Waffenstillstand. Die Schach-Uhr wird in Gang gesetzt, doch Weiß macht keinen Zug. Wir schütteln einander die Hand und firmieren das Partieformular. „Remis im beidseitigen Einverständnis. Das Spiel ist zu Ende. Morgen reisen wir ab. Wir bedanken uns für die Gastfreundschaft.“ Der hinzutretende Schiedsrichter aus Belgien, Gert Guyssen, einer, der schon viel gesehen hat und das Regelwerk wie kein zweiter kennt, bittet mit verhaltener Stimme um Aufklärung. Nigel Short, der britische Gentleman-Großmeister erklärt die Sachlage. „Die Spielpartner haben soeben ihre definitive Demission beschlossen, Sir!“ „Wie das?“ „Nun, Sir, es ist einfach Zeit. Oder besser gesagt, es bleibt keine Zeit.“ Am Nebentisch blickt der bullige Shakryar Mamedyarov aus Azerbeidschan hoch und beginnt breit zu grinsen. Er kann es sich nicht verhehlen. „Jetzt also zieht „Chucky“ es durch. Er brauchte nur den richtigen Partner. Einen, der nicht blutrünstig ist.“ Und „Shack“ murmelt zu seinem Partner Gata Kamsky, dem US-Amerikaner, auf Russisch, „Gata, wir haben die Hofrevolution. Machen wir mit?“ Gata Kamsky blickt ihn mit seinen großen Mondaugen verdutzt an. „Hab ich ihn verstört?“, fragt sich Shack. Da hört er das Murmeln nach einem Räuspern. „Ja, die beiden haben recht. Bravo. Es wurde Zeit. Ich kann meine Ehe nicht länger auf´s Spiel setzen. Was wir hier seit Jahren durchziehen, ist doch nur ein Schmierentheater. Und wir kassieren Start- und Preisgelder aus den Händen der Mafia.“ Spricht´s, schnappt sich das Formular und wichst groß die Formel „1/2“ samt seiner Faxe auf das Papier.
Und wir wissen, wie alles endete. Boris Gulko, der Mann, der sein halbes Leben im Gulag verbracht und erlitten hat, denkt sich in Pasadena. „Chucky ist nicht nur verrückt, sondern auch klug und ein Menschenfreund. Er rettet uns alle vor einem unwürdigen Tod. Widmen wir uns ab sofort der Kindererziehung und nicht mehr den Ratschlägen einer Maschine namens „Houdini“, der schon lange kein Mensch mehr gewachsen ist.“
Wann kommt der Moment, wo die Formel Eins nicht mehr im Kreise fährt? Bald, Freunde! Der Kuckuck ruft´s aus dem Wald. „Volltanken, bitte, aber schnell!“ „Tut mir leid, mein Herr. Nummer eins: Uns ist das Benzin ausgegangen; Nummer zwei: Sie sind nicht kreditwürdig.“
„Guten Abend, mein sehr verehrten Damen und Herren! Gudrun Landgrebe und ich begrüßen Sie zu den ORF-Abendnachrichten. Die gute Nachricht zum Tag: Heute ist nirgendwo in der Welt ein Verbrechen oder eine Katastrophe geschehen; auch der Papst ist nicht gestorben und auch nicht der Dalai Lama. Die schlechte Nachricht: Der Programmchef hat entschieden, es wird keine Abendnachrichten mehr geben. Statt dessen schalten wir ab morgen täglich ab 19.30 Uhr für 15 Minuten auf die Live-Kamera am Mond, die unsere Erde im Fokus behält.“
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Irrläufer und komplizierte Rösser
Ende dieses Monats findet in Kirsan Ilyumshimov’s und Wladimir Putin’s sibirischer Schachhauptstadt Khanty Mansiyisk das diesjährige Kandidatenturnier statt. Ohne Wassily Ivanchuk. Er wird deshalb nicht unglücklich sein, hat er doch viel zu bedenken in seiner Heimatstadt Lvov. Sie werden ihn nicht wie Vitaly Klitschko zum Sportminister vorschlagen, auch wenn er Kinder zum Abbusseln gern hat. Nein, das werden sie nicht, aber sie werden ihn dann und wann ins Rampenlicht holen, den einzig ehrlichen Sportler auf Gottes Erdboden (die Übertragung sei gestattet). Der einzige, der nicht lügt und der sogar mal Tränen in den Augen hat vor Wut gegen sich selbst und Selbstschelte, weil er wieder mal, so wie gegen Hikaru Nakamura schon vor Jahren in Dresden bei der Schacholympiade, im ausgerechnet letzten Match gegen die USA, „wie ein Kind spielte“ und deshalb die Halle fluchtartig verlassen und der Betonsäule draußen einen heftigen Tritt verpassen mußte, der ihm beinahe die Zehen gebrochen hätte. Wassily jault auf und geht zu Boden, schon wieder Tränen in den Augen. So schleppt er sich auf eine überdimensionierte Marmorblumenschale, in deren Erde er seinen schweren Kopf plumpsen läßt. So bleibt er eine Weile liegen. Passanten trauen ihren Augen nicht. „Wir haben es ja schon immer gewußt: Die Klötzchenschieber sind allesamt ein wenig meschugge. Außerdem stinken sie und kleiden sich wie Sandler. Und Krawattebinden versteht nur der Weltmeister.“
Wassily Iwantschuk, mein Freund in der Ferne, wird wieder auftreten in La Havanna, Kuba, zu Ehren der kubanischen Jugend. Dort wird er herumgereicht werden und den Kindern wird er auf Spanisch radebrechen: „Kinder, Schach spielen ist eine gute Schule. Da lernt ihr zu denken, aber vor allem eins: In Würde zu verlieren. Wenn euch das auf die Dauer zu sehr auf die Nerven geht, könnt ihr es immer noch sein lassen. Keiner wird euch deshalb einen Vorwurf machen. Und ihr selbst müßt euch auch nicht schimpfen, auch wenn ihr wegen der Niederlage weint. Deswegen muß man sich nicht schämen. Der Weltmeister Kasparow, wie er noch jung war, hat regelmäßig nach einer Niederlage geweint. Seine Mama Klara hat ihn getröstet. Das hat ihn erst recht wütend gemacht. Aber Wut, Kinder, ist ein schlechter Lehrmeister. Sie läßt euch nicht klar denken. Und wenn ihr im Schach nicht klar denken könnt, werdet ihr keine Großmeister. Deshalb, Kinder: Eure verlorenen Partien genau durchstudieren! Am besten mit jemand Erwachsenem, oder mit eurem älteren Bruder, oder im Schachklub. Aus Niederlagen und Fehlern lernt man im Leben, Kinder. Merkt euch das!“ Und der kubanische Sportminister wird wieder grinsen und Wassily zum wiederholten Male vergeblich zu einer Havanna einladen.
Im März also startet das Kandidatenturnier. Der Exweltmeister Anand aus Indien, der im November seinen Titel gegen Magnus Carlsen, den norwegischen Shootong Star, verloren hat, muß aufpassen, daß er nicht letzter wird. Er tritt gegen vier Russen an, womöglich eine verschworene Gemeinschaft. Wir werden sehen. So wie zu Breschnjews Zeiten wird der russische Verbandspräsident bereits die Order ausgegeben haben: Der Titel muß wieder zurück zu Mütterchen Rußland. Wer ist der Auserkorene? Exweltmeister Kramnik, der in Paris lebt? Er verlor im vergangenen Kandidatenturnier gegen Carlsen nur durch eine diskutierbare Sonderregelung (Carlsen gewann mehr Partien, Kramnik verlor weniger). Dann haben wir den stets im Jackett auftretenden, nervenstarken „Remiskönig“ Dimitry Andrejkin, der in Tromsö erst im Finale in der Verlängerung gegen Kramnik verlor, ein sympathischer Bursche. Sehr sympathisch. Dann haben wir den Dissidenten Karjakin, einen Ukrainer, der sich zum russischen Verband trollte, weil er wußte, er würde dort gefördert werden. Iwantschuk, dem ukrainischen Nationalheros, wäre das nicht einmal im Traum eingefallen. Ihn interessieren Start- und Preisgelder nicht, so wie Geld allgemein nicht. Und dann kommt noch Peter Svidler durch eine Wildcard. Er, mehr Engländer als Russe. Ein Kricketspezialist. 7-facher Rußland-Meister (oder waren es nur 6 Titel?). Liest internationale Literatur und hört ausgewählte Musik. Hat also guten Geschmack. So etwas leistet sich nur die Weltspitze im Schach. Guten Geschmack und Verheiratet-Sein. Dann kommt mein Sympathieträger Shakryar Mamedyarov aus Azerbaidschan, der Bulle, der gerade seinen besten Freund, Vugar Gashimov, ein Weltklassespieler, durch Gehirntumor verloren hat. Gashimov brach bei der Europameisterschaft direkt am Brett zusammen. Sie dachten, es wäre Epilepsie. Der Teamkapitän verständigte sich am Schlag mit dem gegnerischen. Der wußte, was Fair Play heißt und alle vier Partien wurden standrechtlich remis gegeben. Hut ab! Vugar Gashimov ist tot. Er starb im Jänner in Erlangen. „Shak“, wie sie ihn nennen, ist Nonkonformist. Er tritt mit klarem Blick gegen die türkische Politmafia auf, weil die ihn während der Euopameisterschaft mittels einer lächerlichen Regel mobben wollte. Er hat starkes Nervenkostüm, aber ist kein Killer. Das mag ich an ihm. Er will nicht den Gegner zerstören, sondern eine gute Partie abliefern und sich dabei selbst übertreffen. Davon gibt es nur wenig. Dann haben wir den Bulgaren Topalov, kein unbeschriebenes Blatt. Einer, der mit der Mafia zusammenarbeitet und dem die Elektroverkabelung in den Zähnen nicht gut bekam. Vielleicht übertreibe ich. Aber wir hatten jüngst einen anderen Bulgaren, einen ausgesprochenen Tunichtgut. Er arbeitete mit einem Computer in seinen Schuhen, weshalb er nicht normal auftreten konnte. Mittlerweile verbannt, doch der miese Kerl leugnet hartnäckig. Also Achtung vor Topalov, dem Bösewichtbartträger. Und dann haben wir Levon Aronian, den Armenier, von dem Carlsen sagt, er werde der Herausforderer. Aronian ist wirklich cool. Er lebt in Berlin, hat ein philippinisches Model als Freundin, deretwegen es bereits einmal während einer Abschlußparty einen Faustkampf gab zwischen England und Armenien. Aronian spielt alles, was unangenehm ist. Hyperscharf und dennoch nicht ungesund. Ein nicht allzu großer Herr, extravagante Designeranzüge, Designerhemd, 3-Tages-Bart und zieht mit Links. Betätigt auch die Schachuhr mit Links. Auch einer der Kultivierten, die den Gegner nicht umbringen müssen. Ein wohltuender Phlegmatiker. Ich mag Phlegmatiker.
Also, wir werden sehen. Spannend. Das Weltgeschehen darf den Atem anhalten und zusehen. Das Anthem der rat- und rastlosen Menschheit. Die Spezialisten werden analysieren, öffentlich bezahlt oder zuhause. Sie machen sich ihren Reim. Dann das Fußvolk der Berufsspieler. Auch sie machen sich einen Reim, für die eigene Praxis. Und dann die Amateure, alle mit großen Augen, staunend, mit der eingeschalteten Computerengine nebenbei, die in Sekundenbruchteilen die Stellung bewertet und 24 Halbzüge voranrechnet. In England darf man auf den Ausgang wetten. Wer wagt, gewinnt.
Magnus Carlsen braucht nicht zu wetten. Er ist bereits Multimillionär. Er, das Star-Model von G-Star, dem Modelabel. Ein gesuchter Gesprächspartner in den amerikanischen Talkshows.
„How life imitates Chess“ ist ein Buch von Kasparow. Er hat nicht unrecht. Schach existiert nur mit Menschen, auch wenn momentan das dritte Marathon-Turnier der weltbesten Schachcomputer gestartet wurde. Denn Computer müssen bedient werden, und die Ergebnisse interessieren nur Menschen.
In Sibirien wird also demnächst Krieg simuliert. Nur die, die am Brett sitzen, verstehen ihn. Der Krieg en miniature zwischen Menschen, ohne Beckenbruch durch Sturz im Zielgelände, aufprallend auf den Einfahrtspfosten, wie Lindsey Vonn, die Schifahrerin, Tiger Woods Freundin.
Keiner der Herren wird gedopt sein. Bringt nie etwas. Robert Hübner, der Kölner, hat zurecht standrechtlich Skandal gemacht. Dann reichte es ihm, aus mehrereren Gründen, und er zog sich vom Schach zurück. Robert Hübner, der unverstandene Altphilologe. Einer, der eine genaue Vorstellung davon hat, wie das Leben im Altertum war. Und einen solchen Herren bezeichnete Viktor Kortschnoi als „Nihilisten“. Kaum zu glauben! Viktor Kortschnoi, der mehrmalige Vizeweltmeister, der Anatoly Karpov, dem Sowjetparteigänger, unverblümt mitten in der Partie eine Beleidigung ins Gesicht schleuderte, weil der ihn mit einem kalten Mörderblick verunsichern wollte, ein Gemurmeltes: „Du opportunistischer Kretin!“ Heftig, nicht?
Ja, Viktor Kortschnoi hat das Spiel jetzt aufgegeben, nahe der 90, da er im Rollstuhl sitzt. Wird ihm seine Gattin wirklich Schachbrett samt Figuren in den Sarg mitgeben, wie es der Wahlschweizer, der sich nie vom Staat eine Pension ausbezahlen lassen wollte, schon vor 20 Jahren artikuliert hat? Das ist doch wohl nicht Nihilismus!
Eine Reihe von Großmeistern starb direkt am Brett, so wie Wladimir Bagirow, der Aljechin-Spezialist. Amateure auch. Andere Männer sterben beim Liebesakt. Schachleidende sterben mitten während der Partie. Weder das eine noch das andere sind Formen des Nihilismus. Im Gegenteil!
Zu dopen, ja, das ist Nihilismus. Wie lächerlich! Was für ein Schmierentheater. Diese Miesepeter. Der ganze Radsport ist versaut vom Doping, schon seit Jahrzehnten. Was glauben diese Verblendeten denn, was dieses Leben bedeutet? Selbstzerstörung? Miguel Indurain kollabierte mitten am Berg. Er mußte absteigen und aufgeben.
Die Tennisspieler, die hochbezahlten. Was für eine Farce! Und wir sollen uns Stunden unserer Lebenszeit von diesen Betrügern, allesamt Mehrfachmillionäre, stehlen lassen?
Die amerikanischen Basketballspieler. Muskelungetüme! Und so weiter und so fort.
Widmen wir uns Erbaulicherem. Zum Beispiel der Frage, was, wenn die Pyramiden von Gizeh nicht 6.000 Jahre alt sind, sondern 29.000 Jahre? Doch davon das nächste Mal.
Guten Tag! Hallo, wie geht es?
Ein Taucher im Meer der Varianten
Ein Herr mit starken Gläsern und schütterem blonden Haar. Ein Intellektueller, der sich auf das Denken versteht. Ein Einzelgänger, der auf Gruppenfotos nie, aber wirklich nie, in der vordersten Reihe steht. Auf allen Fotos einer Schachturnier-Abschlußfeier sieht man Dr.Robert Hübner in der hintersten Reihe stehen, bisweilen sogar beinahe gänzlich versteckt, als wäre er es, der dem Fotografen mit seiner Unsichtbarkeit einen Streich spielen wollte. Er legt auf Publicity keinen Wert. Hübner war nie ein Vorzeige-Großmeister. Keiner, mit dem Geld zu gewinnen war. Ein Introvertierter, so wie Wassily Iwantschuk, wenn auch nicht so kraß. Lange Zeit Deutschland Nummer Eins. Zwei Mal Weltmeisterschaftskandidat, zuletzt gegen den mittlerweile verstorbenen Exweltmeister und Altveteranen Wassily Smyslow, einem Opern-Bariton im Nebenberuf, Russe natürlich. Das Match endet im Casino von Velden nach Verlängerung unentschieden. Die Organisatoren hatten entschieden, in einem solchen Fall würde die Roulettekugel entscheiden. Natürlich zu Ungunsten Hübners. Hübner hätte den Gewinn des Halbfinalkampfes durch puren Hazard niemals akzeptiert. Hübner ist mehr noch als Iwantschuk für einen Skandal geeignet, allerdings für einen diskreten, ohne seinen Fuß gegen eine Säule zu schmettern oder dem Gegner unter dem Tisch „versehentlich“ ans Schienbein zu treten. Und Schreien liegt ihm schon gar nicht. Seine Stimme blieb immer moderat leise. Das ist eines seiner Geheimnisse, eine fulminante Stärke. Immer leise zu bleiben. Das gelang ihm wohl, weil er sich nie unter das Volk mischte. Hübner schaltete die Gefahrenzonen systematisch aus. Er machte mit niemandem Geschäfte. Er war akademischer Fachmann für das alte Griechenland. Wer weiß, wieviele Sprachen er spricht, Isländisch und Ungarisch eingeschlossen. Das ist ähnlich wie bei unserem Sorgenkind aus der Ukraine, dem Mann aus Lvov, der sich auch schon mal ans Chinesische machte, Mandarin. In den Ferien, wie er gestand. Hübner war pragmatisierter Universitätslehrer. Das erlaubte ihm, ein Schachprofi zu werden. Doch zum Weltmeistertitel sollte es nie langen. Dazu war er zu friedfertig. Haß lag ihm fern. Erstaunlich und bewundernswert. Er spielte in den frühen Siebziger-Jahren einen Viertelfinal-Kampf zur Weltmeisterschaft gegen den armenischen Exweltmeister Tigran Petrosjan, in Buenos Aires. Petrosjan war schwerhörig. Sie spielten in einem Einkaufs-Center in Buenos Aires. Als Werbung für den Sponsor. Was sollte Hübner machen? Petrosjan schaltete sein Hörgerät aus und gewann die vierte Partie. Hübner reiste standrechtlich ab. „Robert“, so wird das Wort Petrosjans überliefert, „das kannst du doch nicht machen!“ Die Antwort Hübners ist nicht überliefert.
Die Unfähigkeit zum Haß in einem Spiel – manche nennen es einen Sport – nicht zu Unrecht, bedenkt man den Gewichtsverlust während einer sechs- oder siebenstündigen Partie -, diese Unfähigkeit zum Haß, diese leicht exzentrische Lederjackenvornehmheit machte Hübner niemand nach. Denn er lebte in einer Gedankenwelt, ähnlich wie Iwantschuk. Also nicht in einer Tatwelt. Die Taten, das waren Züge am Brett und schriftliche Variantenberechnungen. Alles Gedanken und, wie Hübner offenherzig bekundete, „feisten Fehlern“ entsprungen. „55 feiste Fehler“ nannte er eines seiner Bücher. Eigene Fehler. Hübner grübelte über eine verlorene Partie tagelang, doch ohne Tränen in den Augen. Eine Ungenauigkeit im achten Zug der Eröffnung kommentiert er mit einer halben Seite. Seine endgültigen Schlußfolgerungen veröffentlichte er allerdings nicht. Ich weiß nicht, ob er in psychologische Abgründe vordrang. Eins steht allerdings fest, Hübner war kein ödipaler Vatermörder wie die Legionen vor ihm. Er gab das Spielen schlußendlich auf, vor ein paar Jahren. Er verlor die Lust daran. Er zog die Analyse der Vergangenheit vor, beispielsweise die kritische Hinterfragungen der Anmerkungen Robert James Fischers, des Siegers von Reykjavik 1972, so wie eine Zusammenschau der Partien des Nazi-Befürworters Alexander Aljechin, der 1947 in der Schweiz in seinem Hotelzimmer an einer Fischgräte erstickte. Hübner war somit Nonkonformist. Er hinterfragte. Politischer Nonkonformist, der keine Zugeständnisse ans Geld machte. Er hatte ein Faible für jene Schachspieler, die in Armut oder in Geistesverwirrung starben, so wie Emanuel Lasker, der einzige Schachweltmeister, den Deutschland anfangs des 20.Jahrhunderts hervorgebracht hat.
An Hübner war bemerkenswert, daß seine politischen oder philosophischen Statements praktisch nicht überliefert sind, unter anderem auch, weil er sie nie direkt äußerte. Er handelte durch Fortgehen, Abreisen. Ein veritables Statement war auf Anatoly Karpow gemünzt, Breschnjews Liebling, einem, wie z.B. in Baguio, beim WM-Kampf gegen seinen Erzrivalen Viktor Kortschnoi, vom KGB gedeckten, linientreuen Kommunisten. „Zu meinen, die Partie sei von Anfang an entschieden gewesen, weil man der bessere Spieler sei, ist eine unentschuldbare Selbstüberschätzung.“ Im Gegenzug zu Hübners Aussagen gibt es kleine Anekdoten über ihn en masse. Nichts Kompromittierendes.
Was an dem Kölner allen Lesern seiner Werke maßloses Erstaunen abverlangte, war jedoch eine Lebensart, die auf einer unwandelbaren Entscheidung basierte, nämlich, beim Analysieren von Partien – nicht nur den eigenen – in ein Meer von Varianten einzutauchen. Ein Eintauchen als reiner Selbstzweck, als vorläufige Wahrheitsfindung. Hübner analysierte Partien im jugoslawischen „Informator“ und im Hamburger „Chessbase-Magazin“ über Seiten. Das gab es nicht vor ihm und sollte es auch nach ihm nie mehr geben. Dieses Feuer verstand niemand. Fremde Partien über Tage zu analysieren, ohne Computer. Hübner verwendete niemals Computer. Niemals. Es ging ihm um das Denken. Dieses reine Denken am gegebenen Gegenstand. Die Suche nach der korrekten Aussage. Die Suche nach der korrekten Stellungseinschätzung. Varianten über Varianten. Niemand spielte sie nach. Manche überflogen sie vielleicht, über Stunden. Man öffnete den Informator, überflog ihn. Eine Hübner-Kommentierung. Ah ja, sieben Seiten. Das war also Selbstzweck. Hübner suchte Ressourcen. Er war ein Anhänger des geflügelten Wortes des jetzigen Schachweltmeisters, des 23-jährigen Norwegers Magnus Carlsen. „In jeder Stellung gibt es Ressourcen“. Wenn es jemanden gab, der den Tod einer Partie, die endgültige Entscheidung, verneinte, dann war es Robert Hübner. Das war, so meine ich, Hübners eigentliches Credo. Der Tod kommt später als man denkt. Zu hassen ist absolut lächerlich. Der Ausgang einer Partie hat mit psychologischen Faktoren zu tun, doch diese ändern absolut nichts an den Gesetzen des Spiels. Und diese Gesetze räumen beiden Spielern unbedachte, unerkannte, ungefundene Ressourcen ein, die ausschließlich im Bereich der Gesetzmäßigkeit und niemals im Bereich des Zufalls, der Willenskraft oder der Aggression liegen. Robert Hübner war kein Vatermörder. Das schockierte Viktor Kortschnoi, ein gebranntes Kind der Belagerung von Leningrad. Ein Herr, der ihm gegenübersitzt, dem nicht an Kampf gelegen ist. Einer, der nicht wie Iwantschuk in die Luft starrt oder wie ein Narr grinst. Keiner, der ihn mit Mörderblick anstarrt. Mit diesen Lächerlichkeiten hatte Hübner absolut nichts im Sinn. Hübner vergrub sein Gesicht in die Hände. Er hob den Blick niemals zu seinem Gegner. Er war im Wunsch abgeklärt, nicht jedoch in seinen Gefühlen. Die spielten ihm zeitweise einen Streich. Und warum? Weil Friedfertigkeit inmitten all der Gemeinheiten schwer durchzuhalten ist. Hübner war friedfertig, ähnlich wie Dr.John Nunn, der englische Großmeister, Mathematiker und mehrmalige Schachproblemlösungsweltmeister, der sich jetzt, wo er ins Alter gekommen ist, in die Astronomie vertieft. In Galaxien, die eine Billion Sterne umfassen. Hübner und Nunn weisen Gemeinsamkeiten auf: Sie reisen potentiell durch die Unendlichkeit und vergessen dabei nicht, sich des Ausgangspunktes zu vergewissern. Doch sie reisen weit, ohne Angst. Bis sie auf einen Planeten treffen, der tot ist. „Die Weiterreise macht keinen Sinn mehr, Robert“, sagt Dr.Nunn zu seinem Reisegefährten. „Wir haben genug gesehen. Und wir können nicht alles sehen. Wir sind Zwerge. Uns gehört das Universum nicht. Irgendwo, irgendwann muß ein Ende sein.“ „Ja, hast Recht, John“, erwidert Dr.Hübner. „Kehren wir um. Ich habe genug gesehen. Ich bin im Frieden. Es tut mir nur leid. Soviele Menschen tot, auch die Bewohner dieses Planeten. Und mein Vater auch. Ich bin mit ihm versöhnt. Bin ich es auch mit mir?“ „Robert“, ergänzt da Dr.Nunn, „Robert, meinst Du, Du wärst dazu nicht in der Lage, dich mit dir selbst zu versöhnen? Du, ein Mann dieser Denkkraft?“ „Meinst Du, das Denken genügt, John?“ „Ja natürlich, Robert. Mit der Wahrheit kommst du zur Ruhe und wirst dankbar, die Wahrheit erkannt haben zu können. Pi existiert außerhalb von uns. Doch uns wurde das Vermögen gegeben, diese Zahl, die nicht abgeschlossen ist, zu erkennen. Ist das nicht ein Wunder? So wie das Schachspiel, das den Indern geschenkt wurde. Was für ein Gott muß das gewesen sein?“ „Ja, John“, schließt Dr.Hübner. „Wie schwer war es, mit mir und meiner Sterblichkeit Frieden zu schließen. Ging es Dir ähnlich?“ „Natürlich, Robert! Wem sagst Du das?“
Noch ein Tag, an dem die Frösche kamen
Ein strahlender Tag in Manhattan. Ein Frühherbsttag. September. Geschäftiges Treiben und doch entspannt. Die zur Arbeit Eilenden genießen die Sonne, die lauige Wärme der Luft. Ein zeitloser Tag. „Möge er lange so dauern. Möge der Herbst lange so dauern“, denkt manch einer. Am Hudson-River beginnen Frösche wie aus dem Nichts zu quaken. Ein helmbewehrter, stattlicher Hafenarbeiter hält stutzend in seinem Kaugummikauen inne und stemmt seine behandschuhten Hände in die Hüfte. „Do you lissen that, Ken?“, ruft er zu seinem schnaufenden Kollegen. „The frogs are gonna to be crazy today. How rare!“
Talia Bey aus Talahassee, Florida, verbringt zu Weihnachten mit ihrem Mann Roger, einem rundbäuchigen Versicherungsmakler, ihren zweiten Honeymoon auf der thailändischen Ko Phi Phi-Insel. Sie feiern ein gelungenes, erfolgreiches Jahr. Händchenhaltend stapfen sie auf der schottrigen Uferbank des Moonshine-Rivers, dem Idyll der Frischverliebten, frühmorgens landeinwärts. Roger möchte mit seiner neuerworbenen Leica Nebelmotive schießen. „Mind your step!“, ruft ihm Talia zu. „Darling, you’re not anymore the youngest, although that night was exceptional, sweetheart. Sweethaaard!“ Sie wirft sich in Pose, denn Roger wendet sich nach ihr um und nimmt sie mit seiner Leica in den Fokus, einen gespielten Blick des Begehrens auf den Lippen. Da senkt sich eine Nebelbank hinter ihm wie ein Leintuch vom bewaldeten Bergrücken herunter. „See that, Darling!“ Talias Ausdruck ist mit einem Mal ernst, besorgt. Roger wendet sich um, blickt nach oben. „Josh!“, entfährt es ihm. „Nature wants to cover us!“ Im Nu sind sie vom Nebel eingehüllt. Vielstimmiges Froschquaken stimmt an. „Do you lissen that, Darling?“, fragt Talia, mittlerweile an ihren Mann herangekommen, „How rare that“, und legt schutzsuchend Kinn und Hand auf ihres Mannes Schulter. „Almost spooky, isn’t it? Let’s better return to the beach. How about?“ „Yeah, Darling“, antwortet Roger. „How strange. As if the fog means death.“ „Don’t tell that, Darling. Let’s go back to our room. I feel horny again.“
Es ist zweiter November, Allerseelen. Ein Herr im grauen Mantel und fußlangem schwarzen Talar darunter eilt zu seinem Ziel, Ramperstorffergasse 65, Wien Margarethen. Es ist Viertel vor Sechs. Die Morgenandacht seiner Glaubensbrüder beginnt in St.Joseph um Sechs. Er quert den nebeldunstverhangenen Karlsplatz. Leichtes Nieseln setzt für Sekunden ein, verzieht sich wieder. Aus einem Teich beginnt ein vergessener Stadtbesucher zu rufen. Wucherer-Huldenfeld, der Gottesmann, hält inne. „Wie das? Ein Frosch um diese Jahreszeit?“ Das Amphibium ruft nochmals, dunkler. „Sieh‘ an, die Kröte hat noch nicht eingewintert!“ Und nochmals läßt sich die Kröte vernehmen. Wucherer-Huldenfeld eilt weiter. „Was wollte sie mir bloß sagen?“, denkt er plötzlich im Gehen. „Seltsam. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Wie im Traum!“
Ein Kind beginnt im Schlaf zu sprechen. Es murmelt und knirscht mit den Zähnen. Es atmet tief. Sein Traum ist abenteuerlich, problematisch. Der Vater hört in seinem Bett augenblicklich auf. Draußen das Konzert der Frösche, mitten im Dorf. Das Kind beruhigt sich wieder. Der Vater liegt noch eine Weile grübelnd wach, dann streckt er sich wieder in den Polster. Viertel vor Sechs beginnt es schlagartig in Strömen zu regnen. Es schüttet. Die Kinder überziehen mit ihrem Schlaf. Die Schule wird wegen des Regens eine halbe Stunde später beginnen. Die Kinder wissen das in ihrem Schlaf. „Hoffentlich hat meine Gattin in der Bezirkshauptstadt eine ruhige Nacht verbracht“, denkt der Familienvater. „In fremden Betten zu schlafen ist nicht jedermanns Sache.“ „Was hast Du geträumt, Elias?“, fragt er den Jüngsten, als dieser sich aufrappelt. „Die ganze Welt war überschwemmt, Papa. Doch unser Haus ist zum Glück geschwommen.“
Ein Jäger schultert sein Gewehr. Es ist August, drei Uhr morgens, 1967. Er besteigt seinen grauen Volvo 164 und fährt in das nahe Revier. Er weiß, heute wird er den Wagen oberhalb des Reviers in dem kleinen Schacherwald parken, um die Rehe unterhalb nicht zu verschrecken. Er schließt die Autotür mit Vorsicht und beginnt nach eingeübter Gewohnheit mit dem ersten Schritt bereits zu pirschen. Er hat nicht weit zu seiner Kanzel, jener, die sein bester Freund und Namensvetter erst vor einem Jahr aufgestellt hat. Er steigt hoch und löst vorsichtig den Nagel, der die Schwingtür verschlossen hält. Leise schließt er, als er bereits sitzt, die Tür und öffnet den Lauf seiner Büchse, um ihn mit einer Patrone aus seinem Leibgurt zu füttern. Leise läßt der Waidmann den Lauf seiner Steyrer Mannlicher einschnappen. Er sichert die Waffe und stellt sie in den Winkel, greift zum Feldstecher. „Ob die Gaissen wohl schon austreiben?“, fragt er sich in Gedanken. Doch selbst der Gedanke hallt ihm nicht nach. Alles ist leise. Leise spitzt der Waidmann nach alter Gewohnheit die Lippen. „Mal sehen, was kommt“. So fixiert er den Waldrand schräg unterhalb seines Postens. Es dämmert. Der Waidmann registriert ein leises Schnattergeräusch. „Grillen“, denkt er. Sekunden später korrigiert er sich. Geistesabwesend blickt er ins Leere, nach oben. „Ein Froschkonzert? Jetzt? Um diese Zeit? Als wenn sie Husten hätten! Dabei liegt doch weit und breit kein Regen in der Luft. Und noch dazu so fremdartig! Als wenn das gar nicht die unsrigen wären…“ Der Waidmann versinkt im Nachhören. Er registriert nicht, was er sieht. Seine Gedanken wandern fort. Weit fort. Er fühlt sich fortgetragen. Der Waidmann fühlt ein altbekanntes Gefühl aus seinem Herzen hochsteigen. Ein Gefühl, das nur er kennt. Ein Gefühl, das nur aufsteigt, wenn er alleine weilt, in der Natur. Eines, über das er nicht sprechen muß.
Derweilen liegt seine Gattin im Schlaf. Sie träumt vom Krieg. Die Russen kommen. Sie sieht die Speichen der vom Pferdegespann gezogenen hölzernen Struppiwagen. Der wilde Lenker schnalzt mit der Zunge. Sein Grinsen ist hämisch gemein. Er denkt an die Beute, die ihnen allen zusteht. Die Frauen dieses Landes. Eine ganze Woche lang. Der Atem der Schlafenden wird tief. Sie hört ein Schnattern. Das Schnattern wird zu Stimmen. „Geh‘ in den Teich. Versteck dich unter der Böschung, dort, wo die Bisamratten hausen.“ Die Frau reißt im Traum die Augen auf. „Dorthin? Niemals!“ „Es bleibt Dir keine Zeit! Hörst du nicht das Rumpeln? Sie kommen gleich! Sie stehen schon im Dorf! Ein paar kommen sicher bis zu euch!“ Die Frau gerät in Panik. Wohin, wohin? „So helft’s mir doch!“, entfährt ein Flehen ihrer Kehle. Sie schrickt aus dem Schlaf hoch, zitternd, mit unterdrückter Übelkeit. „Oh Gott“, entfährt es ihr. „Warum mutest Du mir diese alte Erinnerung zu?“
Nebel liegt seit Mitternacht über Wellington. „Ostern wird heuer kalt“, denkt der alte Lawrence Smith in seinem Bett. „Nicht so schlecht für das Geschäft. Die Leute essen und trinken dann mehr.“ Pünktlich um 3 Uhr 30 rappelt er sich hoch und macht sich mit einem Guß Brunnenwasser aus dem Wasserschaff frisch. Der Pyjama wird dort hingehängt, wo die Arbeitskluft über Nacht hing. Lawrence Smith geht in den Stall, wo bereits seine zwei Söhne, Lawrence Junior und Jim-Kennedy auf ihn warten. Die Schafe sind bereits munter, stehen still in ihren mit üppiger Streu gepolsterten Boxen. Vom Grander draußen läßt sich ein Frosch vernehmen. Eine Familie schließt sich ihm an. Im Nu beginnen die Schafe zu blöken und laufen unruhig in der Koppel herum, stoßen aneinander. „Sind die Hängeleitern verankert, Jim?“ „Ja, Papa!“ „Hat Mutter die Halsschlaufe der Lederschürze genäht, Sohn?“ „Ja, keine Sorge Papa.“ „Junior, wo ist das Messer?“ „Hier, Papa.“ Lawrence Smith befühlt die Schneide. Er weiß, seine Nachfolger haben ganze Arbeit geleistet. Auf sie ist Verlaß. Er fühlt den geheimen Stolz. „… und ich werde nie einen Schlachtschußapparat benutzen“, denkt sich der Schäfer Smith zum wiederholten Male. „Das ist jüdische Arbeit und gehört so gemacht. Da kann eher die Welt untergehen.“ Und so schreiten sie gemeinsam ans Werk. Ans alljährliche Oster-Werk.
Letzter Sonntag im September. Die Kastanienbäume im „Park des Fortschritts der Sowjetischen Wissenschaften“ im Moskauer Vorort Archanikhova stehen im gelichteten Braun. Ein Herr in nobler Lammfelljacke nähert sich zielstrebig einem mehrgeschossigen Wohnblock mit Jugendstilfassade. Am schmiedeisernen Portal hält er inne, entledigt sich seiner dünnen, hellbraunen Rehlederhandschuhe. Er studiert das Klingelbord, dessen Namen offenkundig von einem achtsamen Hausmeister deutlich lesbar instandgehalten werden. Er läutet. Dem Besucher deutet ein Summen an, daß sein Ruf durchgegangen ist. Binnem kurzen meldet sich eine Frauenstimme: „Tak, prosim?“ „Boris Mikhailovich“, antwortet der vornehme Herr. Der Torschließer schnarrt, der Besucher öffnet die schwere, gutgeölte Tür. Das Treppenhaus wirkt imperial. Ein schmiedeeisernes, kunstvolles Geländer schmiegt sich an die raumfüllende, kreisrunde Wendeltreppe. Glasmalereien. Einen Moment hält der Besucher inne. Er studiert den antiken Lift. Dann nimmt er die Treppe. „Stiegensteigen schadet nichts!“, sagt er sich im Stillen. Im dritten Obergeschoß steht die Wohnungseingangstür bereits offen. Boris Spasskij, der Ex-Weltmeister, begrüßt die Dame des Hauses. „Schön, daß Sie gekommen sind, Boris Mikhailovich. Lev hätte sich sicherlich gefreut. Wahre Freunde kommen selten, aber sie kommen zeitgerecht, um Abschied zu nehmen.“ Und ihre Augen werden gläsern. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?“ „Nicht nötig, danke schön, Elvira. Darf ich, ohne unhöflich zu sein, kurz Ihre Toilette benutzen? Es war doch etwas frisch draußen.“ „Aber gerne doch!“ Versunken wäscht sich Boris Spasskij die Hände. „Ich hatte mir überlegt“, so die Eröffnung der Dame des Hauses, „vielleicht sollte ich Ihnen ein Glas Roten aus der Reggio Emilia anbieten, Lev akzeptierte immer gerne die Einladungen der dortigen Italiener. Aber dann dachte ich, Sie werden Lev wohl gleich sehen wollen, und vielleicht ist die Stimmung für ein Glas nicht die beste. „Ach, Elvira, Sie Gute“, antwortet Spasskij. „Sie denken doch wirklich an alles!“ Und so gehen die beiden ins Schlafzimmer, wo Lev Abramovich Polugajewski, dieser unvergleichliche Charakterkopf, ruht, rasiert und gewaschen. „Die Ärzte sagen, wenn er mehr als 18 Stunden schläft, dauert es nicht mehr lange. Sie haben bereits einen Katheter gelegt. Er wollte nie ins Krankenhaus. Sie haben ihn ja gekannt. Lev wollte nie, daß man an ihm herumdoktort.“ Spasskij nickt versunken. Das bleiche Gesicht seines beinahe nicht wieder erkennbaren Großmeisterkollegen berührt ihn unangenehm. Der stolze, vornehme Polugajewski, der einen erstklassigen Charakter-Geiger abgegeben hätte, hätte ihn nicht eine andere Leidenschaft gepackt. Und Spasskij, den plötzliche, ungekannte Nostalgie überkommt, setzt sich auf das Bett, die Kante. Seine Rechte tastet nach der Hand des Freundes. Mit der Linken tätschelt er sie. Die Hand liegt kraftlos in der seinen. Boris Spasskij spürt, wie sich ein Kloß in seinem Hals bildet. „Wie eigenartig“, entringt es sich seiner Kehle. „Wie eigenartig. Gerade noch haben er und Mikhail das Viertelfinalmatch gespielt. Und heute liegt unser Freund aus Riga bereits unter der Erde, und morgen, spagi boga, morgen folgt ihm Lev Abramovich nach. So schnell kann es gehen.“ „Ja, so schnell kann es gehen“, antwortet die Gattin. „Gottes Ratschluß ist unergründlich. Zum Glück holt er ihn ohne Schmerzen zu sich. Er weiß nichts mehr. Er weiß nicht mehr, wer ich bin. Das schmerzt. Ich habe bereits Abschied von ihm genommen.“ Spasskij erhebt sich vom Bett und schließt sie in die Arme. „Elvira, ich habe Sie immer bewundert. Lev konnte sich glücklich preisen. Er war immer der Ausgeglichene wegen Ihnen. Wer von uns hat das denn zuwege gebracht? Diese Ausgeglichenheit!“ „Ach Boris Mikhailovich, Sie Charmeur! Lev Abramovich hat mich immer vor Ihnen gewarnt! Er ist kein Russe mehr, sagte er mir einmal, Boris ist zum Franzosen geworden. Und die Franzosen lieben die Frauen!“ „Nun ja“, antwortet da Spasskij, „das gereicht uns nicht immer zum Vorteil. Wie Sie wissen, Elvira, bin ich zwei Mal geschieden. Und so etwas ist für die Nerven nie gut.“ „Ja“, ergänzt die Dame versunken, „man kann sich im Leben nicht alles aussuchen. Nicht einmal den Tod. Wollen Sie nicht doch mit mir kurz anstoßen?“ „Später, Elvira. Später. Sie verstehen. Später. Nun denn, ich werde jetzt wohl gehen müssen. Danke, daß Sie mir diese Gelegenheit erwiesen haben. Und danke an Lev, daß er solange noch auf mich gewartet hat.“
Boris Spasskij wandert gedankenlos die Treppen hinunter. Er tritt ins Freie und bleibt stehen. „Sie wollte mir das Brett ihres Mannes anbieten, das Brett aus dem Vorzimmer, aber sie hat es nicht übers Herz gebracht. Sie hat mit sich gerungen, doch sie wollte es als Erinnerungsstück behalten. Schlußendlich haben seine Finger ja die Figuren stundenlang jeden Tag berührt.“
Zwei verkleidete Kinder laufen auf ihn zu. Froschkönigjunge und Prinzessin. „Gospodin, Tür bitte offen lassen!“ Spasskij schnellt herum. Die gußeiserne Tür steht noch einen Spalt breit offen. „Gerade noch rechtzeitig, Kinder! Von wo kommt ihr denn?“ „Ja sieht man denn das nicht?“, schallt es aus beiden Kinderkehlen glockenhell gleichzeitig zurück. „Vom Maskenball!“
Tromsø, August 2014
Gestern war ein trauriger Tag, ein geradezu dramatischer Tag für das Schach, erklärte Nigel Short, ein britischer Gentleman-Schachgroßmeister und Delegierter des Kongresses, dem norwegischen Fernsehen. Ex-Schachweltmeister Garry Kasparow, den manche – vielleicht ist es übertrieben oder unzulässig, so zu urteilen – für den stärksten Spieler aller (bisherigen) Zeiten halten, hat in der Kampfabstimmung um das Amt des Schachdachverbandes FIDE eine eklatante Niederlage hinnehmen müssen, in einer Abstimmung, die jedem Mitgliedsland eine Stimme zusagt, Gabun mit sage und schreibe 7 notierten Schachspielern ebenso wie Deutschland mit 40.000 Mitgliedern oder Russland mit – irgendeine Zahl – 4.000.000 organisierten Schachspielern.
Der millionenschwere Wahlkampf, den der ehemals kalmückische Staatspräsident Kirsan Ilyumshimov, ein zwielichtiger Exzentriker und Wasserträger Vladimir Putins, gegen Kasparow unter Mithilfe aller weltweiten offiziellen russischen Botschafter und unter schlimmster Polemik entfachte, trug, sehr zum Leidwesen aller sauberen Schachanhänger, Früchte. Es gibt Stimmen, die davon ausgehen, daß ihn der Stimmenkauf einige Millionen Dollar gekostet haben mochte. Blutgeld natürlich, denn in den grossen Schachturnieren der FIDE treten durch die Bank russische Milliardäre auf, so wie im englischen und auch anderweitigen Fußball, dieser gerdezu enthemmten Knochenbrecherei. Geldwäsche.
Die Art und Weise, wie sie den Gerechtigkeitsfanatiker und ehemaligen Chef der russischen Opposition brüsk und mit zynischem Lächeln abkanzelten, war einfach nur widerlich anzusehen. Sie fragten ihn sogar „formal“ um seinen Namen. Nigel Short war geschockt. Auf offener Szene, in einem der Mutter- und Vorzeigeländer westlicher Demokratie.
Das königliche Spiel ist unter Ilyumshimov zu einer Spielwiese der organisierten Kriminalität verkommen, prototypisch für den Zustand unserer Gesellschaft. Krieg und Korruption nehmen den gesamten Planeten in Geisehaft. Grausamste Nachrichten und Bilder werden uns zugemutet. Nach dem ominösen Jahr 2012 wird es nur noch hitziger, so scheint es mit offenkundig. Blutgetränkt. In diesem Bruderkrieg zwischen der bettelarmen Ukraine und dem arroganten Russland unter Putin wechseln auch Schachspieler die Fronten: Sergey Karjakin, hinter Liebkind Wassily Iwantschuk Nummer Zwei der Ukraine, wechselte Staatsbürgerschaft und Verband. Er lebt jetzt in Moskau. Auch in Russland bleibt er Nummer Zwei, hinter Alexander Grischuk. Seine Landsfrau Kateryna Lagno, kurz mit dem französischen Grossmeister Fontaine verheiratet, machte es ihm nach der Scheidung nach. Die entsprechenden Papiere wurden erst nach dem Anmeldeschluß zur Olympiade geregelt, weswegen das norwegische Organisationskommitee den zuletzt zweifachen Olympiasieger der Frauen nicht zum Turnier zuließ. Der russische Verband unter dem Mehrfachmilliardär Alexander Filatov (linientreu zu Putin), beauftragte eine New Yorker Anwaltskanzlei. Resultat: Eine Millionenklage. Die Russinnen wurden konzilianterweise zugelassen. Filiatov versucht nun, das haarsträubende Honorar der New Yorker mit Hilfe einer 200.000,- Dollar-Klage [sie wurde glücklicherweise gestern, 12.8., abgewiesen] durch ein Büro in Tromsø einzutreiben. So steckt ein Teufel eine friedliebende 60.000 Einwoner-Stadt im hohen Norden, am Polarkreis, in Brand. Ich sage „Teufel“, denn er prophezeite Garry Kasparow nach dessen Niederlage Geistesverwirrung und ein bitteres Ende wie dem nach Island ins Exil geflüchteten und dort verstorbenen Bobby Fischer. Tatsächlich. Das ist die Maske des millionenschweren Teufel, des Fürsten, der sich Herr wähnt über Leben und Tod, weil er weiß, das Volk der zum Töten ausgerüsteten Schergen hört auf ihn.
Nigel Short war zum Weinen. Sein Herz fühlt gerecht. Und alle Nachrichtenagenturen konnten nur eine vorsichtige nüchterne Meldung bringen, aus Angst vor einer Millionenklage. Sturm zieht auf, wir müssen uns ducken, das die ausgegebene Parole. „Gens una sumus“, „Wir sind ein Volk“: Nie wurde der Wahlspruch der FIDE jämmerlicher mit Füssen getreten als gestern in Tromsø. Die rückgratlosen Afrikaner haben die Stalinorgeln in voller Aktion erlebt. Ein Messerstechen wie in alten Zeiten. Manch einen konnte das freuen. Er hatte durch die russische Botschaft zuhause eine fürstliche Gegenleistung für eine einzige Stimme erhalten. Das so etwas möglich ist!, wird er sich gefragt haben. Und vielleicht wird er einen zweiten Gedanken nachgeschoben haben: „Worum geht es hier eigentlich?“
Ja, worum geht es hier eigentlich? Eine wichtige Frage. Die Antwort erhalten wir von den Mördern der ISIS und von Wassily Iwantschuk, der all das bereits im Dunkeln gesehen hat und sich deswegen umbringen wollte: Um Abschlachtung, Vergewaltigung und Versklavung. Das ist die Teufelei des Einen, des „Herrn des Todes“, wie Franziskus ihn nennt. Und wir Angsthasen, scheinbar hoffnungslos auf 64 Lebensfelder festgeklebt, dem Schlachtfeld des Todes.
Der sosehr sympathische Robin Williams starb vergangene Nacht, 61-jaehrig. Er litt unter Depressionen. Er hatte Gründe, um zu gehen. Er nahm sich auf groteske Weise das Leben. Mein Gott. Ich hätte Ihnen gerne die Hand gedrückt, Mr.Williams. Sie Weichherz, Sie Guter! Alles Gute für Ihre Reise!
Garry Kasparow kehrt verwundet nach New York, Manhattan, zurück. Seine Tour rund um die Welt hat beträchtliches Kapital verschlungen. Er wird Medizin zu sich nehmen, sagte er in einer ersten Stellungnahme. Was dann passiert, darüber kann man nur gespannt sein. Wie mein Ziehsohn Fabian, der treue, sagen würde: Wir leben ab sofort im Tagesmodus. Es kann jeden Tag irgendwo eine Megabombe explodieren.
Deshalb ist es wohltuend, sich nicht allein zu fühlen.
Das Spiel ist zu Ende
Für den 67-jährigen Kurt Meier, einen Schweizer Emigranten, Mitglied des Nationalteams der Seychellen, endete die Schacholympiade in Tromsø tödlich. Er erlitt während des Matches gegen Ruanda in der letzten Turnierrunde an seinem Spielbrett einen Herzinfarkt und verstarb an Ort und Stelle. Sein Kopf fiel auf das Brett. Kurt Meiers Sohn, am Spitzenbrett der Seychellen spielend, mußte fassungslos weinend mitansehen, wie einzelne Spieler, darunter das Nationalteam der Damen Israels, beim Wahrnehmen der mit Defibrilatoren hereineilenden Rot-Kreuz-Mannschaft in Panik gerieten und aus der Halle stürmten. Sie glaubten an einen Terrorüberfall. Die Runde wurde für eine gute Weile unterbrochen und dann fortgeführt.
Nur sieben Stunden später wurde ein Mitglied des uzbekischen Nationalteams tot in seinem Hotelbett aufgefunden. Der Name des Verstorbenen wurde noch nicht bekannt gegeben. Die Polizei spricht von einem natürlichen Tod ohne Fremdverschulden.
Judit Polgar, 38, die stärkste Schachspielerin aller Zeiten, Mitglied des Silbermedaillengewinners Ungarn (sie spielt prinzipiell nur bei den Männern nie bei den Frauen), verkündete vorgestern in der Londoner Times ihren Rücktritt nach 25 Jahren professionellen Schachlebens. Sie spricht von der „Arroganz der Könige“.
Magnus Carlsen, der Weltmeister und Spieler mit der höchsten Wertungszahl aller Zeiten, trat zur letzten Runde gegen einen inferioren Gegner sowieso nicht mehr an, sondern reiste ab, ohne die Abschlußfeier abzuwarten. Er wirkte indisponiert und mußte im Verlauf des Turnieres zwei Niederlagen quittieren, gegen Arkadi Najditsch, Deutschland, und Ivan Saric, Kroatien, beides Spieler weitab der Weltspitze. Auch andere Spitzenspieler wirkten unkonzentriert und indisponiert. Zwischen der Ukraine und Russland herrschte Krieg. China gewann bei den Männern mit 2 Punkten Vorsprung deutlich, ja geradezu überdeutlich, vor Ungarn und Indien. Die Chinesen, eindeutig das Team mit den stärksten Nerven, fielen sich unmittelbar nach der letzten, noch dazu siegreichen, Partie weinend in die Arme.
Viele sind traurig, zuvorderst Wassily Iantschuk, Garry Kasparow und Nigel Short. Andere, wie die Uzbeken, geschockt. Und der mafiose Alien Ilyumschimov mit seinem Maskengesicht fliegt nach Moskau zurück, in Begleitung seiner fiesen, ekelerregenden Entourage. „Mission accomplished“. Doch das russische Herrenteam, deutliche Nummer eins der Setzliste, blieb außerhalb der Medaillenränge. Peter Svidler, 7-facher nationaler Meister, desaströses Ergebnis, denkt über einen Rücktritt nach, ebenso Wladimir Kramnik, der Exweltmeister, der wiederum zwei bittere Niederlagen einstecken hatte müssen. The gentlemen felt disgusted. Wir sind am Ende.
Goldene Zeiten
Auch diese beiden Herren, obzwar schon lange von uns gegangen, seien geehrt. Ihre Erinnerung drängt mich, denn diese beiden Herren, bereits Pensionisten, als ich sie kennenlernte, vermittelten mir die Leidenschaft für das Schach. Die Liebe für etwas, das ich nicht missen möchte. Und Lieben sind ja heilig, gewissermaßen.
Alois Schuh und Karl Schuber waren Mitglieder des örtlichen Schachvereins. Wir sprechen hier, wohlgemerkt, von den 60er-Jahren. Die beiden Herren waren schon pensioniert. Mir scheint, die beiden profitierten vom österreichischen Pensionssystem der damaligen Jahre und gingen in Pension noch vor 60. Doch sie waren keine Sozialschmarotzer, ganz und gar nicht. Sie gehörten zum Inventar des örtlichen Schwimmbades. Dort spielten sie stundenlang auf den luxuriös großen Tischen der Cafeteria. Diese Tische gehörten nicht direkt zur Cafeteria und waren vom Pächter des Imbißladens, der selbst wiederum zum altvertrauten Inventar des Schwimmbades zählte, auch nicht gemietet. Sie gehörten zur kunden- und familienfreundlichen Ausstattung des Schwimmbades. Schuber und Schuh bauten dort ihr Turnierbrett und die beeindruckend großen Figuren auf. Sie spielten ohne Uhr. Alois Schuh war schwerhörig, er hatte einen Buckel und eine Sprechhemmung. Möglicherweise war er Invalide. Wenn er sprach, hatte er immer Speichel im Mundwinkel. Er sprach nicht viel. Er spielte ohne Gläser. Schuber auf der anderen Seite war das Gegenteil: Sportlich drahtig, einem Sprung ins Wasser nicht abgeneigt (er duschte sich nach jeder Partie oder sprang auch mal ins Becken), eine charakteristische Mundpartie, der man ansah, er lachte gerne und erzählte auch gerne Witze, ein, zumindest schien es so auf den ersten Blick, zufriedener Altvorderer. Obwohl älter, wirkte er jünger als der eher griesgrämige gebeugte Schuh. Die beiden waren Klubkollegen und Freunde. Sie trafen sich nie privat. Die beiden spielten zuerst in der prallen Sonne, dann holten sie die Sonnenschirme hervor, die von den umstehenden Jugendlichen aufgepflanzt wurden. So spielten sie stundenlang, schweigend. Schuber hatte den Kopf mit einer Hand an der Wange abgestützt. Schuh stütze seinen Kopf nie ab. Nie. Das war einzigartig. Er studierte das Brett, verzog dabei nur leicht den Mund. Er dachte und bewegte dabei mikroskopisch die Mund- und Augenwinkel. Manchmal hatte er den Mund offenstehen. Schubers Mund hingegen war immer geschlossen, halb verdeckt von der Handfläche. Dann nahm er sie weg und kommentierte. Kommentare immer nur, wenn ihm etwas nicht paßte. Das war noch eine Eigenheit. Beide kommentierten, wenn ihnen etwas nicht paßte. Meist ein offensichtlicher Fehlzug. Beide hatten mittlere Klubstärke, sagte man früher. Die Art und Weise, wie sie an das Spiel herangingen, war für den Neugierigen faszinierend. Diese beiden Senioren verstanden etwas vom Spiel. Sie spielten nach Plan. Das war neu. Und neu war auch die Länge des Nachdenkens. Schuber ermahnte seinen Freund nach 10 Minuten, doch zu ziehen. Nicht früher. Auch das war unbekannt. Hier saßen zwei Herren, die alle Zeit der Welt hatten. Schuh wurde nie unruhig, nur wenn er schlecht stand. Dann kritisierte er sich selbst, mit leichter Bitterkeit. Aber er mahnte seinen Gegenpart nie ein zu ziehen. Schuh, so schien es, konnte beim Spielen mit offenen Augen und offenem Mund träumen. Das war faszinierend. Der Mann vergaß auf die Zeit. Und kein Telefon läutete. Keine Lautsprecherdurchsage. Wie gesagt, 60er Jahre.
Das ging gute zwei, drei Jahre so. Dann stießen die Profis des Klubs dazu. Die spielten mit Uhr. Die Profis waren eine Stufe stärker. Sie spielten untereinander, oft auch Blitz, fünf Minuten. Das war nicht mehr besinnlich, aber immer noch ehrfurchtgebietend. Hier wurde ganz klar mit System gespielt. Mein Nachbar lockte mich schließlich in den Klub. Man könnte sagen: In den Männerklub. Caissa, die Schachgöttin, so sagt man, ist eine eifersüchtige Geliebte. Aber das ist eine andere Geschichte. Alois Schuh lud mich einmal ein zu sich. Dort baute er mir eine Tetstellung auf, ein sogenanntes „ersticktes Matt“. Ich vermochte es nicht zu lösen. Das zeigte ihm und auch mir, wo ich stand. Er sagte mir: „Das ist eine interessante Stellung. Eines von vielen Mattbildern. Die mußt du alle lernen, wenn du gut werden willst.“ Schuber und Schuh spielten auch im Klub bevorzugt gegeneinander. Sie waren, so schien es, einander gewöhnt, auch und vor allem in den Manieren. Schuh plauderte auch nicht gerne, was hätte er also reden sollen. Und Angeberei oder sich mit Angebern abzugeben lag ihm schon gar nicht.
Dann verlor ich Schuber aus den Augen. Ich ging im Sommer auch nicht mehr ins Bad. Schuh sah ich am Freitagabend, er spielte die internen Klubmeisterschaften. Etwas bedrückte ihn, doch wir sprachen es nie an. Es war der Schlaganfall, den er mit knapper Not überlebt hatte. Etwas am Leben verbitterte ihn. Doch bei mir lächelte er, grade, wenn ich ihm Gehör schenkte.
Er verabschiedete sich von mir in einer unvergeßlichen Weise. Es war Winter, Montagmorgen. Ich hatte mir eingebildet, in alter Manier nach Wien zu stoppen, doch dazu mußte ich erst drei Kilometer zur Autobahn marschieren. Es war kalt, neblig, und es schneite leicht. Ich traf ihn am Bahnhof, und natürlich kamen wir ins Gespräch. Ich sagte ihm, ich bin am Weg nach Wien, doch habe keine Lust, mit der Bahn zu fahren, ich bin ein alter Autostopper. „Ich begleite dich bis zur Autobahn, wenn du nichts dagegen hast.“ Gesagt, getan. Wir marschierten gemeinsam die zweieinhalb Kilometer. Schuh sprach während des Gehens. Er hielt Schritt mit mir. Er erzählte mir von seiner Jugend und vom Krieg. Nichts Grausames. Auch er war Autostopper, nur gab es damals ungleich weniger Autos, wie er feixend hinzufügte. An der Autobahn schenkte er mir einen billigen, aber nett aufgemoppten Firmen-Kugelschreiber. „Der funktioniert“, kommentierte er mit einem heimlichen Grinser, „Schachspieler, wie wir ja alle wissen, brauchen zur Notierung ihrer Partie immer gut funktionierendes Schreibgerät. Ciao, bis zum nächsten Mal!“ Hebt die Hand, dreht sich um. Ich gehe ein paar Schritte, drehe mich um, neugierig. Er steht unbeweglich und sieht mich an, beobachtet mich, wie ich die Rampe hinaufstapfe. Er will sehen, wie ich fortgehe.
Es gab kein nächstes Mal. Schuber und Schuh starben innert eines Jahres, knapp ein Jahr, nachdem sie aufgehört hatten, sich Freitag abends im Schachklub zu zeigen. Männer der Ehre. Grand chapeau!
Ferne Freunde, und doch so nah!
Heute haben wir Donnerstag, den 3.Dezember 2015.
Die Zeit steht nicht still. „Gestundete Zeit“, nannte es Ingeborg Bachmann.
Manche Freunde sind mir nah. Freunde, das sind Menschen, die mit ihren Worten niemanden verletzen. Solche, die es gut mit einem meinen. Toni ist so einer. Ein herzensguter Mensch.
Vasyl Ivanchuk ist mir so etwas wie ein Ziehsohn. Er ist zwar auch schon jenseits der 40, aber er ist mir wie ein Kind. Ich sorge mich ständig um ihn. An ihm, mehr als an jedem anderen mir bekannten Menschen, lese ich ab, wie spät es ist. Lese ich ab, wie es um die Menschheit steht. Glaube ich, ablesen zu vermögen. Ich brauche nicht extra im „Standard“ bei Hans Rauscher oder in der „Zeit“ nachzuschlagen (ich tue es ja sowieso, jeden Tag, und in tiefer Beunruhigung), um zu wissen, wo wir stehen. Ich brauche nur die letzte aktuelle Partie meines Ziehsohnes, so wie zuletzt jene gegen Viktor Bologan, den Moldawier, in Reykjavik, bei der Landeseuropameisterschaft, nachzuspielen, um zu wissen, was in „Chucky“, dem windgebeutelten, grauen Wolf, vorgeht. Wie er am Ende, dem endgültigen, dem Weltuntergang, dem Ende alles Wissens und aller Zuversicht, dem Ende des düsteren Lichts in einem Tunnel der ewigen Leiden, wieder einmal vorbeischrammt, um sich schlußendlich zuhause, bei einer Frau, die ich nicht kenne, die Wunden zu lecken. Bei einer Frau, die ihn, diesen Autisten, diesen Extraterrestrischen, aushält. Ich weiß nicht, wie sie mit einander reden. Ich weiß nicht, wie sie, die Gattin, ihm, dem enfant terrible, das alles verzeiht, was er in seiner Weltfremdheit ihr antut.
Ich sehe hier einen Weltzusammensturz, einen gewaltigen, und ich werde mir nicht, so wie ein netter junger Mann vorletzten Jänner hier bei uns, den Mund verbrennen und vorwitzigerweise diese hochgezüchteten Chili-Bomben in den Mund nehmen, die 10 oder 20 mal stärker sind als die schlimmsten ungarischen Pfefferoni, ich hatte also da einen herkulisch brummenden Herrn von 24, der liebte es, mit seinem Vater solches Teufelszeug zu verschlingen. Einmal luden sie den Onkel ein und setzten ihm hämischerweise mit einem Unschuldslächeln eine Messerspitze davon vor. Der arme Onkel mußte im Notarztwagen aus dem Restaurant abtransportiert werden. Es gibt ja, wie wir nur zur Genüge wissen, genügend Zeitgenossen, denen es ganz und gar nichts ausmacht, Wind zu säen und Sturm zu ernten. Denen es nichts ausmacht, Nitroglycerin in Wasserbehältern zu lagern. Denen es nichts ausmacht, mit Militärbündnissen und angstverschreckten Europäern zu pokern, als wäre die Landschaft der sogenannten kultivierten Menschheit ein geostragisches Monopoly-Spiel.
Das alles läßt sich aus Chuckys Gesicht ablesen. Er, der mehr als jeder andere mit den 64 Feldern des Todes rauft und sich beständig fragt, warum muß das sein? Warum muß Kampf sein? Warum Tod? Acht mal acht. Warum?
Warum müssen heute sieben komma zwei Milliarden Mernschen sterben, morgen acht und übermorgen neun? Warum müssen wir wiederum, zum wievielten Mal denn noch, in dieser Historie der nicht abreissenden Leiden, durch eine Epoche der Verwandlung in Zombies schlittern? Zombies, die von überall her ihr Haupt emporstrecken. Amok Rasende, so wie jetzt in San Bernardino, diesem idyllischen Flecken östlich von L.A.
Amok Rasende, die mit ihrem Kopf in Hochspannungleitungen geraten. Amok Rasende, auch Frauen, mit umgeschnallten Sprengstoffwesten. All das kann nur einmünden in kollektives Rasen, und dann in Agonie.
Welche Armee der Welt will heute noch Krieg führen? Heute, wo, wie es Denzel Washington gegenüber Gene Hackman in diesem denkwürdigen U-Boot-film formuliert, den wahren Feind der Krieg, und nicht mehr die Menschen, die ihn herbeirufen, darstellt. Denn Krieg, den Krieg, den dieser Psychopath in Ankara unter dem Deckmantel des NATO-Schutzes herbeibeschwören will, das ist heute, wie jeder, wie jede weiß, ein Knopfdruck, ein Knopfdruck, und in maximal 17 plus 3 Minuten ist dann alles zu Ende.
Das meinte Günther Anders schon vor 40 Jahren. Unsere Optionen sind seit der Existenz der Bombe ausgereizt.
So wie mit dem Aufkommen der sogenannten „Silikonmonster“ alle Optionen des Schachs, das doch immerhin den Titel des königlichen Spiels trägt, ausgereizt sind und menschliche Schachspieler nur mehr ein Schmierenstück menschlicher Fehleranfälligkeit darstellen, das einen russischen Milliardär, für den die Spitze des Weltschachs nur willfährige Gladiatoren darstellen, dazu animiert, eben diese Kämpen durch vertraglich festgehaltene Bedingungen der Zeitbegrenzung und der Punktevergabe bei Sieg zu aggressivem Spiel anzustacheln. Und Alex Skvortsov läßt es im nobelsten aller Züricher Hotels kommenden Februar 2016 nicht damit bewenden, nein, er untersteht sich sogar, mit einem ungeschriebenen Gesetz des noblen Spiels zu brechen, jenem, nur eine Partie mit klassischer Bedenkzeit pro Tag zu spielen. Alex Skvortsov, der einladende Milliardär, der sich gewissermaßen eine suspensegeladene Privatgladiatorenveranstaltung im sechssternigen Baur au Lac gönnen möchte, will aus der ersten Reihe, an der Seite seiner Fotomodellgattin, Aggression angeblich nobler Gentlemen direkt miterleben. Und hier machte der Weltmeister Halt. „Nicht mit mir!“, sprach Magnus Carlsen, der Wikinger, und sagte ab. Chapeau!
Und „Nicht mit mir!“ sagt auf eine andere Weise der, laut Vorurteil, angeblich unberechenbare Ukrainer Vasyl Ivanchuk, „Chucky“, der alles blind spielt, weil all das, was existiert, eben, wie er nur allzu genau weiß, nicht von sich her inhärent existiert. Und eben niemand zu sagen vermag, was das königliche Spiel wirklich ist. Welche Energie- und Wirklichkeitsform. Diese kopfsteingepflasterte Gasse entringt unserer Heiligkeit, Tensin Gyatso, das berühmte Allwissenheitslächeln.
Das ist für mich die Quintessenz. Keiner vermag zu sagen, was hier, hier (wo ist hier?) geschieht.
Was hier wirklich geschieht, wenn wirklich nichts von Belang sein kann, weder für uns noch für den allmächtigen Schöpfer, von dem manche sagen, es müsse ihm doch unendlich fad gewesen sein, so ganz ohne Schöpfung.
In früheren Zeiten, im 19.Jahrhundert, spielten sie Schach im Caféhaus, bei Zigarren und Zigarretten, ohne Uhr. Bisweilen schlief einer, über das Brett gebeugt, ein. Ich habe das selbst auch noch erlebt. Göttliche Momente der Zeitenthobenheit. Ich habe mich nicht geräuspert und den Partner auch nicht versehentlich mit der Schuhspitze unter dem Tisch angestupst. Es war Karl Schuh. Er hatte sein Hörgerät, so wie Tigran Petrosjan beim seinem WM-Viertelfinalmatch in Buenos Aires gegen Robert Hübner, abgestellt. Zeitenthobene Momente. Roland Preisler fiel es auf und mußte schmunzeln. Mit dem Bierglas in der Hand war er herangeschlendert gekommen, und er ließ es sich nicht nehmen, den Umstand mit seiner typisch guttural-satten Stimme zu kommentieren: „Wolfgang, sollen wir seine Uhr abstellen und ihn weiterschlafen lassen, oder greifen wir ein?“ „Roland, was auch immer du machst, es ist richtig!“ So endete der Dornröschenschlaf meines unvergessenen Karl Schuh, der mir als erster das „Erstickte Matt“ als Testaufgabe vorgelegt hatte.
Heute haben wir leicht geänderte Verhältnisse. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, das wissen alle. Nur, was?
Was nur in Paris, bei der Weltklimakonferenz? Was in Saint Denis? Was in Calais? Was beim TGV? Was in Marseille? Was im Tunnel zwischen Dover und Calais? Was in Spielfeld? Was in Mazedonien, was in der Ägäis? Was in Damaskus, was in Brasilien, was in den USA?
„Fire on board“ hießen Buchtitel und Spielstil von Alexei Shirov, dem Letten. Garri Kasparow, der Wortgewandte, der Hans Dampf in allen Gassen, betitelte sein neuestes Werk „Winter is coming“. Garri Kasparov, der unverbesserliche Rechthaber, meint, Putin, sein Intimfeind, wäre der gefährlichste Mann dieses Erdballs. Ach du meine Güte! Hat denn Garri Kimovich keine anderen Sorgen? Scheinbar strebt der Mann aus Baku eine Politkarriere in den Staaten an. Alle Anzeichen sprechen dafür. Ich rieche es geradezu in der Luft. Er sagt sich, wohl zurecht, womit habe ich diese unerträgliche Show mit diesem unerträglichen Kasperl von Republikanerseite verdient? Diesem Kasperl, der bei seinen unappetitlichen Ausschweifungen cholerisch rot wird wie eine Tomate und dessen Gesicht sich zu einer Fratze verzieht, die jedes etwaigen Präsidentschaftskandidaten unwürdig ist. Womit haben wir das verdient?
Und wollen wir – so Garri Kimovich Kasparow in seinen strategischen Schachgedanken weiter – uns eine Dame leisten, die zwar honorige Außenministerin war, deren Gesundheit jedoch angeschlagen ist und die (ist uns das nicht peinlich genug?) bereits ihrem Mann einen Seitensprung in der Bibliothek des Weißen Hauses vergeben mußte. Ist nicht das alles etwas allzusehr undelikat? Etwas zu plump?
Doch leider, Herr Schneider, Garri Kasparow ist nicht „natural born“.
So what? Nun, was? Ja, was denn? „Brav sein und beten“, sagt eine Stimme, der ich schon immer Glauben geschenkt habe.
Ferne Freunde, und doch so nah. Freunde und Freundinnen. Männer und Frauen mit Grips, Herz und Schmäh. Menschen, für die ich bete, gelegentlich, und „Danke“ sage.
Zu Chucky habe ich gesagt: „Chucky, mach dir nichts draus! Du bist nicht der erste, dem alle Felle davonschwimmen. Sei dankbar für deinen Sohn. Und sei dankbar deiner Frau, die dich akzeptiert hat, so wie du bist. Bleib brav und schlag nicht über die Stränge! Du weißt, wovon ich rede. Tschüss!“ Toni, der Heilige aus Wien 22, ist mein Zeuge.
Wege eines Genies
Nicht alle Schachspieler sind Genies. Judith Polgar, zu ihrer Zeit die stärkste schachspielende Frau, zählt dazu nur Anand, den Inder, Carlsen, den Norweger, und, wie bereits hinlänglich angedeutet, Chucky, den Ukrainer aus Łvov. Das Schach ist etwas für Barbaren und solche, die nichts von sich wissen. Es wird nicht mehr lange dauern und während eines WM-Kampfes – möglicherweise mit dem nunmehr bereits mehrfachen Titelverteidiger Magnus Carlsen und einem weiteren, wohl nie aussterbenden neuen Gesicht, das sich alle überzogenen Hoffnungen macht – wird der kurze und schmerzlose Dritte Weltkrieg ausbrechen. Diese WM-Kämpfe waren immer schon Trigger oder Katalysatoren für Weltbewegendes. Und kommt es wider Erwarten doch nicht so, befinden wir uns durch die unglaublichen, so nicht erwarteten Fortschritte der Artificial Intelligence schneller als jemals erwartet auf einem extraterrestrischen Niveau, von dessen Komplexität wir nunmehr anhand der Partien der beiden Selbstlernprogramme von Google, Alpha Zero One und Leela Chess Zero eine erste Ahnung bekommen. Partien, die in jedem Kenner unwillkürlich Ehrfurcht und Staunen auslösen. Diese beiden Programme – Selbstlernprogramme, wohlgemerkt – spielen Schach fehlerfrei auf einem Niveau, das bis dato für unmöglich gehalten wurde. Man könnte sagen, hier wird Perfektion erreicht. Es genügt anzumerken, daß Alpha Zero One die japanischen Brettspiele Go und Shogi bereits zur Gänze ausanalysiert hat. Die Partien, die die beiden Programme gegen andere Programme abliefern, brillieren von ungekannter Schönheit und Tiefgründigkeit. So glänzt Perfektion. Kein Mensch hat eine Chance gegen diese Programme, vor allem nicht gegen das Google-Herzstück Alpha Zero. Auch nicht das Genie Carlsen.
Von diesen Maschinen kann der Interessierte sehr viel lernen. Und dies geschieht auch bereits. Alle ambitionierten Großmeister studieren schon seit langem die Partien der Computerweltmeisterschaft, die im Jahresrhythmus ausgetragen werden. Hunderte hochqualitative Partien, die vor Tiefgründigkeit und unvorhergesehenen Zügen nur so strotzen. Der Vergleich des eigenen Niveaus mit den abgelieferten Ergebnissen der künstlichen Intelligenz bringt jede gewissenhafte Spielerin und jeden Spieler (und somit auch den Weltmeister) zu förderlichen Rückschlüssen auf die eigenen Schwächen und Unzukömmlichkeiten. Die Nüchternheit dieser Maschinen ist nicht zu übertreffen. Das leuchtet ja noch ein. Doch daß diese Maschinen Kreativität im höchsten Maße beweisen, das wurde bis dato nur ungenügend berücksichtigt. Doch gerade die Kreativität dieser Selbstlernprogramme, die ohne jedes Gefühl an die Problemstellungen herangehen, wirkt glattweg atemberaubend, so als wäre hier, wie es verschiedene Insider nennen, außerirdische Intelligenz am Werken.
Fabiano Caruana, der Italo-Amerikaner, hat es also als Herausforderer entgegen allen geheimen Hoffnungen des einen oder anderen Außenstehenden in London nicht geschafft, den Weltmeister zu entthronen. Die 12 Partien in Standardbedenkzeit hielt er, wie nicht anders zu erwarten, noch problemlos remis. Und es waren durchaus gehaltvolle Remispartien. Carlsen, der nordische Recke, begehrtes Fotomodel für das Mode-Label G-Star, zeigte sich jedoch, wie nicht anders zu erwarten, mehr als nur hinreichend vorbereitet und gewappnet, um den kecken Angriffen des pickeligen Jungspundes, der Frauen nicht zu kennen scheint, standzuhalten. Das Match ging somit in die Verlängerung, wo es, wie befürchtet, mit einem „Blutbad“ endete: Carlsen machte bereits in den ersten drei Schnellpartien mit fehlerlosen Zügen alles klar, und Caruana mußte drei Mal das Handtuch werfen. Bitter, doch die Niederlage in diesem WM-Match wurde immerhin noch mit 450.000,- Dollar belohnt. Der Underdog flog mit wertvollen Erfahrungen zurück nach New York (oder war es St.Louis?)
Während dessen ziehen wir, die Klötzchenschieber, unsere amateurhaften Rückschlüsse. Wir bleiben am Ball, auch wenn es sich wieder einmal ausgespielt hat, denn Schachspielen hält jung und lehrt, Niederlagen korrekt hinzunehmen, wie schon der unvergessene Alois Schuh mit Überzeugung meinte.